Alexandr Dugin
Kreuzzug gegen den Liberalismus
und Verbindungen nach Deutschland
von Andreas Umland
Der schillernde rechtsextreme Theoretiker Aleksandr Dugin, 1962 in Moskau geboren, ist heute den meisten Nationalismusforschern rund um die Welt ein Begriff. Über die Fachwelt hinaus erhielt er in den letzten Jahren erhebliche internationale Medienaufmerksamkeit. So wurde Dugin 2014 von der renommierten Washingtoner Zeitschrift Foreign Policy in deren Liste der 100 „führenden globalen Denker“ (1) unter der Kategorie „Agitatoren“ aufgenommen. Dugins Hochzeit als Ideengeber des autoritären Regimes Putins scheint zwar vorüber, er spielt aber immer noch eine Rolle als radikaler Ideologe und als Verbindungsmann zu antiwestlich-nationalistischen Gruppierungen im Ausland.
Im Kontrast zu seiner hohen allgemeinen Bekanntheit hat Dugin nur geringe akademische Anerkennung erlangt. Letzteres wünscht sich der selbsterklärte Begründer des russischen sog. „Neoeurasismus“ sehnlichst – so zumindest deutet es die Tonlage seiner zahlreichen Audio- und Videoauftritte auf russischen Internetseiten an.
1. „Neueurasier“
Dugins „neoeurasische“ Ideologie ist – entgegen ihrer Bezeichnung – nur partiell eine Fortsetzung der eurasischen Idee der russischen antikommunistischen Emigration der Zwischenkriegszeit. (2) Die klassischen Eurasier der 1920er-1930er waren eine originär russische, pannationalistische Intellektuellenbewegung mit hohem wissenschaftlichem Anspruch, welcher einige von ihnen an renommierte westliche Hochschulen führte. Sie glaubten aufgrund multidisziplinärer Forschung, einen dritten Kontinent und eine eigenständige Zivilisation – „Eurasien“ – zwischen Asien und Europa entdeckt zu haben. Das Territorium dieses autoritären, „ideokratischen“ (d. h. von politischen Ideen regierten) und christlich-orthodoxen „Eurasiens“ war, in der Vorstellung der Eurasier, weitgehend kongruent mit der Fläche der UdSSR.
Dugins „Neoeurasismus“ dagegen ist geographisch weniger klar definiert, ja nicht einmal notwendig nur auf die euro-asiatische Landmasse beschränkt. Auch ist sein ausschweifendes Theoriegebäude – im Gegensatz zum klassischen Eurasismus – mit keinerlei ernstzunehmenden empirischen Untersuchungen unterlegt. Sie ist, im Gegenteil, extrem spekulativ und mutet oft geradezu märchenhaft an. Dugins manichäische Weltgeschichte eines uralten Kampfes der See- gegen die Landmächte erscheint teils als Persiflage auf Tolkiens Welt im Roman Herr der Ringe und ähnliche Fantasy-Belletristik.
Die Bezeichnung „Neoeurasismus“ stellt auch in anderer Hinsicht einen Etikettenschwindel dar. Dugins Doktrin beruht weniger auf klassischem russischen Eurasiertum, als auf westlichen Quellen, wie dem westeuropäischen Anarchosyndikalismus, der deutschen Konservativen Revolution, der klassischen Geopolitik (v.a. Halford Mackinder und Karl Haushofer) oder dem westlichen Integralen Traditionalismus. „Neoeurasismus“ ist bei Dugin wenig mehr als eine ideologisch und geographisch flexible Chiffre für radikalen Kollektivismus, megalomanischen Neoimperialismus, unverblümten Bellizismus, fanatischen Revolutionarismus und fundamentalen Antiamerikanismus.
Eine Proklamation, wie zum Beispiel die folgende Dugins, wäre für die – freilich ebenfalls autoritär und antiwestlich eingestellten – klassischen Eurasier unmöglich gewesen:
Solange wie die Macht in den Händen der globalen Oligarchie ist, brauchen wir keinerlei Gesetze zu beachten – mit Ausnahme der Gesetze des Krieges und der Revolution. Im Übrigen regiert die globale Oligarchie selbst auf Grundlage einer neuen Ordnung, sie provoziert Konflikte und bemüht sich diese zu manipulieren. Unter solchen Bedingungen haben wir es zu tun mit gesetzwidrigen Dieben und Wahnsinnigen, deren Vernichtung die Pflicht eines jeden normalen Menschen ist, welcher seiner arteigenen Würde treu bleibt. Der Krieg ist unsere Heimat, unser Element, unser natürliches Muttermilieu, in dem wir lernen müssen, effektiv und siegreich zu existieren.“ (3)
2. Von einer Randfigur zum Medienstar
Der hochproduktive Publizist war in den späten 1980ern zunächst kurzzeitig Mitglied der berüchtigten antisemitischen Gruppe „Pamjat“ (Erinnerung) sowie Mitte der 1990er unter anderem Mitgründer der skandalträchtigen außerparlamentarischen National-Bolschewistischen Partei Russlands. Er machte sich zu dieser Zeit einen Namen als Ideengeber der postsowjetischen neofaschistischen Szene. Freilich waren die meisten seiner – im damaligen Russland – originell klingenden Termini lediglich russische Übersetzungen von in Moskau bis dato noch unbekannten Begrifflichkeiten aus dem internationalen Antiliberalismus („Tellurokratie“, „Politik des Spektakels“, „Kaliyuga“ usw. usf.). Trotz seiner schon damals aktiven Reisetätigkeit, hohen intellektuellen Ambition und enormen Schriftproduktion, verblieb er bis Ende 1990er jedoch am politischen Rand des Jelzinschen Russlands.
Dugins schrittweises Vordringen in den russischen Mainstream fiel mit dem Aufstieg Wladimir Putins und dessen Ambitionen zur Restauration der russischen Machtsphäre zusammen, die im postsowjetischen Raum ursprünglich ebenfalls unter „eurasischer“ Flagge segelten. Putins Plan mündete 2015 in die Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion als wichtigster institutioneller – wenn auch keinesfalls einziger – politischer Ausfluss des wachsenden Moskauer Neoimperialismus‘ nach Jelzins Rücktritt Ende 1999. Die terminologische Parallelität von Putins anvisierter „Eurasischer Union“ (4) (später: „Wirtschaftsunion“) zu Dugins „Neoeurasismus“ belegt allerdings – entgegen einiger dahingehender Spekulationen – keinen direkten Einfluss von Dugins extremistischen Weltveränderungsideen auf Putins restaurative Agenda.
Vielmehr gibt es in Russland seit der Jahrhundertwende eine eher indirekte und diskursive Wechselwirkung zwischen der Rhetorik sowie dem Verhalten des Putinregimes einerseits und der publikumswirksamen Propagierung rechtsextremer Ideen durch Dugin, Wladimir Shirinowskij und ähnliche russische Ultranationalisten andererseits. (5)
Die „Polittechnologen“ des Kremls steuern und fördern die Moskauer Rechtsextremisten sowie ihre Medienpräsenz je nach tagespolitischer Wetterlage. Putins Régime macht sich durch seine kommunikationspolitischen Spiele mit verschiedenen russischen Faschisten jedoch auch partiell zur Geißel der apokalyptischen Diskurse, die Dugin, Shirinowskij und Co. – als Ergebnis ihrer Förderung durch den Kreml – in der breiten Öffentlichkeit verbreiten können.
Offener noch als Shirinowskij ist Dugin ein bekennender geopolitischer Revolutionär.
Dugin gebärdet sich nicht nur, wie auch Shirinowskij, demonstrativ als Fanatiker, sondern scheint tatsächlich von einem geradezu pathologischen Nihilismus getrieben. Zwar arbeitet auch Putin – wie Dugin – an der Untergrabung der liberalen Weltordnung. Auch neigt er zunehmend zu martialischer Rhetorik, die in den vergangenen Jahren immer stärker an russische rechtsradikale Diskurse erinnerte. Der Präsident der Russischen Föderation ist allerdings eher ein autoritärer Kleptokrat als ein Verfechter totalitärer Ideokratie, wie sie Dugin vorschwebt.
Putin strebt den Erhalt beziehungsweise eine Wiederherstellung Russlands als ein Imperium an, (6) in dem sich die herrschende Gruppe systematisch bereichert und sich zugleich jeder parlamentarischen und rechtsstaatlichen Kontrolle entzieht. Dugins Pläne dagegen gehen weit über die politischen Grenzen und Systeme des ehemaligen Zaren- und Sowjetreichs hinaus. Dugin strebt die Schaffung eines vollkommen neuen Reiches, ja einer noch nie dagewesenen Weltordnung an. Trotz bestimmter Überschneidungen im Antiliberalismus Dugins und Putins etwa bei ihrer Bewertung der USA, sexueller Minderheiten, internationalistischer Ideen und anthropozentrischer Denkmodelle überwiegen daher die Unterschiede die Ähnlichkeiten zwischen ihnen.
Dugins Präsenz
Die ukrainische Orange Revolution von 2004, (7) der russisch-georgische Krieg von 2008, die Moskauer Proteste von 2011–2012, die ukrainische Revolution der Würde von 2013–2014 sowie der russisch-ukrainische Krieg seit 2014 waren Schlüsseletappen sowohl für Russlands Abwendung vom Westen (8) als auch für Dugins Aufstieg ins Moskauer politische Establishment. Die öffentliche Präsenz Dugins verlief freilich wellenförmig. Sie ist von politischen Konjunkturen sowie einer Aversion großer Teile der russischen Intelligenzija gegenüber Dugins notdürftig verschleiertem Faschismus geprägt. Nach der letzten Hochphase seiner Prominenz 2014 ist seine Medienpräsenz in den vergangenen Jahren wieder gesunken.
Und doch profitierte der radikale Amerikakritiker in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder von den eskalierenden Konfrontationen des Putinregimes mit Demokratiebestrebungen inner- und außerhalb Russlands. Sollten diese innerrussischen und außenpolitischen Konflikte anhalten oder sich weiter verschärfen, kann Dugin in Zukunft für den Kreml wieder interessanter werden. Im schlimmsten Fall könnte der „rote Faschist“ Dugin gar zum Chefideologen eines immer radikaler und militaristischer werdenden russisch-autoritären Staates aufsteigen.
3. Schmitts und Heideggers
Funktionen für Dugin
Unabhängig von seinen künftigen politischen Aussichten, ist Dugin schon heute – womöglich wie kein anderer Theoretiker ähnlicher Couleur – zu einer festen Größe sowohl seiner nationalen „patriotischen“ als auch der internationalen rechtsextremen Szene geworden. Dabei scheint dem polyglotten Agitator seine Präsenz außerhalb Russlands inzwischen wichtiger als Anerkennung daheim zu sein. Dugin kokettiert in wöchentlichen Video- und Audioauftritten unentwegt mit seinen Vorträgen im Ausland, der Veröffentlichung seines Buches „Die Vierte Politische Theorie“ in verschiedenen Sprachen oder seiner flüchtigen Bekanntschaft mit dem einflussreichen US-amerikanischen Politologen Francis Fukuyama.
Dieses und ähnliches Namedropping reiht sich in Dugins häufige öffentliche Bezugnahme auf bekannte westliche antiliberale Theoretiker ein. Dies gilt nicht zuletzt für prominente Antidemokraten der Weimarer Republik, insbesondere für Carl Schmitt sowie Martin Heidegger. Letzterer scheint seit einiger Zeit die Rolle eines intellektuellen Übervaters in Dugins Selbstverständnis eingenommen zu haben. Schmitt und Heidegger eignen sich aus mindestens drei Gründen besonders gut als Bezugsgrößen für Dugin.
Bekenntnisse zum Faschismus
Zum ersten relativieren Schmitts und Heideggers Verwicklungen mit dem Nationalsozialismus Dugins einst ungeschminkte Affinität zum Dritten Reich, seine Bekenntnisse zum Faschismus und Kooperation mit dem russischen Neonazismus.
Dugins Sympathie für das Hitlerregime war und ist für sich genommen eine unverzeihliche Fundamentalverletzung sowjetischer und postsowjetischer politischer Korrektheit. Sie wirkt jedoch im Lichte der Verstrickungen solch weltweit renommierter Denker wie Schmitt und Heidegger weniger verwerflich.
Dugin befand sich 1994 in einer kurzen Allianz (9) mit einer unverblümt nazistischen Bewegung – der Russischen Nationalen Einheit, bekannt unter der Abkürzung RNE. Die neofaschistische RNE verwendet ein abgewandeltes Hakenkreuz sowie den Hitlergruß. Die RNE war, wie auch Dugins eigener Eurasischer Jugendbund, Anfang 2014 in die Anfachung des Pseudo-Bürgerkriegs in der Ostukraine involviert. So war z.B. der erste sog. „Volksgouverneur“ von Donezk, der ukrainische Staatsbürger Pawel Gubarew, einst Mitglied sowohl der RNE als auch des Eurasischen Jugendbundes (10) – beide mit Hauptquartier in Moskau.
Auch verwendet die von Dugin 1993 mitgegründete National-Bolschewistische Partei eine Flagge, deren Farbkombination an das schwarz-weiß-rote Naziemblem erinnert. Anstatt des Hakenkreuzes bildet sie das sowjetische Hammer-und-Sichel-Symbol ab. (11) Anfang der Neunziger klassifizierte Dugin in einer seiner Frühschriften „SS-Obergruppenführer“ Reinhard Tristan Heydrich als einen „überzeugten Eurasier“ (12) – und damit als Vorläufer seiner heute so genannten Internationalen Eurasischen Bewegung. Unter dem Pseudonym „Aleksandr Schternberg“ besang Dugin in einem Gedicht Anfang der Neunziger die Wiederauferstehung von „SS-Reichsführer“ Heinrich Himmler. (13)
Revolutionäre Weltneuordnung
Zum zweiten eignen sich Schmitts und Heideggers abgehobene Ideengebäude und subversive Rhetorik in besonderem Maße zur Reformulierung des ursprünglich isolationistischen, territorial saturierten klassischen Eurasismus in eine revolutionäre Weltneuordnungsidee, die Dugin seit einigen Jahren als „Vierte Politische Theorie“ verkauft. Sowohl Schmitts allgemeinpolitischer Manichäismus als auch Heideggers introvertierte Daseinserwägungen sind aufgrund ihrer hohen Abstraktionsebene für Dugin gut zu vereinnahmen und für den postsowjetischen Kontext zu adaptieren. In seinem Besprechungsaufsatz „Dugins Heidegger und die Hoffnungen auf eine russische konservative Revolution“ (17.6.2016) (14) auf der Moskauer rechtsintellektuellen Webseite „Die Russische Idee“ schreibt der Philosophiehistoriker Andrej Lawruchin, dass „die Quasimetaphorik, Irrationalität und Suggestivität der Heideggerschen Sprache zur Entbindung der Hände Dugins“ beitrage. In seinem populären Buch „Martin Heidegger: Philosophie eines anderen Beginns“, (15) erstmals 2001 erschienen, übersetzte Dugin den deutschen Philosophen, gemäß Lawruchin, frei und legte dessen Termini willkürlich aus.
Im Ergebnis folgt die Duginsche Interpretation ihrer eigenen Logik und berührt das Denken Heideggers nur in einer allgemeinen, ungefähren und teilweise sinnentstellenden Art und Weise. Die betont engagierte Interpretation Dugins versucht eher Heideggers Philosophie in eine weitere Bestätigung seiner eigenen Ideen und Konzepte zu verwandeln, als den Sinn der Heideggerschen Philosophie zu verstehen und authentisch zu erklären“. (16)
In den Worten Dugins war Carl Schmitt „ein Vertreter der Konservativen Revolution, und entsprechend haben seine Ideen eine ganze Reihe von Überschneidungen mit der Vierten Politischen Theorie“. Dugin schreibt weiter:
Die Konzeption der ‚Rechte der Völker‘, die von Schmitt entworfen wurde, und ebenso seine Theorie der ‚Ordnung der großen Räume‘ und Imperien sind radikale Schritte über die Grenzen des anthropologischen Individualismus hinaus, auf dem die liberale Philosophie beruht. Schmitt ist fundamental, und seine Werke und Ideen fördern mannigfach die Überwindung des liberalen Diskurses. Das ist das beste, was es in diesem Bereich gibt.“ (17)
Die innen- und außenpolitischen Ordnungsvorstellungen anderer antiliberaler Ideologen liefern Dugin zwar ebenfalls originell klingende Ideen und exaltierte Konzepte. Viele dieser Formeln sind jedoch für sein zukunftsorientiertes politisches Projekt insofern von geringerem Nutzen, als sie nicht ohne weiteres auf das heutige Russland im Besonderen und das 21. Jahrhundert im Allgemeinen anwendbar sind. Schmitts und Heideggers Schriften können hingegen zeit- und raumübergreifend als Steinbruch für Dugins Gedankengebäude geplündert werden.
Stigma des Außenseiters
Zum dritten will Dugin mit seiner häufigen Bezugnahme auf die beiden umstrittenen deutschen Denker vom hohen Renommee Schmitts und insbesondere Heideggers in Wissenschaft und Kultur profitieren. Dugin wäre selbst gern ein Denker von Rang eines Heidegger – und nicht nur ein zwar international berühmt-berüchtigter, aber lediglich in antiliberalen Kreisen gefeierter Theoretiker. Dugin scheint unter seiner akademischen Isolation zu leiden und dies mit lautstarker Vereinnahmung berühmter Philosophen ausgleichen zu wollen. Sein intellektueller Außenseiterstatus als Kultfigur des rechtsextremen Milieus und seine mangelnde Akzeptanz in den Sozial- und Geisteswissenschaften behindern auch die Realisierung seines Traums von der Eroberung einer kulturellen Hegemonie für den „Neoeurasismus“ (18) im postsowjetischen Raum oder zumindest in Russland selbst.
Zwar kennzeichnet eine häufig als „eurasisch“ titulierte, neoimperialistische und antiwestliche Disposition heute einen großen Teil der regimetreuen politischen und intellektuellen russischen Elite. (19) Und Dugin sowie seine Schüler haben diesen Stimmungswandel über drei Jahrzehnte (20) mit tausenden und abertausenden traditionellen sowie elektronischen Medienprodukten befördert. Die reaktionär-neosowjetische bzw. neozaristische Einstellung der meisten Putinunterstützer in der russischen Politik, Kultur, Diplomatie und Wissenschaft ist allerdings immer noch weit vom geopolitischen Revolutionarismus und blindwütigen Bellizismus Dugins entfernt.
4. Vom „dritten“ zum „vierten Weg“
Dugins Umbenennung seiner Ideologie in „Vierte Politische Theorie“ Anfang der Zweitausender und die häufige Berufung auf Heidegger, Schmitt sowie andere antiwestliche Vordenker verfolgen offenbar das Ziel, seinen nihilistischen Plänen breitere intellektuelle und politische Akzeptanz zu verschaffen. Dugin präsentierte sich in den Neunzigern noch unbefangen als Vertreter des „Dritten Weges“ und eines neuen Faschismus. Heute insistiert er hingegen, dass er einen ausdrücklich nichtfaschistischen „vierten“ Weg vertrete.
Dugin gemäß haben die drei Theorien des Liberalismus, Marxismus und Faschismus jeweils Fiaskos erlitten. Die heutige Welt erscheine zwar – nach der Überwindung des Faschismus 1945 und des Marxismus 1991 – als vom Liberalismus beherrscht. Sowohl der Postmodernismus, die LGBT-Bewegung sowie ähnliche von Dugin als Pathologien verstandene Phänomene, als auch der Aufstieg nativistischer Populisten seien jedoch Vorboten eines baldigen Endes der westlich dominierten, liberalen Epoche. Sie markieren in der Welterklärung des russischen Neugeburtspropheten den beginnenden Niedergang des Liberalismus, ja baldigen Kollaps der modernen Welt.
„Übermensch“ und „Zar der Welt“
Dugins Alternative zur liberalen Ordnung, seine so genannte „Vierte Politische Theorie“, ist – bei genauerem Hinsehen – freilich wenig mehr als ein verklausulierter Neofaschismus. Dugin lehnt zwar den Nationsbegriff sowie einen auf den Nationalstaat fixierten Nationalismus ausdrücklich ab und verwendet stattdessen Wörter wie „Dasein“, „Volk“, „Ethnos“, „Imperium“ oder „Zivilisation“. Auch präsentiert er sich als über den politischen Lagern stehend:
Seine Zukunftsvision ist gespickt mit linksradikal anmutenden sozialen und ökonomischen Ideen wie der Abschaffung des Privateigentums, der „Unterdrückung und Vernichtung der Bourgeoise“ und Herstellung materieller Gleichheit. Gleichzeitig propagiert er jedoch einen „Hyperelitismus“, „Hyperintellektualismus“, „geistige Ungleichheit, eine Hierarchie des Geistes, eine Thearchie [Götterherrschaft], Telearchie und platonische Kasten“. Die Ökonomie muss „sich in den Händen einer regierenden geistigen Aristokratie“ befinden. Die Vierte Politische Theorie „besingt die Bauernschaft“, hat die „Entsiedlung der Städte“ zum Ziel und will den „Traditionalismus zum allgemein verpflichtenden religiösen Paradigma“ machen. Für die politische Ordnung des „Vierten Weges“ gelte: „keinerlei Demokratie (der Demos ist genauso schlecht, wie die Oligarchie und Tyrannei); keinerlei Parteien; eine Allianz der Monarchie, der Aristokratie und des Staatswesens – wie in Rom; politischer Aristotelismus und Platonismus; Prämoderne“. Das „Verhältnis [der Vierten Politischen Theorie] zum politischen Helden und charismatischen Chef“ ist dadurch charakterisiert, dass der „Übermensch im Zentrum des politischen Systems steht“, als der „Zar der Welt, das Radikale Subjekt, die direkte Herrschaft des ‘Nichtmenschen‘, der Dasein-Herrscher, der Philosoph als Herrscher“. Das Sozialmodell der „Vierten Politischen Theorie“ ist geprägt von einer „totalen Ablehnung des Individuums als Erscheinung“ und dem Ziel einer „reorganisierten spirituellen Gesellschaft als eine holistische Gesamtheit entlang der Vertikale des himmlischen Feuers“. (22)
Der neue Dugin
Der Dugin des frühen 21. Jahrhunderts ist allerdings ein in vieler Hinsicht anderer als der des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Vor allem gibt sich dieser neue Dugin heute als offener, weltläufiger und diskussionsbereiter Intellektueller, ja häufig gar als „Antifaschist“ – und nicht mehr als SS-Bewunderer.
Dugins jüngere Zukunftserwägungen sind weniger russozentrisch sowie messianistisch und nunmehr an alle Zivilisationen adressiert. Neurechten Theoretikern im Westen folgend, propagiert Dugin mittels seiner „Vierten Politischen Theorie“ ein alternatives Verständnis von „Pluralismus“ als die Idee einer geographischen Separation inkompatibler Kulturen und einer Multipolarität geopolitischer Machtzentren.
Diese biographische Entwicklung erinnert an politische Wandlungen anderer anfänglich unverhohlen faschistischer Extremisten. Alain de Benoist – intellektueller Anführer der westeuropäischen Neuen Rechten, langjähriger Kollaborateur Dugins und in vieler Hinsicht dessen Vorbild – etwa begann seine publizistische Karriere als offener Rassist. Als Kontrastprogramm zum linken Internationalismus entwickelten de Benoist und seine Mitstreiter im Gefolge der 1968er Bewegung eine so genannte „ethnopluralistische“ Ideologie, die ein „Recht auf Differenz“ proklamiert. Sie will die Integrität und das Anderssein europäischer Kultur durch Exklusion, Segregation und Deportation von „raumfremden“ Migranten bewahren.
Ähnliche Umdeutungen und Wortspiele finden sich auch bei Dugin, der heute sogar eine „antirassistische Revolution“ proklamiert. Dabei muss der russische Rechtsextremist sich jedoch nicht nur von seiner Vergangenheit als SS-Bewunderer absetzen. Dugin will auch seine eigene intellektuelle Evolution und kryptofaschistische Ideologie von derjenigen seiner westeuropäischen Vorbilder abheben. Seine „Vierte Politische Theorie“ unterscheidet sich bei genauerem Hinsehen nämlich nur durch ihren besonders unverblümten Nihilismus und Bellizismus von älteren Ideengebäuden der Konservativen Revolution und Neuen Rechten. In der Substanz sind Dugins Vorstellungen wenig originell.
Dugin versucht, seine „Vierte Theorie“ durch Mystifizierung und pseudo-akademisches Wortgeklingel als besonders profund erscheinen zu lassen. Hierbei kommen Dugin sein – im Vergleich zu seinen westlichen Konkurrenten am rechten Rand – relativ hoher politischer Status und zeitweise Professur in Moskau sowie seine zahlreichen internationalen Kontakte zugute. Auch die geringe Qualität gesellschaftlicher Debatten in den staatsnahen Massenmedien sowie die Unterentwicklung der Sozialwissenschaften an den meisten Universitäten und Forschungsinstituten Russlands kommen ihm hierbei zupass. Solche postsowjetischen Rahmenbedingungen des öffentlichen Diskurses im heutigen Russland sind zentrale Bestimmungsfaktoren seines relativen Erfolgs in Moskau.
5. Die verbleibende Unbestimmtheit
des „Vierten Weges“
In der schon zitierten zweiten russischen Ausgabe seiner richtungsweisenden Artikelsammlung „Der Vierte Weg“ bemerkt Dugin, dass „einige Aspekte“ seiner Ideologie „Ähnlichkeit mit dem politischen System des modernen schiitischen Iran“ haben. (23) Das impliziert allerdings nicht eine Abwendung Russlands von der europäischen Zivilisation:
[W]ir sind keinesfalls Feinde Europas, wir sind seine aufrichtigen und treuen Freunde. Der Westen und die Moderne – das sind zwei Bezeichnungen einer unheilbaren Krankheit. Europa andererseits ist das herrliche und in seinem Kern hochstehende Wesen, welches an dieser Krankheit leidet. Daher stellt sich die Vierte Politische Theorie die Aufgabe der ‘Befreiung Europas vom Westen und der Neuzeit’, der Rückkehr Europas nach Hause, zu seinen Wurzeln, zu seinen Quellen. Und in diesem Sinne sind die Russen, die auf dem Vierten Weg zu ihren [Quellen] zurückkehren, keinesfalls Feinde, sondern aufrichtige und verlässliche Verbündete [Europas].“ (24)
Dugins Mehrgleisigkeit in dieser und anderen Fragen ist nicht nur symptomatisch, sondern Kern seines Rebrandings seit der Jahrhundertwende. Wie auch der klassische Faschismus, ist Dugins Neofaschismus nicht nur irrational, sondern oft geradezu antirational. Bei der „Vierten Politischen Theorie“ wird eine ausdrücklich annoncierte inhaltliche Unbestimmtheit zur Methode. Dugin geht so weit, zu deklarieren:
Dieser Vierte Weg ist sogar denen nicht ganz verständlich, die ihn eingeschlagen haben und die entschieden beabsichtigen ihm zu folgen. Und wenn auch die Ziele, der Horizont und die Perspektiven offen bleiben und sich darin die größten Überraschungen verbergen mögen, so gründet und stützt sich doch solche Entschiedenheit [den Vierten Weg] zu verfolgen, auf ein schwerwiegendes Argument – eine kategorische Ablehnung der existierenden Lage und absolute Überzeugtheit davon, dass Russland, Europa und die Welt eine fundamentale geistige, kulturelle und politische Revolution nötig hat. […] Wenn wir von der Vierten Politischen Theorie sprechen, dann verweisen wir weniger darauf, was sie ist, als darauf, was sie nicht ist. Das ist das Wichtigste. Ihre Definition ist apophatisch [d. h. auf Verneinung gebaut].“ (25)
Dugin will bewusst nicht genau sagen, wohin der „Vierte Weg“ führt. Klar ist lediglich, dass es um etwas höchst Radikales geht, was nicht nur die liberale Epoche, sondern auch das, was nach ihr kommt, ablehnt.
Die Vierte Politische Theorie ist als Alternative zum Postliberalismus gedacht, aber nicht als eine ideelle Einstellung in Bezug auf eine andere ideelle Einstellung, sondern als Idee, die der Materie gegenübergestellt wird; als etwas Mögliches, das in Konflikt mit der Wirklichkeit gerät; als etwas noch nicht existierendes, was einen Angriff auf das schon existierende unternimmt. […] Die Vierte Politische Theorie – das ist das Projekt eines ‘Kreuzzuges’ gegen: die Postmoderne, die Industriegesellschaft, den sich in der Praxis realisierenden liberalen Gedanken, den Globalismus sowie seine logistischen und technologischen Grundlagen.“ (26)
Zur philosophischen Begründung dieses mystischen Planes bemüht Dugin häufig Heidegger. Dabei belässt er in seinen russischen Texten gerne dessen zentrale Begriffe, wie „Dasein“ oder „Ereignis“, im deutschen Original. In den Neunzigern hatte Dugin bereits das Wort „Endkampf“ nicht nur ausdrücklich affirmativ, sondern oft auch ohne Übersetzung aus dem Deutschen verwendet.
[I]m Zentrum der Vierten Politischen Theorie, als ihr magnetisches Zentrum, befindet sich der Vektor einer Annäherung an das Ereignis [hier in Deutsch und lateinischen Buchstaben – A.U.], in dem sich die triumphale Rückkehr des Daseins gerade in dem Augenblick verwirklicht, in welchem es die Menschheit endgültig und unwiederbringlich vergisst, ja derart, dass die letzten Spuren verschwinden. […] Aber man kann schon im Voraus behaupten, dass die Vierte Politische Theorie, gegründet auf Ablehnung des heutigen Status quo in seiner praktischen und theoretischen Dimension, in seiner russischen Ausgabe orientiert sein wird auf ein ‚russisches Ereignis‘ [hier in Deutsch und lateinischen Buchstaben – A. U.]. Auf jenes einzige und unwiederholbare ‚Ereignis‘ [hier in Russisch – A. U.], auf welches viele Generationen russischer Menschen gehofft und gewartet haben, von den Anfängen unseres Volkes bis zum heutigen Beginn der Endzeit“. (27)
6. Dugin und Deutschland
Dieser Sprachgebrauch und etliche ähnliche Statements Dugins deuten sein besonderes Interesse an Deutschland, ja eine Faszination für deutsche antiliberale Denkmodi an. Damit reiht sich der Rechtsextremist in eine lange germanophile Tradition in Russland ein, deren Geschichte bis auf die intellektuellen Vorläufer des modernen russischen Nationalismus, das Slawophilentum der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zurückgeht.
Wie auch für Dugin heute, waren für die Slawophilen und die meisten ihnen folgenden russischen Nationalisten bestimmte deutsche Denkschulen richtungsweisend. Dies gilt etwa für die Herderscher Volkstumsidee, Jenaer Romantik, klassische deutsche Philosophie, pseudowissenschaftliche Rassenkunde, Konservative Revolution, Ideen der Gebrüder Strasser oder heutige Identitäre Bewegung.
Die personellen Verbindungen Dugins zu Deutschland sind vor diesem historischen Hintergrund vielfältig. Zu den ersten deutschen Interessenten an Dugin zählte der von Markus Fernbach 2003 gegründete rechtsextreme Regin-Verlag, welcher die erste und achte Ausgabe seiner Zeitschrift „Junges Forum“ 2004 und 2008 dem russischen Neoeurasismus widmete. 2013 interviewte der Publizist Jürgen Elsässer Dugin für seine antiliberale Zeitschrift „Compact“. (28)
Stolz berichtet Dugin in der zitierten 2015er Ausgabe von „Der Vierte Weg“ über seine – in gebrochenem Deutsch auf Youtube verfügbare (29) – Präsentation der deutschen Kurzvariante des Bandes auf einer so genannten „Ideenwerkstatt“ der Burschenschaft Normannia-Nibelungen:
Konstantin Malofejew, einer der wichtigsten finanziellen Förderer sowohl Dugins als auch anderer heutiger russischer Ultranationalisten, und seine „in der Schweiz basierte Sankt-Basilius der Große-Stiftung übernahm 2015 die Kosten für eine Reise [des AfD-Kovorsitzenden Alexander] Gauland zu einem Treffen mit Dumaabgeordneten, dem Senator des Förderationsrates [Russlands] Andrej Klimow sowie dem führenden neoeurasischen Ideologen und esoterischen Faschisten Aleksandr Dugin in St. Petersburg“. (30) Dugin wird Einfluss auf den Putin-Vertrauten und ehemaligen Präsidenten der staatlichen russischen Eisenbahngesellschaft Wladimir Jakunin zugeschrieben, (31) der 2016 gemeinsam mit dem früheren Chef des Moskauer Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung Peter W. Schulze in Berlin den Think-Tank „Dialog der Zivilisationen“ gründete. (32)
Im deutschsprachigen Raum ist Dugin besonders häufig in Wien präsent. (33) Hier trat er über Jahre mehrfach bei Veranstaltungen aus dem Umfeld von Burschenschaften, FPÖ und der Identitären Bewegung auf. Bei einem von Malofejews St-Blasius-Stiftung organisierten Kongress im Jahr 2014 wurde Dugin als Hauptredner präsentiert. (34) Versammelte waren verschiedene europäische Rechtspopulisten und ‑extremisten, darunter der damalige FPÖ-Chef Karl-Heinz Strache oder Marion Maréchal, Enkelin des Front National-Gründers Jean-Marie Le Pen.
Der wichtigste Verbindungsmann Dugins in Deutschland ist seit 2013 Manuel Ochsenreiter, ein der Rechtsextremismusforschung schon lange bekannter neurechter Publizist und Redakteur. Ochsenreiter ist inzwischen in Polen aufgrund des Vorwurfs angeklagt, einen von polnischen Rechtsextremisten 2018 organisierten Brandanschlages in der Ukraine mit organisiert zu haben. Er war bis 2019 Angestellter der AfD-Bundestagsfraktion und zeitweise enger Mitarbeiter des AfD-Jugendfunktionärs, Vertrauten von Alice Weidel und Abgeordneten Markus Frohnmaier. Ein weiterer von Dugin inspirierter AfD-Referent ist Dimitrios Kisoudis, ehemals Assistent des früheren AfD-Abgeordneten Marcus Pretzell im Europäischen Parlament und seit November 2017 Mitarbeiter des AfD-Bundestagsabgeordneten Martin Hess.
Sowohl Ochsenreiter als auch Frohnmaier veröffentlichten wiederholt auf Malofejews und Dugins rechtsintellektueller Webseite „Katechon“. (35) Als institutionelles Vehikel zur Transmission Duginscher Ideen nach Deutschland war offenbar das von Frohnmaier, Ochsenreiter und dem Thüringer AfD-Abgeordneten Thomas Rudy 2016 gegründete Deutsche Zentrum für Eurasische Studien gedacht. Allerdings scheint der Verein seither kaum nennenswerte Aktivitäten unternommen zu haben und ist inzwischen womöglich nicht mehr existent. In einer Reihe von Statements, so im März 2016 in dem Videokommentar „Wahlen in Deutschland: Ein Test für Merkel“ seiner Sendung „Die Direktive Dugins“ des nationalistischen TV-Kanals „Cargrad“ (Zarenstadt), machte Dugin aus seiner Sympathie für die AfD keinen Hehl. (36)
7. Die umstrittene Bedeutung Dugins
Dugins – via Ochsenreiter oder Kisoudis – indirekter Einfluss auf eine Fraktion des Deutschen Bundestages illustriert, dass der neofaschistische Theoretiker relevant bleibt. Wichtiger als Dugins internationale Wirkung ist jedoch seine fortlaufende Aktivität in der russischen Medien- und Wissenschaftslandschaft. Auch spielt er gelegentlich als Ideengeber des autoritären Regimes Putins sowie als antiwestlicher Ideologe und Netzwerker im Ausland eine Rolle. So gab Dugin im August 2008 den entscheidenden Terminus vor, (37) mit dem Russland seine militärische Intervention in Georgien begründete – ein angeblicher „Genozid“ Tbilisis an den Südosseten. Dugin wird nachgesagt, er habe aufgrund seiner exzellenten Kontakte in Ankara (38) nach dem türkischen Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs über Syrien Ende 2015 bei der Aussöhnung Putins und Erdogans (39) Mitte 2016 eine Mittlerrolle gespielt. Dugin genießt insbesondere im Iran, (40) aber auch in diversen anderen asiatischen Staaten, erhebliche Hochachtung in bestimmten intellektuellen und politischen Kreisen.
Wie weit reicht Dugins Einfluss?
Nichtsdestoweniger sind Klassifizierungen Dugins als „Putins Hirn“ (41) oder „gefährlichster Philosoph der Welt“, (42) wie man sie gelegentlich trifft, sowohl politisch übertrieben als auch ideologisch irreführend. Wie oben angedeutet und ausführlich von Anton Shekhovtsov (Universität Wien) in Reaktion auf überzogene Einschätzungen von Dugins Einfluss dargelegt, (43) wirken Dugins Ideen in Russland lediglich mittelbar und nur während bestimmter politischer Konjunkturen sowie im Konzert mit anderen Faktoren. Zwar lässt sich eine Kongruenz zwischen Putins „Neurussland“-Idee und Dugins Plänen für die Süd- und Ostukraine oder auch zwischen Russlands Unterstützung der britischen Brexitbewegung und Dugins frühe Idee einer Loslösung des Vereinigten Königreichs von der EU in seinem Opus Magnum „Grundlagen der Geopolitik“ von 1997 erkennen. (44) Allerdings handelt es sich hier – ähnlich wie bei der Adaption des von Dugin seit den Neunzigern propagierten „Eurasien“-Begriffs durch Putin 2011 (45) – allenfalls um Korrelationen, nicht aber um eindeutige Kausalitätsbeziehungen.
Eher lässt sich, nach einer Beobachtung Sergej Sumlennys (Heinrich-Böll-Stiftung Kiyv), ein Zusammenhang zwischen den frühen Ideen des schillernden ultranationalistischen Schriftstellers Maksim Kalaschnikow (alias Wladimir Kutscherenko) und den jüngsten Taktiken des Kremls herstellen. Wie von Kalaschnikow in solchen Büchern wie „Die Schlacht um den Himmel“ (2000) oder „Vorwärts zur UdSSR‑2“ (2003) lange zuvor propagiert, unterstützt Moskau heute ungeschminkt diverse Separationsbewegungen, Rechtspopulisten und extremistische Kräfte in westlichen und prowestlichen Staaten. Wie von Kalaschnikow einst vorgeschlagen, nutzt der Kreml immer skrupelloser neue Informationstechnologien, elektronische Medien, Hacker, soziale Netzwerke, irreguläre Milizen und verdeckte Agenten, um liberale Gesellschaften zu destabilisieren.
Neben Kalaschnikow und Dugin agieren seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion weitgehend ungehindert dutzende verschwörungstheoretische Gruppen auf dem russischen Medien- und Buchmarkt. Die „Neoeurasier“ sind lediglich ein Teil einer weit größeren, hochaktiven „unzivilen Gesellschaft“ im heutigen Russland. Dugin agiert im Kontext der umfangreichen Text‑, Audio- und Videoproduktion zahlreicher antiliberaler Gruppen stärker auf der ideologischen Meta- als auf der politischen Praxisebene. Er spielt eher eine Vorreiter- als Führungsrolle. Die 1968 entstandene Neue Europäische Rechte ist mit ihrem Projekt der Erlangung einer „kulturellen Hegemonie“ in Westeuropa bislang weitgehend gescheitert. Dagegen ist es Dugin und hunderten ähnlichen postsowjetischen Agitatoren seit 1991 gelungen, das politische und intellektuelle Zentrum Russlands nachhaltig nach rechts zu verschieben.
Andreas Umland (LinkedIn) ist Nonresident Fellow am Zentrum für Europäische Sicherheit des Instituts für Internationale Beziehungen Prag, Lehrbeauftragter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, DAAD-Kurzzeitdozent an der Kyjiwer Mohyla-Akademie sowie Redakteur der Buchreihe „Soviet and Post-Soviet Politics and Society“ des ibidem-Verlags Stuttgart. Irina Schtscherbakowa (Berlin), Leonid Luks (Eichstätt), Sergej Sumlenny (Kyjiw) und Volker Weiss (Hamburg) lieferten wertvolle Kommentare zu einer früheren Version dieses Textes.
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Veröffentlicht: 18.12.2019