Der Islam enthält keine grund­sätz­li­che Absage an Gewalt, kennt aber auch das Prinzip der Gegenseitigkeit“

Protest am 10.01.2015 in Tours nach dem Anschlag auf Charlie-Hebdo’s. Foto: Shutterstock/​le Point du Jour

Die Islam­wis­sen­schaft­le­rin Gudrun Krämer im Inter­view über die Hin­ter­gründe von Isla­mis­mus und isla­mis­ti­schem Terror.

Spä­tes­tens seit den Anschlä­gen auf das World Trade Center in New York 2001 wird der Westen immer wieder mit isla­mis­ti­schen Anschlä­gen und Gewalt im Namen des Islam kon­fron­tiert. Wir kann man dieses Phä­no­men begriff­lich fassen?

Gudrun Krämer: Um das begriff­lich zu erfas­sen, ist es sinn­voll, zwi­schen Inhalt und Stra­te­gie zu unter­schei­den. Geht es um die Frage, wie soll ich leben, wie soll die Gesell­schaft struk­tu­riert sein, wie soll die poli­ti­sche Ordnung aus­se­hen? Oder frage ich nach der Stra­te­gie: Wie möchte ich diese Vor­stel­lun­gen guten Lebens und guter Ordnung ver­wirk­li­chen, und beinhal­tet das auch die Beja­hung von Gewalt? Poli­ti­scher Islam und Isla­mis­mus sind in großen Teilen deckungs­gleich. Sie wollen beide über das indi­vi­du­elle Leben hinaus die Gesell­schaft so umge­stal­ten, dass sie den eigenen Vor­stel­lun­gen ent­spre­chend isla­misch geord­net ist. Das kann die zwi­schen­mensch­li­chen Bezie­hun­gen, Kunst und Kultur, die Wirt­schaft, die Rechts­ord­nung und die poli­ti­sche Ordnung betreffen.

Spreche ich von Dschi­ha­dis­ten oder auch von einem radi­ka­len Islam, betrifft dies die Dimen­sion der Stra­te­gie. Dschi­ha­dis­ten bejahen, wie der Name besagt, den Dschi­had, und das heißt in ihrem Fall, Gewalt im Namen der Reli­gion als Kampf nicht nur gegen innere, sondern auch gegen äußere Wider­stände. Beim so genann­ten radi­ka­len Islam ist das weniger ein­deu­tig. In manchen Fällen, etwa dem der Taliban in Afgha­ni­stan, fällt eine radi­kale Vor­stel­lung gesell­schaft­li­cher Ordnung mit der Beja­hung von Gewalt zusam­men. Das muss jedoch nicht in jedem Fall so sein.

Die Sala­fis­ten heißen so, weil sie nach eigenem Bekun­den – das kann man kri­tisch hin­ter­fra­gen – so leben, denken und handeln wollen, wie ihrer Auf­fas­sung nach Muham­mad und seine ersten Anhän­ger im 7. Jahr­hun­dert nach Chris­tus auf der ara­bi­schen Halb­in­sel gelebt haben. Sala­fis­mus für sich genom­men sagt jedoch noch nichts über die Stra­te­gie aus. Wir denken oft, Sala­fis­ten bejah­ten zugleich Gewalt. Dafür gibt es in der Tat zahl­rei­che Bei­spiele. Es ist jedoch, wie im Fall der radi­ka­len Isla­mis­ten, nicht zwin­gend so. Ein sala­fis­ti­sches Islam­ver­ständ­nis kann auch in aller Stille gelebt werden.

Ist der poli­ti­sche Islam eine Ideo­lo­gie oder eine Spiel­art der Reli­gion, die auch inner­halb der Reli­gion aner­kannt ist?

Gudrun Krämer: Ein Isla­mis­mus, der nicht gewalt­för­mig vorgeht, kann von Mus­li­men durch­aus als eine mög­li­che Spiel­art des Islam aner­kannt werden – von Nicht­mus­li­men im Übrigen auch. Isla­mis­ten bezie­hen sich auf den Islam, sind nach eigenem Ver­ständ­nis fromme, richtig lebende Muslime. Folg­lich hat der Isla­mis­mus etwas mit dem Islam als Reli­gion zu tun. Aber er ist nur eine Mög­lich­keit unter meh­re­ren. Sie ist beson­ders auf­fäl­lig, oft auch beson­ders laut, und sie kann, je nach ihrer kon­kre­ten Aus­ge­stal­tung, durch­aus eine Bedro­hung für einen libe­ra­len Entwurf indi­vi­du­el­len Lebens und gesell­schaft­li­cher Ordnung darstellen.

Es gibt die Vor­stel­lung eines Got­tes­staats, der sehr stark im poli­ti­schen Raum agiert. Ist das ein Wider­spruch zu tra­di­tio­nel­len Aus­le­gun­gen des Islam?

Gudrun Krämer: Das kommt ganz darauf an, wie diese Vor­stel­lung im Ein­zel­nen aus­ge­stal­tet wird. Wenn der Entwurf eines isla­mi­schen Lebens, einer isla­mi­schen Gesell­schaft und eines isla­mi­schen Staates darin besteht, dass die – zunächst einmal ganz all­ge­mein gefass­ten – Normen und Werte des Islams bis hin zum Geschlech­ter­ver­hält­nis ver­wirk­licht werden, dann würde das von den meisten Mus­li­men durch­aus als legitim aner­kannt. Auch Chris­ten würden in ihrer Mehr­heit ja ver­mut­lich eine im wei­tes­ten Sinn christ­lich geprägte Ordnung bejahen. Wenn die isla­mi­sche Ordnung hin­ge­gen so aus­se­hen soll, dass sie jede Art der Kritik und ein fried­li­ches Zusam­men­le­ben mit Anders­den­ken­den und Anders­gläu­bi­gen aus­schließt, würde dies unter Mus­li­min­nen und Mus­li­men keine Mehr­heit finden..

Es gab Kritik von isla­mi­schen Theo­lo­gen am Isla­mi­schen Staat. Richtet sich solche Kritik gegen die Gewalt und die Aus­schließ­lich­keit der Aus­le­gung des Islam?

Gudrun Krämer: Das ist die Kritik an den Inhal­ten und den Stra­te­gien. An den Inhal­ten inso­fern, als der so genannte Isla­mi­sche Staat für sich in Anspruch nahm, genau zu wissen, wie isla­misch gelebt werden muss, und vor allem, was nicht tole­riert werden darf. Seine rigiden Vor­stel­lun­gen darüber, wie die Ein­zel­nen zu leben, wie sie sich zu kleiden, wie sie zu grüßen, was sie zu essen oder zu trinken hatten, setzte er mit großer Härte durch. Das war radikal im Inneren, unter Unter­drü­ckung jeg­li­cher anderen Meinung, ver­bun­den mit bru­ta­ler Gewalt gegen alle, die sich dieser Ordnung ent­ge­gen­stell­ten, gleich­gül­tig, ob es nach eigenem Ver­ständ­nis fromme Muslime oder Nicht­mus­lime waren. Diese Kom­bi­na­tion ist auf schar­fen Wider­spruch gesto­ßen, ohne dass wir das hier so genau mit­be­kom­men hätten, weil die Kritik zum Teil theo­lo­gisch for­mu­liert und in Spra­chen vor­ge­bracht wurde, die hier nicht ohne wei­te­res ver­stan­den werden. Wenn die Gelehr­ten der Azhar-Uni­ver­si­tät in Kairo den Isla­mi­schen Staat in Syrien und Irak kri­ti­sie­ren, dann tun sie das nicht auf Eng­lisch. Aber die Kritik war ent­schie­den, rich­tete sich auf das strikte, into­le­rante Vor­ge­hen im Inneren und vor allem auf die massive Gewalt gegen alle Anders­den­ken­den und Anders­gläu­bi­gen, inklu­sive Chris­ten und Ver­tre­tern poli­ti­scher Rich­tun­gen, die dem Isla­mi­schen Staat nicht genehm waren.

Wenn wir auf das 20. Jahr­hun­dert zurück­bli­cken, scheint es in der isla­mi­schen Welt zunächst einen Moder­ni­sie­rungs­schub gegeben zu haben: der Lai­zis­mus bzw. Säku­la­ris­mus mit dem Kema­lis­mus in der Türkei, der Schah in Persien, der sich an west­li­cher Lebens­weise ori­en­tierte, das säku­lare Nasser-Régime in Ägypten, die sozia­lis­ti­schen Baath-Par­teien. Darauf folgten Gegen­be­we­gung wie die Mus­lim­brü­der, die Moschee­be­set­zung 1979 in Mekka im glei­chen Jahr wie die isla­mi­sche Revo­lu­tion im Iran. Die ersten freie Wahlen nach dem ara­bi­schen Früh­ling in Ägypten gewan­nen die Mus­lim­brü­der, usw. Erleben wir eine Art kon­ser­va­ti­ven Rück­schlag gegen die erwähn­ten Modernisierungen?

Gudrun Krämer: Ich glaube, man muss zunächst einmal vor­sich­tig sein damit, Moder­ni­sie­rung und Säku­la­ris­mus gleich­zu­set­zen. Der Vordere Orient erlebte seit dem aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­dert einen Prozess der Moder­ni­sie­rung, das heißt lange vor Kemal Atatürk und vor dem Schah in Iran. Die Moder­ni­sie­rung betraf unter­schied­li­che Gebiete, sei es die Vor­stel­lung davon, wie die Familie orga­ni­siert sein soll, sei es die wirt­schaft­li­che oder die poli­ti­sche Ordnung. Die Gleich­set­zung von Moder­ni­sie­rung hier und Säku­la­ris­mus dort, der im Übrigen über­wie­gend auto­ri­tär von Staats wegen durch­ge­setzt wurde, funk­tio­niert nicht.

Kon­ser­va­tive Gegen­strö­mun­gen gab es seit dem 19. Jahr­hun­dert. Radi­kale isla­mis­ti­sche Grup­pie­run­gen bis hin zu den Dschi­ha­dis­ten würde ich jedoch nicht einfach als kon­ser­va­tiv bezeich­nen. Nun ist es tat­säch­lich so, dass auf die Breite gesehen – von Senegal bis Malay­sia – rigide, zum Teil gewalt­be­reite und sozial viel­fach hoch­kon­ser­va­tive Bewe­gun­gen und Strö­mun­gen erstarkt sind, die im Namen des Islam auf­tre­ten. Dieses Phä­no­men würde ich nicht pau­schal unter dem Vor­zei­chen kon­ser­va­tiv ein­stu­fen, wohl aber unter dem Vor­zei­chen antiliberal.

Wo ziehen Sie da die Trennlinie?

Gudrun Krämer: Kon­ser­va­tiv heißt nor­ma­ler­weise, dass man bewah­ren möchte, was man in der eigenen Tra­di­tion für bewah­rens­wert erach­tet. Das könnte im isla­mi­schen Umfeld ein lokaler, ein sufi­scher oder eine andere Form von Islam sein, gegen die sich Isla­mis­ten schar­fen Zuschnitts wenden. Inso­fern sind kon­ser­va­tiv und isla­mis­tisch nicht deckungs­gleich. Sie können viel­mehr, wie man an der anti­su­fi­schen Stoß­rich­tung vieler Isla­mis­ten sieht, in starker Span­nung zu ein­an­der stehen. Vie­ler­orts ist der sufi­sche Islam kon­ser­va­tiv in dem Sinn, dass er bestehende Aus­drucks­for­men isla­mi­scher Fröm­mig­keit bewah­ren will, nicht der isla­mis­ti­sche. An dieser Stelle bilden sich scharfe Trenn­li­nien, ver­bun­den mit stren­ger wech­sel­sei­ti­ger Abgrenzung.

Anti­li­be­ral sage ich, weil Isla­mis­ten in der Regel dort die Grenze ziehen, wo der Ein­zelne oder die Ein­zelne für sich in Anspruch nehmen, ihr Leben so zu leben, wie sie es selbst für richtig halten, ein­schließ­lich der Wahl ihrer Partner, ihrer sexu­el­len Ori­en­tie­rung und gesam­ten Lebens­füh­rung. Ein derart freier Lebens­ent­wurf ist für die meisten Isla­mis­ten ein rotes Tuch.

Aber ist dieses Anti­li­be­rale auch eine Anti­mo­derne – auch wenn sie mit moder­nen Tech­no­lo­gien ein­her­ge­hen mag?

Gudrun Krämer: Wenn wir modern mit liberal-auf­ge­klärt gleich­set­zen, dann ja. Eine derart ein­deu­tige Defi­ni­tion von Moderne ist aller­dings pro­ble­ma­tisch. Die Faschis­men sind gleich­falls modern. Wir müssten also erst einmal defi­nie­ren, was wir unter Moderne verstehen.

Das libe­rale Modell umfasst ja unter­schied­li­che Felder, und Isla­mis­ten posi­tio­nie­ren sich hier jeweils unter­schied­lich. So haben die meisten Isla­mis­ten keine Vor­be­halte gegen­über einer kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­ord­nung, solange Min­dest­stan­dards der Soli­da­ri­tät gewahrt bleiben, also ein mora­lisch ein­ge­heg­ter Kapi­ta­lis­mus ent­steht mit starken Ele­men­ten der Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit. Ein Fun­da­men­tal­wi­der­stand gegen den Kapi­ta­lis­mus ist in isla­mis­ti­schen Kreisen heute, anders als noch in den 1950er und 1960er Jahren, selten.

Es gibt Berichte über die Beein­flus­sung der Mus­lim­brü­der und der ira­ni­schen Revo­lu­tion durch euro­päi­sche Vor­den­ker. Sayyid Qutb soll sich auf Alexis Carrel bezogen haben und geis­tige Führer der isla­mi­schen Revo­lu­tion in Iran auf Martin Heid­eg­ger. Gibt es da ver­gleich­bare Ent­wick­lun­gen zwi­schen dem Europa der Zwi­schen­kriegs­zeit mit der kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­tion und mög­li­cher­weise ähn­li­chen Mecha­nis­men in der isla­mi­schen Welt?

Gudrun Krämer: Ich bin immer sehr zurück­hal­tend, wenn direkte Ein­flüsse geltend gemacht werden. Wobei man hier unter­schei­den muss zwi­schen bestimm­ten ira­ni­schen Denkern auf der einen Seite und ara­bi­schen auf der anderen. Gerade in Iran waren Präsenz und Ein­fluss west­li­cher Phi­lo­so­phie ungleich höher als in weiten Teilen der ara­bi­schen Welt, viel­leicht mit Aus­nahme des Maghreb. Schon im aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­dert war ein gewis­ser Ein­fluss von anar­chis­ti­schen, sozia­lis­ti­schen und kom­mu­nis­ti­schen Denkern und Bewe­gun­gen auf Teile der, zah­len­mä­ßig sehr kleinen kri­ti­schen Intel­li­genz in Iran aus­zu­ma­chen. In den 1950er und 1960er Jahren haben ira­ni­sche Vor­den­ker west­li­che Phi­lo­so­phen und poli­ti­sche Strö­mun­gen inten­siv wahr­ge­nom­men, ins­be­son­dere in und aus Frank­reich. Ali Scha­riati ist dafür ein Beispiel.

Wenn es um Sayyid Qutb und den Isla­mis­mus etwa in Ägypten geht, wäre ich vor­sich­tig. Sie haben doch sehr stark vom Eigenen gezehrt, das natür­lich im Licht der aktu­el­len Umstände rezi­piert und aktua­li­siert wurde. Ich würde für den ara­bi­schen Isla­mis­mus den Vor­bild­cha­rak­ter des Westens nicht über­be­to­nen. Das heißt nicht, dass es keine Ein­flüsse gegeben hätte. Gerade die angel­säch­si­sche Aus­prä­gung libe­ra­len Denkens – „self help, self impro­ve­ment, self reli­ance“ – hat großen Ein­fluss auf die Aus­for­mung isla­mis­ti­schen Denkens und isla­mis­ti­scher Orga­ni­sa­tio­nen aus­ge­übt, ver­mit­telt nicht nur über Texte, sondern auch über Orga­ni­sa­tio­nen wie etwa die Pfad­fin­der und diverse Jugend­be­we­gun­gen der Zwi­schen­kriegs­zeit. Aber ich würde mich immer sehr zurück­hal­ten bei dem Versuch, isla­mis­ti­sches Denken quasi als Abklatsch bestimm­ter euro­päi­scher Groß­den­ker zu verstehen.

Findet dennoch ein ähn­li­cher Mecha­nis­mus statt? Wenn es in der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­tion häufig um ein Klagen über die Ent­zau­be­rung der Welt und die Suche nach einer mythi­schen Wie­der­auf­la­dung der Moderne ging, wäre es denkbar, dass im Islam ein ähn­li­cher Mecha­nis­mus in der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Moder­ni­sie­rung greift, der den Isla­mis­mus mit beför­dert hat?

Gudrun Krämer: Im Islam wird viel­leicht nicht von einer Ent­zau­be­rung der Welt und ihrer mythi­schen Wie­der­auf­la­dung gespro­chen. Aber die Kritik daran, dass Reli­gion im öffent­li­chen Leben zurück­ge­drängt wird, dass isla­mi­sche Gebote nicht ein­ge­hal­ten werden, dass Frauen den Schleier ablegen, ist scharf. Aller­dings muss man zugleich sagen, dass gerade die tech­ni­sche Moderne vielen Facet­ten des reli­giö­sen Lebens enormen Auf­trieb gegeben hat. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts wurden Hei­li­gen­feste in einer Größe und einem Umfang gefei­ert, wie nie zuvor. Die Pil­ger­fahrt nach Mekka nahm unge­kannte Ausmaße an. Es war die moderne Infra­struk­tur von der Eisen­bahn bis zur Dampf­schiff­fahrt und von der Qua­ran­täne bis zu sons­ti­gen moder­nen Hygie­ne­vor­rich­tun­gen, die dies möglich machte. Der trans­na­tio­nale Isla­mis­mus wäre ohne moderne Ver­kehrs- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­ni­ken undenk­bar. Wie überall muss daher zwi­schen einer tech­ni­schen und einer kul­tu­rel­len Moderne unter­schie­den werden.

Eine Varia­ble spielt bei Heid­eg­ger und anderen kon­ser­va­ti­ven west­li­chen Vor­den­kern keine Rolle, und das ist der Anti­ko­lo­nia­lis­mus. In der isla­mi­schen Welt ist er von zen­tra­ler Bedeu­tung, in dem Sinne, dass zum einen der Kolo­nia­lis­mus in einer Weise in die Gesell­schaf­ten ein­ge­grif­fen hat, die diese Gesell­schaf­ten über­wie­gend selbst nicht wollten, und dass zum anderen jede Art der Kritik an Denk- oder Ver­hal­tens­for­men, die einer bestimm­ten Seite nicht genehm war, als kolo­nial inspi­riert dis­kre­di­tiert werden konnte. Das heißt, dass der Kolo­nia­lis­mus und der Anti­ko­lo­nia­lis­mus sich quasi als inter­ve­nie­rende Varia­ble oder Filter auf die gesell­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung, den öffent­li­chen Diskurs gelegt und sie auf diese Weise ver­zerrt haben.

Die Abwehr gegen­über einer von außen kom­men­den Ein­fluss­nahme, die sich auf libe­rale Werte beruft, hat der isla­mis­ti­schen Strö­mung enormen Auf­trieb gegeben. Der Isla­mis­mus tritt nicht allein als Gegen­be­we­gung auf, sondern als Befrei­ungs­be­we­gung, die den Mus­li­men dazu ver­hilft, das zu sein, was sie im Inners­ten sind oder zumin­dest sein sollten, nämlich selbst­be­stimmte und selbst­be­wusste Muslime. Die emp­fun­dene Krän­kung, das Gefühl, die Stel­lung ver­lo­ren zu haben, die man einst­mals besaß, und die Suche nach Stärke und Selbst­be­wusst­sein sind von großer Bedeu­tung. Diese auch emo­tio­nal so bedeut­same Kom­po­nente werden Sie im natio­nal­kon­ser­va­ti­ven Denken in Europa in dieser Form nicht finden, weil Europa nicht selbst Objekt des Kolo­nia­lis­mus wurde.

Aber die auto­ri­tä­ren säku­la­ris­ti­schen Régime, die nach dem Zweiten Welt­krieg in den ara­bi­schen Staaten ent­stan­den, waren schon Pro­dukte der ara­bi­schen Gesell­schaf­ten selbst und weder die Türkei noch der Iran waren in den zurück­lie­gen­den Jahr­hun­der­ten Kolonien.

Gudrun Krämer: Ja, das ist richtig. Das Osma­ni­sche Reich blieb bis zuletzt nomi­nell sou­ve­rän, und auch Iran wurde nicht in aller Form bri­ti­scher und rus­si­scher Herr­schaft unter­stellt. Die ara­bi­sche Welt hin­ge­gen geriet spä­tes­tens nach dem Ersten Welt­krieg in großen Teilen unter kolo­niale Herr­schaft, und deren Spuren waren auch nach Erlan­gung der Unab­hän­gig­keit noch allent­hal­ben zu spüren. Die kolo­niale Situa­tion endet, das ist für viele Länder gezeigt worden, nicht mit dem Ende direk­ter kolo­nia­ler Herr­schaft. Inso­fern ist die kolo­niale Erfah­rung in Ländern wir Marokko, Alge­rien, Ägypten oder Irak nach wie vor ein wich­ti­ger Faktor in Kultur, Politik und Gesellschaft.

Wie gerecht­fer­tigt ist die Gewalt im Namen des Islam? Ist das ableit­bar aus der Reli­gion oder tut man damit der Reli­gion selbst Gewalt an?

Gudrun Krämer: Der Islam enthält in seinen nor­ma­ti­ven Quellen keine grund­sätz­li­che Absage an die Gewalt. Ich sehe aber im Koran das rezi­proke Prinzip ver­an­kert, das lautet: Behan­dele die anderen so, wie sie dich behan­deln. Immer wieder werden die Verse zitiert, die die Gläu­bi­gen ermah­nen, sich gegen die­je­ni­gen zu wehren, die sie „aus ihren Häusern ver­trei­ben“, und mit denen Frieden zu schlie­ßen, die den Frieden suchen, und diesen Frieden auch zu halten. Man kann das, wenn man will, als zen­tra­les Prinzip des Islam iden­ti­fi­zie­ren, aus dem Muslime den Grund­satz der Gegen­sei­tig­keit ablei­ten: Wenn unsere Nach­ba­rin­nen und Nach­barn fried­lich mit uns zusam­men­le­ben wollen und das auch tun, dann tun wir das eben­falls. Wenn sie uns angrei­fen, ver­tei­di­gen wir uns. Ob man die Selbst­ver­tei­di­gung als legitim aner­kennt, hängt unter anderem davon ab, ob man Pazi­fist ist. Der Koran ist aber eben kein Hand­buch. Er ist nicht ohne Wider­sprü­che, und daher fällt es auch schwer, eine einzige Maxime als allein­gül­tig abzuleiten.

Die früh­is­la­mi­sche Geschichte ist durch­aus von Gewalt geprägt. Zwi­schen dem 7. und dem 9. Jahr­hun­dert wurde die isla­mi­sche Herr­schaft über­wie­gend mit Gewalt oder unter Andro­hung von Gewalt ver­brei­tet. Das musste nicht die ver­suchte Ver­nich­tung des Gegners beinhal­ten, aber Erobe­rung beruht immer auf Gewalt. Von der Aus­wei­tung isla­mi­scher Herr­schaft ist aller­dings die Aus­brei­tung des Islam als Reli­gion zu unter­schei­den, und die verlief vor allem in spä­te­ren Jahr­hun­der­ten über­wie­gend auf fried­li­chem Weg über die Mission.

Wie immer ist es auch eine Frage, wie die Ein­zel­nen das Ver­hal­ten der anderen bewer­ten, ob sie ihnen Aggres­si­vi­tät unter­stel­len, ob sie davon aus­ge­hen, die Welt wäre besser, wenn sie isla­misch wäre. Für alle diese Ansich­ten finden Sie Ver­tre­ter, Mus­li­min­nen und Muslime, die ein fried­li­ches, plu­ra­lis­ti­sches Ver­ständ­nis von wahrer isla­mi­scher Ordnung ver­tre­ten, ebenso wie solche, die ein auf schar­fer Abgren­zung und auf Hier­ar­chie und Über­le­gen­heit set­zen­des Islam­bild propagieren.

Ist mit dem mis­sio­na­ri­schen Gedan­ken die Idee, den Westen zu isla­mi­sie­ren, durch­aus theo­lo­gisch ableitbar?

Gudrun Krämer: Dass der Islam mis­sio­na­risch ist, kann man nicht abstrei­ten. Grund­sätz­lich gehen sehr viele Mus­li­min­nen und Muslime davon aus, dass der Islam die beste Reli­gion ist, und dass es dem ent­spre­chend am besten wäre, wenn alle Men­schen Mus­li­min­nen und Muslime wären. So haben dies zumin­dest über sehr lange Zeit ja auch die meisten Chris­ten getan. Aber im dem „Wie“ liegt der Unter­schied. Den­je­ni­gen, die in der Annahme, die ganze Welt solle isla­misch sein, auch Gewalt, Zwang und Ein­schüch­te­rung für erlaubt halten, kann man mit isla­mi­schen Argu­men­ten sehr gut widersprechen.


Univ.-Prof. Dr. Gudrun Krämer ist Seni­or­pro­fes­so­rin des Insti­tuts für Islam­wis­sen­schaft der Freien Uni­ver­si­tät Berlin. Ihre For­schungs­schwer­punkte sind Geschichte des Vor­de­ren Orients und Nord­afri­kas seit 1800, isla­mi­sche Reform, Islam und Moderne, islami(sti)sche Bewe­gun­gen und Säku­la­ri­tät. 2016 erschien ihr Buch „Der Vordere Orient und Nord­afrika ab 1500″ als Band 9 der Reihe „Neue Fischer-Welt­ge­schichte“ im Verlag S. Fischer. Ihre „Geschichte des Islam“ ist 2005 bei C.H.Beck erschienen.

Das Inter­view führte Chris­toph Becker.

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