Konrad Lorenz
Biologie als Schicksal – oder
die „Verhausschweinung des Menschen“
von Ernst Ulrich von Weizsäcker
Konrad Lorenz (geb. 1903 in Wien, gest. 1989 ebenda) war einer der besten und originellsten Biologen der Welt, mit Recht mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Im Gefolge einer gesellschaftspolitischen Interpretation des Darwinismus hat sich Lorenz früh mit einer Politik identifiziert, die die Nicht-Fortpflanzung der Schwachen befürwortet; für ihn war das langfristig erforderlich, wenn sich die Menschheit gedeihlich fortentwickeln sollte. Lorenz war in den 1930er und 40er Jahren bekennender Nationalsozialist und insofern kein Demokrat.
Die Tierbeobachtungen von Lorenz haben das Verständnis von angeborenen Instinkten und Verhaltensweisen durchschlagend verbessert. Als Direktor eines Max-Planck-Instituts und später Nobelpreisträger gehörte er zur Spitze der naturwissenschaftlichen Welt. Sein Institut wurde zum Mekka der biologischen Verhaltensforscher der Welt.
Nach seiner Emeritierung hat er in seinem Heimatland Österreich eine herausragende Rolle bei der Verhinderung von zwei energiepolitischen Großprojekten, dem im Bau befindlichen Kernkraftwerk in Zwentendorf und dem Staudammprojekt nahe Hainburg, das die Donauauen weitgehend zerstört hätten.
1. Wegweisende Forschung
Konrad Lorenz hat die Verhaltensforschung an Tieren auf eine wissenschaftliche Basis gestellt. Dafür hat er, zusammen mit Nikolaas Tinbergen und Karl von Frisch, mit Recht den Nobelpreis bekommen, 1973, für Physiologie oder Medizin; denn einen Biologie-Nobelpreis gibt es nicht.
Die vielleicht einprägsamste Entdeckung war, dass ein aus dem Ei schlüpfendes Gänseküken das Lebewesen, das es zuerst erblickt (in der Natur also fast immer die Gänsemutter) sofort als seinen Führer, seine Vertrauensperson annimmt und diese Prägung lebenslang beibehält. So wurde Konrad Lorenz die „Mutter“ von vielen Gänseküken, deren Schlüpfen er nun mal als Erster beobachtete.
Von wissenschaftlich besonderer Bedeutung war Lorenz’ Beobachtung, dass so gut wie alle Tiere eine vererbte Anlage für ihr Verhalten haben.
Auf diesen Anlagen baut auch die Fähigkeit zur Spontaneität auf. Frühere Biologen sahen hingegen tierisches Verhalten als hauptsächlich reaktiv an. Für diese Auffassung hatten die berühmten Beobachtungen von Iwan P. Pawlow (Nobelpreis 1904!) gesorgt, dass Hunde auf Nahrungsangebot mit Speichelfluss reagieren und dieser auch durch Geräusche ausgelöst werden konnte, die Pawlow als Begleitung der Darreichung von Nahrung hinzugab.
Lorenz hat (parallel und teilweise gemeinsam mit Nikolaas Tinbergen) tierische Instinkte besonders sorgfältig untersucht. Dabei kamen die beiden Forscher zu dem heute gültigen Ergebnis, dass Tierarten sich auch durch angeborene Instinkte unterscheiden lassen, nicht nur durch anatomische Unterschiede. Auch den Begriff der angeborenen Auslösemechanismen (AAM), hat Lorenz als einer der ersten Biologen beschrieben. Für Genetiker liegt hier, wie bei den Instinkten die Betonung auf angeboren. So bildete sich bei Konrad Lorenz sehr früh eine starke Betonung der Erblehre heraus.
2. Angeboren oder vererbt?
Damit sind wir mitten in der hochpolitischen „Nature-Nurture“-Kontroverse: Ist unser Verhalten angeboren („Nature“) oder ist es erlernt oder andressiert („Nurture“)? Die politische Linke sah das Entfaltungspotenzial des Menschen als riesig groß an, und Pawlow und andere Dressur-Forscher von Tieren sowie wissenschaftliche Pädagogik von Menschen untermauerten diese Auffassung. Lorenz hingegen stand dank seiner sehr akribischen Beobachtungen des Tierverhaltens auf der „Nature“ Seite.
Konrad Lorenz sah das „Lernen“ zu einem erheblichen Teil als sehr langfristigen Prozess der Evolution der Arten.
Diejenigen Arten setzten sich evolutionär durch, deren angeborene Instinkte und Verhaltensweisen den Überlebensbedingungen besonders gut angepasst waren. Es ist fürs Überleben des Gänsekükens überaus sinnvoll, die Gänsemutter sofort und ohne zeitraubende individuelle Lernprozesse als Anführerin zu akzeptieren.
Für Lorenz war die Darwin’sche Evolutionstheorie eine unumstößliche Gewissheit. Diese beschrieb und erklärte in dem berühmten Werk Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl die Höherentwicklung der Tier- und Pflanzenarten durch „natürliche Auslese“. Dieses Hauptwerk von Darwin, veröffentlicht 1859, enthielt noch keinen direkten Bezug zur menschlichen Evolution. Aber 12 Jahre später kam Darwins neues Buch Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl heraus, und darin lesen wir die für heutige Leser erschreckenden Sätze:
„Wir bauen Zufluchtsstätten für die Schwachsinnigen, für die Krüppel und die Kranken; wir erlassen Armengesetze, und unsere Ärzte strengen die größte Geschicklichkeit an, das Leben eines jeden bis zum letzten Moment noch zu erhalten. (…) Hierdurch geschieht es, dass auch die schwächeren Glieder der zivilisierten Gesellschaft ihre Art fortpflanzen. Niemand, welcher der Zucht domestizierter Tiere seine Aufmerksamkeit gewidmet hat, wird daran zweifeln, dass dies für die Rasse des Menschen im höchsten Grade schädlich sein muss.“ (1)
3. Sozialdarwinismus
Das war nun ziemlich genau die Auffassung der Nationalsozialisten. Bloß dass die Nazis dabei den Schwerpunkt in der Unterscheidung der menschlichen Rassen sahen. Für den jungen Konrad Lorenz, der wie so viele Europäer in den verwirrenden 1920er Jahren politisch auf der Suche nach „dem starken Mann“ war, waren die Nationalsozialisten doppelt attraktiv. Sie kritisierten eine Demokratie, die kaum in der Lage schien, in den vom Krieg erschütterten und durch Inflation geschwächten Ländern Mitteleuropas wieder eine verlässliche staatliche (und militärische) Ordnung aufzubauen. Und sie vertraten ein sozialdarwinistisches Gedankengut, das dem darwinistischen Vogelbeobachter Lorenz sehr vertraut und plausibel vorkam.
Als es dann Hitler gelang, Österreich „dem Reich“ anzuschließen, war Lorenz beeindruckt, erleichtert, ja begeistert. Er stellte alsbald einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP. Da mag auch Opportunismus bezüglich einer akademischen Karriere eine Rolle gespielt haben. Aber er beteuerte in seinem Aufnahmegesuch
Alsbald wurde Lorenz auch Mitarbeiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, einer förmlichen parteipolitischen Funktion. In diesem Kontext ist auch seine polemische Warnung vor der „Verhausschweinung“ der menschlichen Zivilisation als Folge des Wegfalls von natürlichen Selektionsmechanismen entstanden. (3)
4. Krieg und Nachkriegszeit
Parteimitgliedschaft und Mitarbeit in einem Parteiorgan waren sicher förderlich dafür, dass Konrad Lorenz 1940 zum Professor für vergleichende Psychologie an der damals hochansehnlichen Universität Königsberg berufen wurde. Doch nun war Krieg, und Lorenz wurde schon ein Jahr später zur Wehrmacht eingezogen. Als promovierter Mediziner (!) diente er ab 1942 als Militärarzt in einem Lazarett in Posen im deutsch besetzten Polen.
Hier musste er auch an einer rassenkundlichen „Studie“ an Posener „deutsch-polnischen Mischlingen“ mitarbeiten. Man muss annehmen, dass es sich hierbei auch um eine „Eignungsselektion“ für die Siedlung im besetzten Gebiet handelte. Dieses wäre eine zwar indirekte, aber doch inhumanen Zielen dienende Beteiligung an schlimmen Taten der Nazi-Herrschaft.
Lorenz hat sich zu der Phase seines Lebens später nie öffentlich geäußert. Im Übrigen war das Posener Intermezzo kurz, und er geriet 1944 in eine vierjährige sowjetische Kriegsgefangenschaft.
Nach dem Krieg und der Freilassung aus der Gefangenschaft konnte Lorenz im heimischen Altenberg bei Wien seine wissenschaftlichen Arbeiten endlich wieder aufnehmen, beinahe ohne Bezahlung. Allerdings brauchte er auch keine teuren wissenschaftliche Geräte, weil er ja in erster Linie ein sehr genauer Beobachter von Tieren im Freien war.
5. Populärer Autor und Wissenschaftler
Daneben entpuppte Konrad Lorenz sich schon seit 1949 als köstlicher und sehr populärer Schriftsteller. Sein Buch Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen wurde ein Bestseller und eine ansehnliche Geldquelle für seinen Lebensunterhalt und seine Wissenschaft. Die Verhaltensforschung wurde plötzlich populär und entwickelte sich zu einer weltweit beachteten Unterdisziplin der Zoologie.
Schon 1950 beschloss die Max-Planck-Gesellschaft die Einrichtung einer Forschungsstelle für Vergleichende Verhaltensforschung, im westfälischen Buldern, dem Max-Planck-Institut für Meeresbiologie in Wilhelmshaven angegliedert. Lorenz spielte bei deren Gestaltung und Führung die entscheidende Rolle.
Fünf Jahre später errichtete die Max-Planck-Gesellschaft dann ein eigenes Institut für Verhaltensphysiologie nicht weit von Starnberg an einem Ort, der später Seewiesen hieß, geleitet von Erich von Holst und Konrad Lorenz. Nach von Holsts frühem Tod blieb Lorenz von 1961 bis 1973 alleiniger Direktor.
Das Institut im idyllischen Seewiesen wurde alsbald zu einem Mekka für Verhaltensbiologen aus aller Welt. In dieser Zeit hat sich Konrad Lorenz zu einem der weltbekanntesten Biologen entwickelt.
Seine Bücher
- „Das sogenannte Böse – Zur Naturgeschichte der Aggression“ (4)
- „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“ (5), sowie
- „Die Rückseite des Spiegels – Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens“ (6)
wurden zum Tagesgespräch im deutschen Sprachraum, aber auch weit darüber hinaus.
Die Rückseite des Spiegels versucht eine sechsstufige Evolution der Tiere, vor allem der Wirbeltiere bis zu Homo sapiens nach dem Maßstab der geistigen Fähigkeiten darzustellen und wurde von Lorenz selbst als sein Hauptwerk aufgefasst. Es war in gewissem Sinne auch der Startpunkt der „Evolutionären Erkenntnistheorie“, die anschließend von dem Physiker und Philosophen Gerhard Vollmer und dem Meeresbiologen Rupert Riedl ausformuliert wurde.
Das sogenannte Böse kann als Verteidigung der angeborenen Aggressivität vieler Tierarten und des Menschen angesehen werden, diente diese doch dem Kampf ums Dasein (wie man in flacher Übersetzung Darwins Struggle for existence auf Deutsch oft sagt) und damit der Höherentwicklung. Und Die acht Todsünden enthalten auch den genetischen Verfall der Menschheit. Da scheint die Erblehre der Nazis ziemlich stark durch. Und Tausende Leser und (seltener) Leserinnen werden sich durch die Schriften von Lorenz in Richtung elitär-konservativer Standpunkte ermuntert und bestätigt gesehen haben.
6. Held der Öko-Bewegung
Nach der Emeritierung vom Seewiesener Max-Planck-Institut kehrte Lorenz wieder nach Altenberg bei Wien zurück und führte auf kleinerer Flamme seine Forschungen fort. Aber er war inzwischen so berühmt, dass er unausgesetzt zu Vorträgen eingeladen und um Stellungnahmen zu allen möglichen Fragen gebeten wurde.
In die große Öffentlichkeit trat er wieder, nun 75 Jahre alt, bei den Auseinandersetzungen um den Bau eines Kernkraftwerks in Zwentendorf an der Donau.
Er wurde zu dem prominentesten Gegner des Projekts und dürfte ausschlaggebend für den Ausgang der Volksabstimmung gegen das Projekt gewesen sein.
Sechs Jahre später später setzte er sich ebenso vehement gegen das sehr große Donau-Staudammprojekt von Hainburg, stromabwärts von Wien, ein. Er wurde der Pate des Konrad-Lorenz-Volksbegehrens, das ein Verbot von Großkraftwerken wie Hainburg und die Errichtung eines Nationalparks im Gebiet von Hainburg verlangte. Im März 1985 wurde es von über 300.000 Personen unterzeichnet, woraufhin der zuständige Verwaltungsgerichtshof den vorherigen Wasserrechtsbescheid aufhob. Es folgte der Baustopp, und noch 1986 wurde der Nationalpark Donau-Auen unter Einschluss der Hainburger Au beschlossen und gegründet. Konrad Lorenz wurde zum „Helden“ der österreichischen Umweltschützer.
7. Licht und Schatten
Über all dieser wissenschaftlichen und der späten ökologischen Glorie des Lebenswerkes von Konrad Lorenz bleibt jedoch ein schwerer Schatten. Zu seinen Lebzeiten war der Schatten vom Licht überstrahlt. Aber inzwischen dringt – auch durch die neu auftretende Sorge vor einer Schwächung der Demokratie in allen Erdteilen – die problematische Seite des berühmten Mannes wieder hervor. Die Idee, dass die Natur nur durch die gnadenlose Selektion „lernt“, und dass man die Sozialpolitik als Vehikel der „Verhausschweinung“ verunglimpfen dürfe, muss als bedrohlich angesehen werden. Leider schien Konrad Lorenz ziemlich blind für diese politischen Gefahren zu sein.
Auch auf der wissenschaftlichen Seite ist man heute über den Sozialdarwinismus von Darwin, Herbert Spencer und den Ideologen des Nationalsozialismus weit hinausgekommen. Die Nützlichkeit großer Genpools mit Millionen rezessiver Gene, die durch ihre Rezessivität vor der Ausrottung geschützt sind, war schon der Kern der neodarwinistischen „Modernen Synthese“ (7). Später hat man die genetisch-evolutionäre Rolle der phänotypischen Plastizität entdeckt (8). Und nun hat Andreas Wagner auch noch die Nützlichkeit der „Junk DNA“ als Aufbau einer genetischen Reserve-Bibliothek formuliert (9). All das sind Widerlegungen der defätistischen Auffassung von der brutalen Selektion, wie sie Konrad Lorenz im Gefolge von Darwin vertreten hatte.
Die Demokratie lebt von der Vielfalt, von der Eindämmung des „Rechts des Stärkeren“, von einem Rechtsstaat, der der Freiheit einen benignen Rahmen setzt und von der Beachtung der Menschenrechte, die im Sozialdarwinismus nicht vorkommen.
- Charles Darwin: „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“, Stuttgart 1871. Zitat mit heutiger Orthographie.
- Zitiert nach Klaus Taschwer und Benedikt Föger: „Konrad Lorenz – Biographie“, Wien 2003, S. 84–85.
- Konrad Lorenz: „Durch Domestikation verursachte Störungen arteigenen Verhaltens“,
in: Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde 59, 1940, S. 70. - 1963, Neuausgabe 1998 bei dtv.
- 1973 München und Zürich.
- 1973 München und Zürich.
- Julian Huxley: „Evolution – The Modern Synthesis“, London 1942.
- Massimo Pigliucci und Gerd Müller (2010): „Evolution – the Extended Synthesis“, Cambridge, MA 2010.
- Andreas Wagner: „Arrival of the Fittest: Wie das Neue in die Welt kommt – Über das größte Rätsel der Evolution“, Frankfurt a.M. 2015.
Veröffentlicht: 4. Dezember 2019