„Der Islam enthält keine grundsätzliche Absage an Gewalt, kennt aber auch das Prinzip der Gegenseitigkeit“
Die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer im Interview über die Hintergründe von Islamismus und islamistischem Terror.
Spätestens seit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York 2001 wird der Westen immer wieder mit islamistischen Anschlägen und Gewalt im Namen des Islam konfrontiert. Wir kann man dieses Phänomen begrifflich fassen?
Gudrun Krämer: Um das begrifflich zu erfassen, ist es sinnvoll, zwischen Inhalt und Strategie zu unterscheiden. Geht es um die Frage, wie soll ich leben, wie soll die Gesellschaft strukturiert sein, wie soll die politische Ordnung aussehen? Oder frage ich nach der Strategie: Wie möchte ich diese Vorstellungen guten Lebens und guter Ordnung verwirklichen, und beinhaltet das auch die Bejahung von Gewalt? Politischer Islam und Islamismus sind in großen Teilen deckungsgleich. Sie wollen beide über das individuelle Leben hinaus die Gesellschaft so umgestalten, dass sie den eigenen Vorstellungen entsprechend islamisch geordnet ist. Das kann die zwischenmenschlichen Beziehungen, Kunst und Kultur, die Wirtschaft, die Rechtsordnung und die politische Ordnung betreffen.
Spreche ich von Dschihadisten oder auch von einem radikalen Islam, betrifft dies die Dimension der Strategie. Dschihadisten bejahen, wie der Name besagt, den Dschihad, und das heißt in ihrem Fall, Gewalt im Namen der Religion als Kampf nicht nur gegen innere, sondern auch gegen äußere Widerstände. Beim so genannten radikalen Islam ist das weniger eindeutig. In manchen Fällen, etwa dem der Taliban in Afghanistan, fällt eine radikale Vorstellung gesellschaftlicher Ordnung mit der Bejahung von Gewalt zusammen. Das muss jedoch nicht in jedem Fall so sein.
Die Salafisten heißen so, weil sie nach eigenem Bekunden – das kann man kritisch hinterfragen – so leben, denken und handeln wollen, wie ihrer Auffassung nach Muhammad und seine ersten Anhänger im 7. Jahrhundert nach Christus auf der arabischen Halbinsel gelebt haben. Salafismus für sich genommen sagt jedoch noch nichts über die Strategie aus. Wir denken oft, Salafisten bejahten zugleich Gewalt. Dafür gibt es in der Tat zahlreiche Beispiele. Es ist jedoch, wie im Fall der radikalen Islamisten, nicht zwingend so. Ein salafistisches Islamverständnis kann auch in aller Stille gelebt werden.
Ist der politische Islam eine Ideologie oder eine Spielart der Religion, die auch innerhalb der Religion anerkannt ist?
Gudrun Krämer: Ein Islamismus, der nicht gewaltförmig vorgeht, kann von Muslimen durchaus als eine mögliche Spielart des Islam anerkannt werden – von Nichtmuslimen im Übrigen auch. Islamisten beziehen sich auf den Islam, sind nach eigenem Verständnis fromme, richtig lebende Muslime. Folglich hat der Islamismus etwas mit dem Islam als Religion zu tun. Aber er ist nur eine Möglichkeit unter mehreren. Sie ist besonders auffällig, oft auch besonders laut, und sie kann, je nach ihrer konkreten Ausgestaltung, durchaus eine Bedrohung für einen liberalen Entwurf individuellen Lebens und gesellschaftlicher Ordnung darstellen.
Es gibt die Vorstellung eines Gottesstaats, der sehr stark im politischen Raum agiert. Ist das ein Widerspruch zu traditionellen Auslegungen des Islam?
Gudrun Krämer: Das kommt ganz darauf an, wie diese Vorstellung im Einzelnen ausgestaltet wird. Wenn der Entwurf eines islamischen Lebens, einer islamischen Gesellschaft und eines islamischen Staates darin besteht, dass die – zunächst einmal ganz allgemein gefassten – Normen und Werte des Islams bis hin zum Geschlechterverhältnis verwirklicht werden, dann würde das von den meisten Muslimen durchaus als legitim anerkannt. Auch Christen würden in ihrer Mehrheit ja vermutlich eine im weitesten Sinn christlich geprägte Ordnung bejahen. Wenn die islamische Ordnung hingegen so aussehen soll, dass sie jede Art der Kritik und ein friedliches Zusammenleben mit Andersdenkenden und Andersgläubigen ausschließt, würde dies unter Musliminnen und Muslimen keine Mehrheit finden..
Es gab Kritik von islamischen Theologen am Islamischen Staat. Richtet sich solche Kritik gegen die Gewalt und die Ausschließlichkeit der Auslegung des Islam?
Gudrun Krämer: Das ist die Kritik an den Inhalten und den Strategien. An den Inhalten insofern, als der so genannte Islamische Staat für sich in Anspruch nahm, genau zu wissen, wie islamisch gelebt werden muss, und vor allem, was nicht toleriert werden darf. Seine rigiden Vorstellungen darüber, wie die Einzelnen zu leben, wie sie sich zu kleiden, wie sie zu grüßen, was sie zu essen oder zu trinken hatten, setzte er mit großer Härte durch. Das war radikal im Inneren, unter Unterdrückung jeglicher anderen Meinung, verbunden mit brutaler Gewalt gegen alle, die sich dieser Ordnung entgegenstellten, gleichgültig, ob es nach eigenem Verständnis fromme Muslime oder Nichtmuslime waren. Diese Kombination ist auf scharfen Widerspruch gestoßen, ohne dass wir das hier so genau mitbekommen hätten, weil die Kritik zum Teil theologisch formuliert und in Sprachen vorgebracht wurde, die hier nicht ohne weiteres verstanden werden. Wenn die Gelehrten der Azhar-Universität in Kairo den Islamischen Staat in Syrien und Irak kritisieren, dann tun sie das nicht auf Englisch. Aber die Kritik war entschieden, richtete sich auf das strikte, intolerante Vorgehen im Inneren und vor allem auf die massive Gewalt gegen alle Andersdenkenden und Andersgläubigen, inklusive Christen und Vertretern politischer Richtungen, die dem Islamischen Staat nicht genehm waren.
Wenn wir auf das 20. Jahrhundert zurückblicken, scheint es in der islamischen Welt zunächst einen Modernisierungsschub gegeben zu haben: der Laizismus bzw. Säkularismus mit dem Kemalismus in der Türkei, der Schah in Persien, der sich an westlicher Lebensweise orientierte, das säkulare Nasser-Régime in Ägypten, die sozialistischen Baath-Parteien. Darauf folgten Gegenbewegung wie die Muslimbrüder, die Moscheebesetzung 1979 in Mekka im gleichen Jahr wie die islamische Revolution im Iran. Die ersten freie Wahlen nach dem arabischen Frühling in Ägypten gewannen die Muslimbrüder, usw. Erleben wir eine Art konservativen Rückschlag gegen die erwähnten Modernisierungen?
Gudrun Krämer: Ich glaube, man muss zunächst einmal vorsichtig sein damit, Modernisierung und Säkularismus gleichzusetzen. Der Vordere Orient erlebte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert einen Prozess der Modernisierung, das heißt lange vor Kemal Atatürk und vor dem Schah in Iran. Die Modernisierung betraf unterschiedliche Gebiete, sei es die Vorstellung davon, wie die Familie organisiert sein soll, sei es die wirtschaftliche oder die politische Ordnung. Die Gleichsetzung von Modernisierung hier und Säkularismus dort, der im Übrigen überwiegend autoritär von Staats wegen durchgesetzt wurde, funktioniert nicht.
Konservative Gegenströmungen gab es seit dem 19. Jahrhundert. Radikale islamistische Gruppierungen bis hin zu den Dschihadisten würde ich jedoch nicht einfach als konservativ bezeichnen. Nun ist es tatsächlich so, dass auf die Breite gesehen – von Senegal bis Malaysia – rigide, zum Teil gewaltbereite und sozial vielfach hochkonservative Bewegungen und Strömungen erstarkt sind, die im Namen des Islam auftreten. Dieses Phänomen würde ich nicht pauschal unter dem Vorzeichen konservativ einstufen, wohl aber unter dem Vorzeichen antiliberal.
Wo ziehen Sie da die Trennlinie?
Gudrun Krämer: Konservativ heißt normalerweise, dass man bewahren möchte, was man in der eigenen Tradition für bewahrenswert erachtet. Das könnte im islamischen Umfeld ein lokaler, ein sufischer oder eine andere Form von Islam sein, gegen die sich Islamisten scharfen Zuschnitts wenden. Insofern sind konservativ und islamistisch nicht deckungsgleich. Sie können vielmehr, wie man an der antisufischen Stoßrichtung vieler Islamisten sieht, in starker Spannung zu einander stehen. Vielerorts ist der sufische Islam konservativ in dem Sinn, dass er bestehende Ausdrucksformen islamischer Frömmigkeit bewahren will, nicht der islamistische. An dieser Stelle bilden sich scharfe Trennlinien, verbunden mit strenger wechselseitiger Abgrenzung.
Antiliberal sage ich, weil Islamisten in der Regel dort die Grenze ziehen, wo der Einzelne oder die Einzelne für sich in Anspruch nehmen, ihr Leben so zu leben, wie sie es selbst für richtig halten, einschließlich der Wahl ihrer Partner, ihrer sexuellen Orientierung und gesamten Lebensführung. Ein derart freier Lebensentwurf ist für die meisten Islamisten ein rotes Tuch.
Aber ist dieses Antiliberale auch eine Antimoderne – auch wenn sie mit modernen Technologien einhergehen mag?
Gudrun Krämer: Wenn wir modern mit liberal-aufgeklärt gleichsetzen, dann ja. Eine derart eindeutige Definition von Moderne ist allerdings problematisch. Die Faschismen sind gleichfalls modern. Wir müssten also erst einmal definieren, was wir unter Moderne verstehen.
Das liberale Modell umfasst ja unterschiedliche Felder, und Islamisten positionieren sich hier jeweils unterschiedlich. So haben die meisten Islamisten keine Vorbehalte gegenüber einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung, solange Mindeststandards der Solidarität gewahrt bleiben, also ein moralisch eingehegter Kapitalismus entsteht mit starken Elementen der Verteilungsgerechtigkeit. Ein Fundamentalwiderstand gegen den Kapitalismus ist in islamistischen Kreisen heute, anders als noch in den 1950er und 1960er Jahren, selten.
Es gibt Berichte über die Beeinflussung der Muslimbrüder und der iranischen Revolution durch europäische Vordenker. Sayyid Qutb soll sich auf Alexis Carrel bezogen haben und geistige Führer der islamischen Revolution in Iran auf Martin Heidegger. Gibt es da vergleichbare Entwicklungen zwischen dem Europa der Zwischenkriegszeit mit der konservativen Revolution und möglicherweise ähnlichen Mechanismen in der islamischen Welt?
Gudrun Krämer: Ich bin immer sehr zurückhaltend, wenn direkte Einflüsse geltend gemacht werden. Wobei man hier unterscheiden muss zwischen bestimmten iranischen Denkern auf der einen Seite und arabischen auf der anderen. Gerade in Iran waren Präsenz und Einfluss westlicher Philosophie ungleich höher als in weiten Teilen der arabischen Welt, vielleicht mit Ausnahme des Maghreb. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert war ein gewisser Einfluss von anarchistischen, sozialistischen und kommunistischen Denkern und Bewegungen auf Teile der, zahlenmäßig sehr kleinen kritischen Intelligenz in Iran auszumachen. In den 1950er und 1960er Jahren haben iranische Vordenker westliche Philosophen und politische Strömungen intensiv wahrgenommen, insbesondere in und aus Frankreich. Ali Schariati ist dafür ein Beispiel.
Wenn es um Sayyid Qutb und den Islamismus etwa in Ägypten geht, wäre ich vorsichtig. Sie haben doch sehr stark vom Eigenen gezehrt, das natürlich im Licht der aktuellen Umstände rezipiert und aktualisiert wurde. Ich würde für den arabischen Islamismus den Vorbildcharakter des Westens nicht überbetonen. Das heißt nicht, dass es keine Einflüsse gegeben hätte. Gerade die angelsächsische Ausprägung liberalen Denkens – „self help, self improvement, self reliance“ – hat großen Einfluss auf die Ausformung islamistischen Denkens und islamistischer Organisationen ausgeübt, vermittelt nicht nur über Texte, sondern auch über Organisationen wie etwa die Pfadfinder und diverse Jugendbewegungen der Zwischenkriegszeit. Aber ich würde mich immer sehr zurückhalten bei dem Versuch, islamistisches Denken quasi als Abklatsch bestimmter europäischer Großdenker zu verstehen.
Findet dennoch ein ähnlicher Mechanismus statt? Wenn es in der Konservativen Revolution häufig um ein Klagen über die Entzauberung der Welt und die Suche nach einer mythischen Wiederaufladung der Moderne ging, wäre es denkbar, dass im Islam ein ähnlicher Mechanismus in der Auseinandersetzung mit der Modernisierung greift, der den Islamismus mit befördert hat?
Gudrun Krämer: Im Islam wird vielleicht nicht von einer Entzauberung der Welt und ihrer mythischen Wiederaufladung gesprochen. Aber die Kritik daran, dass Religion im öffentlichen Leben zurückgedrängt wird, dass islamische Gebote nicht eingehalten werden, dass Frauen den Schleier ablegen, ist scharf. Allerdings muss man zugleich sagen, dass gerade die technische Moderne vielen Facetten des religiösen Lebens enormen Auftrieb gegeben hat. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Heiligenfeste in einer Größe und einem Umfang gefeiert, wie nie zuvor. Die Pilgerfahrt nach Mekka nahm ungekannte Ausmaße an. Es war die moderne Infrastruktur von der Eisenbahn bis zur Dampfschifffahrt und von der Quarantäne bis zu sonstigen modernen Hygienevorrichtungen, die dies möglich machte. Der transnationale Islamismus wäre ohne moderne Verkehrs- und Kommunikationstechniken undenkbar. Wie überall muss daher zwischen einer technischen und einer kulturellen Moderne unterschieden werden.
Eine Variable spielt bei Heidegger und anderen konservativen westlichen Vordenkern keine Rolle, und das ist der Antikolonialismus. In der islamischen Welt ist er von zentraler Bedeutung, in dem Sinne, dass zum einen der Kolonialismus in einer Weise in die Gesellschaften eingegriffen hat, die diese Gesellschaften überwiegend selbst nicht wollten, und dass zum anderen jede Art der Kritik an Denk- oder Verhaltensformen, die einer bestimmten Seite nicht genehm war, als kolonial inspiriert diskreditiert werden konnte. Das heißt, dass der Kolonialismus und der Antikolonialismus sich quasi als intervenierende Variable oder Filter auf die gesellschaftliche Auseinandersetzung, den öffentlichen Diskurs gelegt und sie auf diese Weise verzerrt haben.
Die Abwehr gegenüber einer von außen kommenden Einflussnahme, die sich auf liberale Werte beruft, hat der islamistischen Strömung enormen Auftrieb gegeben. Der Islamismus tritt nicht allein als Gegenbewegung auf, sondern als Befreiungsbewegung, die den Muslimen dazu verhilft, das zu sein, was sie im Innersten sind oder zumindest sein sollten, nämlich selbstbestimmte und selbstbewusste Muslime. Die empfundene Kränkung, das Gefühl, die Stellung verloren zu haben, die man einstmals besaß, und die Suche nach Stärke und Selbstbewusstsein sind von großer Bedeutung. Diese auch emotional so bedeutsame Komponente werden Sie im nationalkonservativen Denken in Europa in dieser Form nicht finden, weil Europa nicht selbst Objekt des Kolonialismus wurde.
Aber die autoritären säkularistischen Régime, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den arabischen Staaten entstanden, waren schon Produkte der arabischen Gesellschaften selbst und weder die Türkei noch der Iran waren in den zurückliegenden Jahrhunderten Kolonien.
Gudrun Krämer: Ja, das ist richtig. Das Osmanische Reich blieb bis zuletzt nominell souverän, und auch Iran wurde nicht in aller Form britischer und russischer Herrschaft unterstellt. Die arabische Welt hingegen geriet spätestens nach dem Ersten Weltkrieg in großen Teilen unter koloniale Herrschaft, und deren Spuren waren auch nach Erlangung der Unabhängigkeit noch allenthalben zu spüren. Die koloniale Situation endet, das ist für viele Länder gezeigt worden, nicht mit dem Ende direkter kolonialer Herrschaft. Insofern ist die koloniale Erfahrung in Ländern wir Marokko, Algerien, Ägypten oder Irak nach wie vor ein wichtiger Faktor in Kultur, Politik und Gesellschaft.
Wie gerechtfertigt ist die Gewalt im Namen des Islam? Ist das ableitbar aus der Religion oder tut man damit der Religion selbst Gewalt an?
Gudrun Krämer: Der Islam enthält in seinen normativen Quellen keine grundsätzliche Absage an die Gewalt. Ich sehe aber im Koran das reziproke Prinzip verankert, das lautet: Behandele die anderen so, wie sie dich behandeln. Immer wieder werden die Verse zitiert, die die Gläubigen ermahnen, sich gegen diejenigen zu wehren, die sie „aus ihren Häusern vertreiben“, und mit denen Frieden zu schließen, die den Frieden suchen, und diesen Frieden auch zu halten. Man kann das, wenn man will, als zentrales Prinzip des Islam identifizieren, aus dem Muslime den Grundsatz der Gegenseitigkeit ableiten: Wenn unsere Nachbarinnen und Nachbarn friedlich mit uns zusammenleben wollen und das auch tun, dann tun wir das ebenfalls. Wenn sie uns angreifen, verteidigen wir uns. Ob man die Selbstverteidigung als legitim anerkennt, hängt unter anderem davon ab, ob man Pazifist ist. Der Koran ist aber eben kein Handbuch. Er ist nicht ohne Widersprüche, und daher fällt es auch schwer, eine einzige Maxime als alleingültig abzuleiten.
Die frühislamische Geschichte ist durchaus von Gewalt geprägt. Zwischen dem 7. und dem 9. Jahrhundert wurde die islamische Herrschaft überwiegend mit Gewalt oder unter Androhung von Gewalt verbreitet. Das musste nicht die versuchte Vernichtung des Gegners beinhalten, aber Eroberung beruht immer auf Gewalt. Von der Ausweitung islamischer Herrschaft ist allerdings die Ausbreitung des Islam als Religion zu unterscheiden, und die verlief vor allem in späteren Jahrhunderten überwiegend auf friedlichem Weg über die Mission.
Wie immer ist es auch eine Frage, wie die Einzelnen das Verhalten der anderen bewerten, ob sie ihnen Aggressivität unterstellen, ob sie davon ausgehen, die Welt wäre besser, wenn sie islamisch wäre. Für alle diese Ansichten finden Sie Vertreter, Musliminnen und Muslime, die ein friedliches, pluralistisches Verständnis von wahrer islamischer Ordnung vertreten, ebenso wie solche, die ein auf scharfer Abgrenzung und auf Hierarchie und Überlegenheit setzendes Islambild propagieren.
Ist mit dem missionarischen Gedanken die Idee, den Westen zu islamisieren, durchaus theologisch ableitbar?
Gudrun Krämer: Dass der Islam missionarisch ist, kann man nicht abstreiten. Grundsätzlich gehen sehr viele Musliminnen und Muslime davon aus, dass der Islam die beste Religion ist, und dass es dem entsprechend am besten wäre, wenn alle Menschen Musliminnen und Muslime wären. So haben dies zumindest über sehr lange Zeit ja auch die meisten Christen getan. Aber im dem „Wie“ liegt der Unterschied. Denjenigen, die in der Annahme, die ganze Welt solle islamisch sein, auch Gewalt, Zwang und Einschüchterung für erlaubt halten, kann man mit islamischen Argumenten sehr gut widersprechen.
Univ.-Prof. Dr. Gudrun Krämer ist Seniorprofessorin des Instituts für Islamwissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschichte des Vorderen Orients und Nordafrikas seit 1800, islamische Reform, Islam und Moderne, islami(sti)sche Bewegungen und Säkularität. 2016 erschien ihr Buch „Der Vordere Orient und Nordafrika ab 1500″ als Band 9 der Reihe „Neue Fischer-Weltgeschichte“ im Verlag S. Fischer. Ihre „Geschichte des Islam“ ist 2005 bei C.H.Beck erschienen.
Das Interview führte Christoph Becker.
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