Richard Wagner
Der Sündenfall der Künste
von Hermann Grampp
Richard Wagner (1813 – 1883) ist mehr als nur ein deutscher Komponist. Seine Schriften, sein politisches Engagement, seine mannigfaltigen Äußerungen zu Philosophie, Geschichte, Zeitgeschehen, zu Grundsatzfragen des Lebens (bis zu Vegetarismus und Vivisektion), zeitigen eine Wirkung, die sich nicht auf die Musikgeschichte alleine reduziert. Das Problematische an Wagners Nachwirkung ist das Politische. Zum einen mischte er sich häufig ein: Er war ein aktiver Revolutionär von 1848/49, er suchte seinen Einfluss auf die Politik Ludwigs II. von Bayern geltend zu machen, er äußerte sich häufig in Publikationen zu politischen Fragen. Im Ergebnis entsteht ein komplexes literarisches Œuvre mit einer Vielzahl an Standpunkten, die sich mehr als einmal zu widersprechen scheinen und in der Rezeptionsgeschichte die absonderlichsten Blüten trieben.
Das politische Wagnerbild ist bis heute durch die nationalsozialistische Brille verzerrt und wird nicht zuletzt durch Wagners notorischen Antisemitismus geprägt. Das Geflecht dieser komplexen Rezeptionsgeschichte zu entwirren, ist nicht einfach und hat erst seit den 1970er Jahren zu einer relativ leidenschaftsfreien Wagnerliteratur geführt. Das Besondere am Fall Wagner ist die Dehnbarkeit seines Vermächtnisses: wie bei Nietzsche (und Hegel) gibt es eine „linke“ und eine „rechte“ Rezeptionsschiene. Die linke setzte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch und ist die heute dominante. Die rechte beherrschte den Wagnerdiskurs in Deutschland (keinesfalls im Rest der Welt) bis 1945 und ein wenig darüber hinaus. Diese Entwicklungslinie und deren zuweilen fatale Wirkung stehen im Fokus dieser Betrachtungen.
1. Wagners Leben und Werk
Richard Wagner, geboren am 22. Mai 1813 in Leipzig, wuchs in einem Dresdner Künstlerhaushalt auf. Sein Stiefvater Ludwig Geyer war Schauspieler, Carl Maria von Weber häufiger Gast der Familie, sein Onkel Adolf Wagner Privatgelehrter, der mit Goethe, Schiller, Fichte und Tieck in Kontakt gestanden hatte. In diesem Milieu entdeckte er als Heranwachsender seine Leidenschaft für Musik und Drama, für Beethoven und Shakespeare, das Dioskuren-Gestirn, das sein ganzes künstlerisches Leben prägen und gleichsam als Basis dienen sollte für die Philosophie einer Vereinigung symphonischer Musik mit der dramatischen Sprengkraft der Shakespearschen und klassischen Tragödie.
Nachdem er das musikalische und kompositorische Rüstzeug beim Leipziger Thomaskantor Theodor Weinlig erworben hatte, durchlief Wagner erste musikalische Ämter und wurde im Jahre 1843 königlich-sächsischer Hofkapellmeister in Dresden, zu jenem Zeitpunkt einer der angesehensten und wichtigsten musikalischen Posten Europas. In derselben Phase sicherte er sich mit den Uraufführungen der frühen Werke „Rienzi“ (1842), „Der fliegende Holländer“ (1843) und „Tannhäuser“ (1845) den Ruf eines erfolgreichen, aufstrebenden Komponisten. Wagner hätte sich nun mit gut 30 Jahren bereits auf dem Gipfel wähnen können – so zumindest die dezidierte Meinung seiner Ehefrau Minna Planer (Hochzeit 1836) –, in jedem Falle in einer komfortablen Position, die auf Jahrzehnte Auskommen und Freiraum für eigene Kompositionen garantierte.
Es ist symptomatisch für Wagners Charakter, dass das Gegenteil eintrat und die aktive Arbeit am Theater ihn zunehmend in die Frustration trieb: Er sah nur die Unzulänglichkeiten eines aristokratisch geprägten Theaterbetriebs, der eine Gesellschaftsform geworden war und aufgehört hatte, eine Kunstform zu sein. In ihm wuchs der Drang nach radikaler Theaterreform, was sich explosiv mit den frühsozialistischen Ideen seiner Zeit paarte. Das einschneidende Erlebnis in Wagners Leben war 1848/49. Er sprang entschlossen auf den Zug der Revolution und war bis zum Dresdner Maiaufstand 1849 aktiv beteiligt, riskierte ohne Skrupel seine herausragende musikalische Position und schien zum ersten Mal in seinem Leben in einer Sache völlig aufzugehen: als Redner, Reisender und Publizist, Seit an Seit mit prominenten Mitstreitern wie Michail Bakunin. Eine seiner zahlreichen radikaldemokratischen Äußerungen dieses turbulenten Jahres betrifft die Abschaffung der ersten Kammer, der Vertretung des Adels:
Wagner ereilte das Schicksal vieler Revolutionäre: Er wurde steckbrieflich gesucht und ins Zürcher Exil getrieben (1849–1859), wo er zunächst seine Gedanken und Erfahrungen in einer Reihe von Aufsätzen verarbeitete, die Fortsetzung der Revolution mit anderen Mitteln: „Die Kunst und die Revolution“ (1849), „Das Kunstwerk der Zukunft“ (1850), vor allem „Oper und Drama“ (1851). In diesen „Zürcher Kunstschriften“ etablierte Wagner seine Ideen zur Revolutionierung des Opernbetriebs, der Kunst und damit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Wiederzusammenführung der seit der Antike zersplitterten Künste im Musikdrama, das gleich den attischen Tragödien in Kunstfesten der neuen, postrevolutionären Gesellschaft aufgeführt werden sollte, bildete den Kern seiner Theorie des „Gesamtkunstwerks“.
Eine Schrift, die in diesen zeitlichen Kontext gehört, ist der im September 1850 unter Pseudonym publizierte Aufsatz „Das Judentum in der Musik“, der zwischen einer Debatte um die notwendige Emanzipation der Juden (ähnlich Marxens „Zur Judenfrage“) und seinem Charakter als beispielloses Dokument des modernen Antisemitismus oszilliert.
Die eigentliche desaströse Wirkung dieser Schrift entfaltete sich jedoch erst durch die abermalige Publikation im Jahre 1869 unter Klarnamen, verschärft und erweitert, begleitet durch ein als Brief getarntes ellenlanges Nachwort.
Nach der theoretischen Standortbestimmung machte sich Wagner an die Umsetzung seines vierteiligen Mammutwerkes „Der Ring des Nibelungen“ (bestehend aus den Teilen „Das Rheingold“, „Die Walküre“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“), das mit Unterbrechungen zwischen 1848 und 1874 entstand. Als Wagner diese Arbeit im Jahre 1857 unterbrach, „schob“ er gleichsam zwei Kompositionen ein, die hochromantische Todes- und Nachttragödie „Tristan und Isolde“ (1865) sowie sein einzig heiteres Stück, wenngleich tief durchsetzt von deutscher Renaissance- und Reformationsmelancholie: „Die Meistersinger von Nürnberg“ (1868).
Parallel trat, nach Jahren der Rastlosigkeit, 1864 die Wende in Wagners Leben ein: Er wurde überraschend an den Hof des neuen bayerischen Königs Ludwigs II. berufen und war von nun an aller materieller Sorgen enthoben. Zwar musste er München bald wieder verlassen, da er sich zu impulsiv in die Politik des Königreiches eingemischt hatte, blieb aber durch die Unterstützung Ludwigs von nun an pekuniär sorgenfrei. Seine letzte Lebensphase war geprägt von idyllischen Jahren in Tribschen am Vierwaldstätter See (1866 – 1872), der Liebesbeziehung zu seiner späteren Frau Cosima Wagner, mit der er drei Kinder zeugte, als sie noch mit dem Dirigenten Hans von Bülow verheiratet war, und dem Umzug nach Bayreuth, wo er mit dem Bau seines Festspielhauses und den ersten beiden Festspielen 1876 („Der Ring des Nibelungen“) und 1882 („Parsifal“) sein Lebenswerk krönte. Am 13. Februar 1883 verstarb er in Venedig und wurde fünf Tage später im Garten seiner Bayreuther Villa Wahnfried beigesetzt.
2. Politische Schriften
Neben den politischen Essays und Äußerungen der Revolutionszeit von 1848 und dem fatalen Aufsatz „Das Judentum in der Musik“ (1850/1869) hat sich Wagner ab 1864 regelmäßig in „weltanschaulichen“ Schriften geäußert: „Über Staat und Religion“ (1864), eine Revision seiner Zürcher Kunstschriften in einer durchaus opportunistischen monarchistischen Wendung hin zum neuen Gönner Ludwig II. „Deutsche Kunst und deutsche Politik“ (1868), ein Rundumschlag zur deutschen Kulturgeschichte mit der Erzählung der „Wiedergeburt des deutschen Geistes“ im 18. Jahrhundert, des folgenden Niedergangs und der Notwendigkeit der Wiederbelebung durch den modernen aufgeklärten Monarchen (Ludwig II.) und vor allem durch Wagner selbst. In dieser Essayfolge tritt auch erstmals der von Thomas Mann in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ so prononcierte Gegensatz von deutscher „Kultur“ und französischer „Zivilisation“ in Erscheinung. „Was ist deutsch?“, entstanden 1865, steht im gleichen Kontext, nimmt aber bei Erstpublikation 1878 eine dezidiert anti-preußische Haltung ein, die sich in der ersten Version noch nicht findet.
Die letzte große Schrift „Religion und Kunst“ (1880) ist eine Art Summa von Wagners Nachdenken über die Kunst und entwickelt den Gedanken der „Regeneration“, der die Menschheit aus der Verderbnis von Selbstzerstörung, Rüstung und Kriegsvorbereitung retten könne, indem er einerseits auf eine Verbindung von Vegetariern, Tierschützern und „Mäßigkeitsvereinen“ (gegen die „Pest der Trunksucht“) setzt, zum anderen die Rettung in der Kunst und namentlich der „heiligen Musik“ sieht. Das treffendste Zitat aus dieser Schrift fasst Wagners Zielsetzung zusammen und dient gleichsam als Motto für die äußerst dehnbare Interpretation, die Wagners Epigonen des „Bayreuther Kreises“ aus dem schriftlichen Erbe des Meisters abzuleiten wussten:
3. Wagners Wirken
Nach Wagners Tod waren seine Werke in der Welt und wurden von den Epigonen verwaltet. Bayreuth wurde wider Wagners Willen zu einer Art musikalischem Museum, das Wagners vermeintlich letztes Wollen zu wahren wähnte, tatsächlich aber künstlerisch auf der Stelle trat. Jedes Regiedetail Wagners, jede Äußerung des Meisters wurde in Marmor gemeißelt und gerann zur unumstößlichen künstlerischen Wahrheit, zur Wagnerschen Heiligen Schrift. Dies lief Richard Wagners Hauptdevise:
„Kinder macht Neues! Neues! Und abermals Neues!“
diametral entgegen. Die Wagnerianer, allen voran die Witwe und Erbverwalterin Cosima Wagner, waren Wagnerianischer als der Papst.
Dies hatte auch politisch-weltanschauliche Folgen. Der so genannte „Bayreuther Kreis“ wurde zum ideologischen Zentrum einer „rechten“ Vereinnahmung Wagners in den Jahrzehnten nach seinem Tod. Zum Teil ging die Entwicklung noch von Wagner selbst aus: die Hauspostille „Bayreuther Blätter“ wurde 1878 von ihm ins Leben gerufen, viele der späteren Autoren rekrutierte er noch persönlich. In der Folgezeit sollte die Zeitschrift zum intellektuellen Hauptorgan dieses Zirkels werden. Durch die Person Hans von Wolzogens (1848 – 1938) wurde zudem eine biographische Kontinuität hergestellt, da Wolzogen während der gesamten Editionsgeschichte der Bayreuther Blätter (1878 – 1938) Herausgeber blieb und so eine direkte Brücke von Wagners Lebzeiten bis zum Nationalsozialismus bildet.
Der innere Kreis des Periodikums bestand aus den Autoren Wolzogen, Heinrich von Stein, Carl Friedrich Glasenapp, Henry Thode, Ludwig Schemann und Houston Stewart Chamberlain, die dort ihre Sicht auf Wagner zementierten. Eine „Bayreuther Weltanschauung“ wurde entwickelt, die den Schlüsselbegriff der „Regeneration“ ins Zentrum ihrer Überlegungen rückte. Houston Stewart Chamberlain präsentierte 1895 seine Bayreuther Sicht auf die „drei Hauptbestandteile“ von Wagners Regenerationsbegriff:
1. Die Annahme eines „ursprünglichen gesunden Naturzustandes“,
2. Die Annahme eines „Verfalles aus diesem Zustand und einer progressiven Entartung“, und
3. „die Lehre, dass einzig und allein in einer Rückkehr zu jenem Zustande des Ewig-Natürlichen und Rein-Menschlichen, d.h. zur Natur, das Heil zu hoffen sei“. (3)
Aus einer solchen recht allgemeinen Interpretation von Wagners „Lehre“ lässt sich alles und nichts ableiten. In der Folgezeit überführten die Bayreuth-Jünger das Wagnerbild des Kaiserreiches in ein deutlich völkisch-antisemitisches Fahrwasser, mit Folgen für die Wagner-Interpretation bis ins Dritte Reich. Um diese Sicht auf Wagner zu festigen, bedurfte es einiger Korrekturen in Wagners Vita, so musste etwa die revolutionäre Vergangenheit des Komponisten verharmlost, wenn nicht totgeschwiegen werden. Ein Schleier legte sich über viele Details in Wagners intellektueller Biographie, die erst viele Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Forschung vom Schutt der Rezeptionsgeschichte befreit werden konnten.
Ludwig Schemann, der Übersetzer Gobineaus, war einer der wichtigsten Propagandisten der Idee einer überlegenen „arischen Rasse“ in Deutschland und hielt engen Kontakt mit Vertretern des politischen Antisemitismus und dem Alldeutschen Verband (gleichwohl ging Schemann, der 1938 starb, im Gegensatz zu Chamberlain auf Distanz zum Nationalsozialismus). Houston Stewart Chamberlain, der zunächst mit einer großen Wagner-Biographie (1895) in die Öffentlichkeit trat, setzte in vielen Aufsätzen, vor allem in seinem Hauptwerk „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ (1899), den rassistischen und antisemitischen Gedanken in den Kontext eines Wagnerschen Erbes. Weitere Kampfbegriffe aus dem Vokabular des Bayreuther Kreises betrafen ein „arisches Christentum“ und den „deutschen Protestantismus“, jeweils im engen Schulterschluss mit einer mächtig anschwellenden antisemitischen Bewegung. Diese Gemengelage bestimmte den ideologischen Wagnerdiskurs im Kaiserreich.
Neben dieser „deutschen Linie“ gab es eine ähnliche Entwicklung in der österreich-ungarischen Doppelmonarchie mit Georg Ritter von Schönerer als prominentestem Vertreter. Er hob die „Alldeutsche Bewegung“ aus der Taufe und war 1890 an der Gründung des „Neuen Richard Wagner-Vereins zu Wien“ beteiligt, in dem radikal antisemitische Journalisten wie Emil Maria Steininger und Josef Cerny Mitglieder waren – letzterer 30 Jahre später Kulturredakteur im „Völkischen Beobachter“. Schönerer verkörperte eine Mischung aus Wagnerismus und antisemitischem Deutschnationalismus, dessen Hauptziel der Anschluss an das „deutsche Mutterland“ war.
Die ideologische Wirkung Wagners im deutschsprachigen Raum wirkte um 1900 durch diese beiden Hauptströmungen fatal und bildet auf diese Weise eine direkte Brücke zum reaktionären Wagnerbild der Weimarer und nationalsozialistischen Zeit.
Die wenigen deutschsprachigen Gegenstimmen vor dem Ersten Weltkrieg waren einsame Rufer in einem lauten, reißenden Strom und spielten in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle: Heute zählen vor allem Friedrich Nietzsche und Thomas Mann mit ihren messerscharf-skeptischen Analysen pro und contra Wagner zu den brillantesten Wagnerkritikern aller Zeiten. Auch im Habsburgerreich gab es zarte Ansätze eines „linken“ Wagnerbildes um Engelbert Pernestorfer und Victor Adler. Den Zeitgenossen waren Nietzsche und Thomas Mann nicht unbekannt, diese blieben aber dennoch leise Stimmen in einem lauten Getöse, das Wagners Musikdramen als Inbegriff eines nationalen Kunstwerks verstand und eine neue deutsche Suprematie im Reich der Kunst auf Jahrzehnte und Jahrhunderte zu verkünden wusste.
Auf sehr eigenartige Weise herrschte im restlichen Europa, zuvörderst in Frankreich, eine völlig andere Sicht.
In Paris wurde Wagner infolge von Charles Baudelaires berühmtem Aufsatz in Verteidigung Wagners von 1861 als gefeierter Vorreiter der neuesten Kunstströmungen Symbolismus und Décadence gesehen, sein Einfluss war in sämtlichen Bereichen der Kunst – von der Musik über die Literatur bis zur Malerei – zu spüren, wodurch ein Wagnerbild entstand, das jenem der rechtsnationalen Kreise im deutschsprachigen Raum diametral entgegenstand: Wagner als der europäische Künstler par excellence, als die Speerspitze der Avantgarde im Zentrum der globalen Kunst selbst, in Paris.
4. Vom Kaiserreich nach Weimar, vom „Bayreuther Kreis“ zum „Hort der Reaktion“
Die Wagner-Rezeption in ihrer politischen Dimension ist, wie alle komplexen Vorgänge der Geschichte, von Widersprüchen gekennzeichnet. So wirkt es wie eine Ironie des Schicksals, dass die Bayreuther Festspiele erst während der Weimarer Republik zum Hort der Reaktion wurden. Es muss verwundern, dass der deutschsprachige Wagnerdiskurs der Kaiserzeit zwar vom völkisch-antisemitischen Bayreuther Kreis dominiert war, das Publikum der Bayreuther Festspiele aber – typisch für das kulturelle Europa vor 1914 – international zusammengesetzt war. Auch waren die meisten der Autoren der Bayreuther Blätter durchaus weltgewandt und pflegten engen Kontakt mit Festspielgästen aus aller Welt. Der Schlüssel zum Verständnis liegt im kulturellen Bruch des Ersten Weltkriegs und seinen politischen Folgen für die deutsche Nachkriegszeit: Die Autoren des Bayreuther Kreises (und nicht nur sie, etwa auch Thomas Mann in den „Betrachtungen“) vereinnahmten Wagner als den Repräsentanten des Deutschen, der „Kultur“, im Völkerringen gegen die Feinde aus dem Reich der „Zivilisation“.
Auch mussten Wagners Bühnenwerke, vor allem der „Ring“, als Erklärungsmuster des Weltkrieges herhalten: der unbescholtene deutsche Siegfried gegen die geldgierigen Nibelungen Alberich und Mime.
Hierdurch erfolgte die eigentliche politische Radikalisierung des Wagnerismus als Massenphänomen, dies konnte nicht ohne Auswirkung auf die politische Rechte nach 1918 bleiben. Gezeichnet durch die Erfahrung des Weltkrieges, getragen von der Erregung gegen den „Schandfrieden von Versailles“ und gegen die verhasste Republik sammelten sich bei Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele im Jahre 1924 die Rechtsnationalen um Wagner als den Propheten einer goldenen Zukunft, die es zurückzuerobern galt.
Erst in diesem Moment entfaltete die reaktionäre Wagnerinterpretation ihre gesamte desaströse Kraft: In den späten 1920er Jahren wurde Bayreuth zum Sammelbecken der völkischen und antisemitischen Rechten und der Gegner der Republik, wogegen niemand, am wenigsten die Familie Wagner selbst einschritt: Der Festspielleiter Siegfried Wagner war früher Sympathisant, seine Frau Winifred (Hochzeit 1915) gar aktive Anhängerin des Nationalsozialismus, viele Jahre vor der „Machtergreifung“ Hitlers im Jahre 1933.
5. Bruder Hitler
1925 befand sich unter den Festspielgästen auch Adolf Hitler, der bei seinem ersten Besuch in Bayreuth 1923 im Hause Wagner vorstellig geworden war. Der sieche Chamberlain auf dem Krankenbett salbte ihn bei diesem Besuch zur neuen Hoffnung Deutschlands, so dass Hitler später verklärend behaupten konnte, dieser Moment wäre der entscheidende Übergang einer von Wagner gestellten Aufgabe an ihn gewesen. Wagner und Chamberlain hätten „in Bayreuth das Schwert [geschmiedet], mit dem wir heute fechten.“
Es muss aber dennoch frappieren, dass Hitler nur selten Wagner zur politischen Argumentation in Anspruch nahm, sich zudem bei seinen Äußerungen niemals auf Wagners Antisemitismus bezog. Den Schlüssel zu diesem Mysterium bietet Hans Vaget in seinem bahnbrechenden Buch „Wehvolles Erbe“, in dem er darlegt, dass Hitler in seinem Selbstbild als Künstler Wagner zum verschleierten Leitstern seiner gesamten (auch politischen) Vita machte. (4) Eine Art impliziter Konsens jener Zeit waren etwa die „Judenkarikaturen“ (Theodor Adorno) in Wagners Opern.
Von Zeitgenossen wurden gewisse Charaktere in Wagners Werken häufig als jüdische Karikaturen gelesen.
Für den jüdischen österreichischen Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler war die Figur des Mime (anlässlich einer Aufführung von „Siegfried“ an der Wiener Hofoper 1898) wie selbstverständlich die „von Wagner gewollte Persiflage eines Juden“. Die Figur des Alberich („Ring des Nibelungen“) galt als der „Börsenjude“, ebenso wurde die Figur des Beckmesser in den „Meistersingern von Nürnberg“ oft als jüdische Karikatur verstanden. Hitler und seine Zeitgenossen mussten nicht darüber sprechen, man „wusste Bescheid“, wie bei einer Hundepfeife, deren Ton nur von Eingeweihten gehört werden kann. Die Frage antisemitisch kodierter Opernfiguren ist in der Forschung heute umstritten, in der Praxis wird diese Sicht jedoch kritisch umgesetzt wie etwa jüngst in Barrie Koskys Inszenierung der „Meistersinger von Nürnberg“ bei den Bayreuther Festspielen 2017.
Unter Hitler wurde Bayreuth zum quasi-nationalen Staatstheater (was Wagner für 1876 von Bismarck erhofft, aber nicht erreicht hatte). Doch auch hier ist die Geschichte nicht schwarz-weiß, sondern eine unendliche Schattierung von Graustufen: Zwar wurde Wagner als einer der herausragenden Kulturgrößen der deutschen Vergangenheit gefeiert, aber es gab in der nationalsozialistischen Führung neben Hitler, Goebbels und Speer kaum jemanden, der sich tatsächlich für Wagner begeisterte: man ging recht unwillig nach Bayreuth, man tat es, weil Hitler es verlangte. Dennoch hat sich vor allem durch die persönliche Nähe Hitlers zur Familie Wagner seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Bild festgesetzt, das Wagner zum Kulturhelden der nationalsozialistischen Epoche beförderte und seine Musik zu einer Art Soundtrack des Dritten Reiches werden ließ, obwohl während der Nazi-Diktatur Verdi viel häufiger an deutschen Opernhäuser zu hören war als Wagner.
6. Fazit nach 1945: „dehnbare Interpretation“
Die Zeit einer dominanten Rezeption „von rechts“ war nach 1945 eigentlich vorbei. Was die politische Sicht auf Wagner betrifft, so herrschte zunächst ein bundesrepublikanischer Verdrängungsmechanismus vor, bis auch Wagner eine Art „1968“ erfasste und der „linke Wagner“ peu à peu freigelegt wurde (ein Diskurs, der in der DDR freilich seit den 1950er geführt wurde, allerdings aus ideologischen Gründen und staatlich gesteuert).
Udo Bermbach hat das schwer entwirrbare Dickicht der vermeintlichen Widersprüche in Wagners politischem Denken am scharfsinnigsten durchdrungen: Er hat es vermocht, einen roten Faden zu destillieren, der die Einheit der politischen Vita im Geiste des Revolutionärs von 1848 nachweist. (5) Das Verhängnisvolle an Wagners Wirkungsgeschichte ist unter anderem, dass sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert nur die Rechte seiner angenommen hatte, da die Linke offenbar keinen Platz für Wagners Kulturbegriff hatte.
Auch wenn sich die Forschung inzwischen einig ist, dass die nationalistisch-völkische Interpretation nicht Wagners eigenen politischen Überzeugungen entspricht, ist nicht von der Hand zu weisen, dass Wagners Wirkung auf eine rechte Lesart im Bayreuther Kreis und an anderen Orten schlicht der Fall war. Wagners Einfluss auf das antiliberale, antidemokratische Lager der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beruht weniger auf einer tatsächlichen Vordenkerrolle, sondern entstammt einem völkisch-nationalistischen, antisemitischen Wagnermilieu, das sich im Sinne des Rezeptionsbegriffs von Karl Robert Jauss aus Wagners Werken und Schriften seinen eigenen Wagner zurechtzimmerte.
Dies muss als die fatale Wirkung Wagners auf das reaktionäre Milieu im späten 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesehen werden: Die völkischen und antisemitischen Kreise nutzten jene von Wagners Äußerungen, die aus ihrer Sicht „anschlussfähig“ (Hans R. Vaget) erschienen. Es muss auch als Versagen der Linken gesehen werden, dem nicht effektiv entgegengewirkt zu haben. Seit George Bernard Shaws fulminanter Sicht auf Wagners „Ring“ als Metapher der antikapitalistischen Revolution („Siegfried Bakunin“) war diese Meinung in der Welt („The Perfect Wagnerite“, 1898). Es gab allerdings nur wenige Stimmen, die den „linken Wagner“ vor 1945 zu verteidigen suchten.
Einer dieser Hellsichtigen war der Schweizer Publizist und Redakteur der liberalen „Frankfurter Zeitung“, Bernhard Diebold. In seinem Pamphlet „Der Fall Wagner. Eine Revision“ (1928) berichtet er von seiner Verblüffung in Bayreuth:
Diebold hält fest, dass „die Linkspresse vor dem geistpolitischen Phänomen Wagners eine nicht weniger fatale Gedankenlosigkeit bewiesen [hat]“, und stellt die zugespitzte Frage: „Ist man so grenzenlos politisch klug, dass man den Wagner mit dem Chamberlain ausschüttet?“
Eine Gedankenlosigkeit, die erst 50 Jahre später allmählich korrigiert wurde.
- Richard Wagner: „Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtum gegenüber?“ in: Ders.: „Dichtungen und Schriften“, Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a. M. 1983, S. 211.
- Richard Wagner: „Gesammelte Schriften und Dichtungen“, 2. Auflage, 9. Band; Leipzig 1888, S. 263.
- Houston Stewart Chamberlain: „Richard Wagners Regenerationslehre“ in: Bayreuther Blätter 1895, S. 170ff., hier S. 174.
- Hans Rudolf Vaget: „Wehvolles Erbe – Richard Wagner in Deutschland. Hitler, Knappertsbusch, Mann“, Frankfurt a.M. 2017.
- Udo Bermbach: „Der Wahn des Gesamtkunstwerks – Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie“, 2. Auflage, Stuttgart/Weimar 2004.
- Bernhard Diebold: „Der Fall Wagner – Eine Revision“, Frankfurt a. M. 1928, S. 7.
Veröffentlicht: 15. November 2019