Botho Strauß

Tra­gi­scher Verrat an der Freiheit

von Thomas Assheuer

Aus Sicht der rechts­in­tel­lek­tu­el­len Szene in Deutsch­land ist der Schrift­stel­ler Botho Strauß ein wahrer Glücks­fall. Für sie ist er nicht nur ein spi­ri­tus rector, sondern zugleich ein Schar­nier ins bür­ger­li­che Lager, ein Tro­ja­ni­sches Pferd für den Ideen­trans­fer in die Zita­delle des libe­ra­len Kul­tur­be­triebs­bür­ger­tums. (1) Zu Recht zehrt Strauß vom Ruhm der frühen Jahre, und die Eso­te­rik seiner For­mu­lie­rungs­kunst garan­tiert ihm anhal­tende Auf­merk­sam­keit im distink­ti­ons­ge­trie­be­nen Kul­tur­be­trieb. Auch wenn seine Dramen heute kaum mehr gespielt werden, so gehören sie doch zum unver­ges­se­nen Reper­toire der alten Bun­des­re­pu­blik und sind moderne Klas­si­ker. Stücke wie „Bekannte Gesich­ter, gemischte Gefühle“, „Tri­lo­gie des Wie­der­se­hens“ oder „Groß und klein“ wurden von der Kritik gefei­ert und haben sich ins Gedächt­nis der Thea­ter­be­su­cher ein­ge­gra­ben. Strauß, 1944 in Naumburg/​Saale geboren, prägte das melan­cho­li­sche Lebens­ge­fühl einer Gene­ra­tion, die mit der kri­ti­schen Theorie Adornos, Hork­hei­mers und Mar­cu­ses groß gewor­den war, den Glauben an eine wohl­mei­nende his­to­ri­sche Dia­lek­tik und die baldige Ankunft der erlö­sen­den Utopie jedoch ver­lo­ren hatte.
Ohne Dia­lek­tik denken wir auf Anhieb dümmer; aber es muß sein: ohne sie!“
(PP, S. 115)
Kaum ein Buch spie­gelt Strauß’ postu­to­pi­sche Haltung besser als seine Noti­zen­samm­lung „Paare, Pas­san­ten“ aus dem Jahre 1981. Rasch erlangte sie Kult­sta­tus und wurde als zeit­dia­gnos­ti­sches Meis­ter­werk gefei­ert, als neue Minima Moralia (Peter von Becker). Strauß, der es bereits als Thea­ter­kri­ti­ker zu einiger Bekannt­heit gebracht hatte, galt nun als Stimme der lebens­ge­schicht­lich ernüch­ter­ten Acht­und­sech­zi­ger – als ein ana­ly­tisch Hoch­be­gab­ter, der sich über die Auf­klä­rung auf­ge­klärt hatte und nun jen­seits von links und rechts schrieb, was im Stadium einer ein­ge­fro­re­nen Geschichte noch zu schrei­ben war. Mikro­sko­pisch genau in der Analyse, mit einem abso­lu­ten Gehör für psy­cho­so­zia­les Leiden und der pre­kä­ren Lage eines „tatenlose(n), überinformierte(n) Bewußtsein(s), das nicht mehr in der Lage ist, Wunsch, Idee, Erin­ne­rung zu pro­du­zie­ren“ (PP, S. 195).
Strauß war ohne Frage das, was man einen freien Geist nennt, und nichts deutete damals darauf hin, dass er einmal zum Par­tei­gän­ger des rechten Anti-Libe­ra­lis­mus kon­ver­tie­ren sollte, zum Kron­zeu­gen völ­ki­scher Intel­lek­tu­el­ler und Demo­kra­tie­ver­äch­ter. Und doch ist dieses Rezep­ti­ons­schick­sal kein Zufall, denn Strauß selbst hat es her­aus­ge­for­dert. Er hat sich als Schrift­stel­ler und poli­ti­scher Intel­lek­tu­el­ler in erstaun­lich kurzer Zeit radi­ka­li­siert, und als er 1993 seinen Essay „Anschwel­len­der Bocks­ge­sang“ in der pro­gram­ma­tisch rechts­ra­di­ka­len Zeit­schrift „Der Pfahl“ (Matthes & Seitz) ver­öf­fent­lichte, konnten ein­schlä­gige Milieus das Pam­phlet durch­aus so ver­ste­hen, wie es womög­lich ver­stan­den werden wollte: als Beken­ner­schrei­ben eines Rene­ga­ten, der Anschluss sucht an die Elite der Wis­sen­den, an jene „Tie­fen­den­ker“ wie Martin Heid­eg­ger, Ernst Jünger oder Julius Evola, die die Kern­fäule der libe­ra­len Moderne angeb­lich schon gero­chen hatten, als diese noch sie­ges­si­cher ihrer Zukunft ent­ge­gen­eilte.
Die alles ent­schei­dende Frage lautet natür­lich, welche his­to­ri­schen Erfah­run­gen und intel­lek­tu­el­len Motiv­ver­schie­bun­gen es waren, die diesen unge­wöhn­li­chen Schrift­stel­ler in einen unmiss­ver­ständ­li­chen Anti-Libe­ra­len ver­wan­delt haben. Was hat den Zeit­dia­gnos­ti­ker, Bühnen- und Roman­au­tor Botho Strauß zu einem, vor­sich­tig gesagt, Demo­kra­tie­kri­ti­ker mit defi­ni­tiv unkla­rem Ver­hält­nis zu libe­ra­len Frei­hei­ten werden lassen?

1. Der Thea­ter­kri­ti­ker Botho Strauß

Um die Strauß’sche Selbstra­di­ka­li­sie­rung zu ver­ste­hen, ist es ratsam, mit seinen scharf­sin­ni­gen Kri­ti­ken und Essays zu begin­nen, die er als junger Rezen­sent in der Zeit­schrift „Theater heute“ ver­öf­fent­licht hat (2). Wer diese Texte liest, spürt sofort die emi­nente Bega­bung, die frap­pie­rende Urteils­si­cher­heit und unge­meine Bele­sen­heit eines Autors, der keinen Unter­schied machen möchte zwi­schen einer ana­ly­ti­schen und einer ästhe­ti­schen Kritik. Seine Rezen­sio­nen waren, heute kaum mehr vor­stell­bar, mit Theorie gesät­tigt und zeigten kei­ner­lei Scheu vor dem Kom­ple­xen, Schwie­ri­gen, Abgelegenen.

Anfangs wirkt Botho Strauß in seinen Thea­ter­re­zen­sio­nen wie ein Suchen­der, er sieht alles Mög­li­che, er bedenkt und ver­wirft. Doch als er den Stücken Peter Handkes begeg­net, scheint – nach kurzem Zögern und einem unmiss­ver­ständ­li­chen Verriss – seine Suche ein Ende zu haben. Der junge Öster­rei­cher fas­zi­niert ihn, denn mit ihm teilt Strauß ein lei­den­schaft­li­ches Inter­esse an der men­schen­for­men­den Macht der Sprache.

Mit großer Prä­zi­sion zeige Handke, wie das Indi­vi­duum durch gesell­schaft­li­che Sprach­mus­ter dis­zi­pli­niert, wie es ab- und zuge­rich­tet wird. Die Gram­ma­tik der öffent­li­chen Sprache prägt die „Gram­ma­tik“ des pri­va­ten Lebens.

Dass die gesell­schaft­li­che Sprache, ihr Vorrat an welt­erschlie­ßen­den Bildern und kom­mu­ni­ka­ti­ven Meta­phern den Raum indi­vi­du­el­ler Erfah­rung for­ma­tiert: Das ist der Leit­fa­den, anhand dessen Strauß fortan das Büh­nen­ge­sche­hen ver­folgt. Immer wieder begeg­net er in deut­schen Thea­tern ekla­tant sprach­lo­sen Figuren, der Rezen­sent erlebt sinn­lose Elo­quenz und red­se­li­ges Ver­stum­men. In einer Insze­nie­rung von Ödon von Hor­vàths Stück „Kasimir und Karo­line“ schei­tern die Lie­ben­den schon daran, ihr Begeh­ren über­haupt zu adres­sie­ren; eine mys­te­riöse Macht hat ihnen die Sprache ver­schla­gen und sabo­tiert ihre lie­bende Arti­ku­la­tion. Doch die Figuren ver­feh­len ihr Leben nicht deshalb, weil sie sozial deklas­siert sind, das sind sie ohnehin; sie ver­feh­len es, weil sie der Sprache beraubt wurden, um ihr Begeh­ren über­haupt dif­fe­ren­ziert zum Aus­druck zu bringen.

Der Kapi­ta­lis­mus, so lautet die Pointe, besitzt nicht nur eine soziale, er besitzt auch eine sym­bo­li­sche Dimen­sion – er pau­pe­ri­siert Wort­be­deu­tun­gen und macht sie aus­tausch­bar wie Geld.

Die seman­ti­sche Ver­ödung hat Kon­se­quen­zen für das Organon der Sprache selbst. Die Sprache zieht sich in sich selbst zurück und expo­niert ihre eigene Mate­ria­li­tät – sie quakt, murmelt, plap­pert. „Ent-spre­chend“ erschei­nen die Figuren als sub­jekt­lose Sub­jekte, als Epi­phä­no­mene einer ihnen äußer­lich blei­ben­den gesell­schaft­li­chen Sprache. Sie sind frei, können aber mangels Sprache ihrer Frei­heit keinen unver­wech­sel­ba­ren Aus­druck ver­lei­hen. Es gibt kein rich­ti­ges Leben in der fal­schen Sprache.

2. Die frühen Theaterstücke

Strauß hat damit sein Thema gefun­den, eine ganz eigene und ori­gi­nelle Kritik der libe­ra­len Gesell­schaft. Deren Patho­lo­gie besteht darin, dass sie im Maß ihres his­to­ri­schen Erfolgs jene kul­tu­rel­len Res­sour­cen zer­stört, in deren Licht sich die erkämpfte Frei­heit über­haupt erst als eine sinn­volle bestim­men lässt. Der Preis des libe­ra­len Fort­schritts ist eine leere, im Fall seines Thea­ter­er­st­lings sogar mör­de­ri­sche Emanzipation.

 

Die Hypo­chon­der

Die Hypo­chon­der“ (1972) spielt um die Jahr­hun­dert­wende 1901 in Ams­ter­dam und insze­niert eine Art Labor, in der Natur­wis­sen­schaft­ler zusam­men­kom­men, um die All­tags­spra­che von ‚irra­tio­na­len‘ Wort­be­deu­tun­gen und reli­giö­sen ‚Ver­un­rei­ni­gun­gen‘ zu säubern. Doch die Kli­ni­fi­zie­rung der Sprache hat eine fatale Kon­se­quenz. Indem die Wis­sen­schaft­ler sie von meta­phy­si­schen Bildern „befreien“, zer­stö­ren sie die sym­bo­li­sche Vor­aus­set­zung mensch­li­cher Rede – sie dehu­ma­ni­sie­ren den gemein­sa­men kom­mu­ni­ka­ti­ven Raum. Die Figuren taxie­ren ein­an­der nur noch als instru­men­tell ver­füg­bare Objekte, und damit ist in der post­hu­ma­nen Sach­lich­keit einer wis­sen­schaft­lich ent­zau­ber­ten Sprache ein Mord kein Mord mehr, sondern ledig­lich ein Zwi­schen­fall in einem Gesche­hen, das sich schick­sal­haft hinter dem Rücken der Akteure zu voll­zie­hen scheint.

Doch Strauß skan­da­li­siert in seinen Dramen nicht nur, dass die wis­sen­schaft­li­che Auf­klä­rung in über­lie­ferte Sprach­tra­di­tio­nen ein­dringt und sie „kalt“ und bedeu­tungs­los macht. Ebenso kri­tisch insze­niert er die Infil­tra­tion durch Öko­no­mie und Medien; auch sie greifen den Reich­tum der Sprache an, auch ihre Logik besteht darin, Wort­be­deu­tun­gen zu neu­tra­li­sie­ren, sie aus­zu­sau­gen oder umzumünzen. 

Kall­dewey, Farce

Alte Wort­be­stände sind hier das erste Opfer; sie sind dem Büh­nen­per­so­nal zutiefst verpönt und wecken sein spon­ta­nes Miss­trauen, in diesem Fall das von zwei auf­ge­klärt-abge­klär­ten Jour­na­lis­tin­nen: „Pönt, sagt doch kein Mensch“ – „Pönt und so’ne Quatsch­wör­ter“ – „Laß doch mal den Kack mit den Wörtern (…) – Uaaah! Die sagt bloß Quatsch­wör­ter, die keiner sagt.“ – „Du sab­berst doch auch nur rum.“ (Kall­dewey, Farce; TS II, S. 21f)

 

Tri­lo­gie des Wiedersehens

Auch die Sprache des Geldes erweist sich als bedeu­tungs­zer­stö­rende Macht; der öko­no­mi­sche Code kon­ver­tiert Wort­be­deu­tun­gen oder ver­wan­delt Gesprä­che in pro­fi­ta­ble Inves­ti­tio­nen. Die Über­for­mung kom­mu­ni­ka­ti­ver Rede durch öko­no­mi­sche Muster hat Strauß in der „Tri­lo­gie des Wie­der­se­hens“ (1977) mit der Figur des „Kläu­schen“ groß­ar­tig in Szene gesetzt. Auf die Frage, ob er mit seiner „Mami“ oder mit dem Vater „Ski­fe­rien“ mache, ant­wor­tet der uti­li­ta­ris­ti­sche Knirps: „Mit meinem Vater.“ – „Ist dein bester Freund, der Vati?“ – „Ja. Geschäfts­freund.“ (TS I, S. 353)

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Sprach­lose Frei­heit, schei­ternde Kom­mu­ni­ka­tion, „sab­bernde“ Sprache – das sind die Themen, die Strauß in immer neuen und immer anderen Thea­ter­stü­cken auf die Bühne bringt.

Seine dra­ma­ti­schen Refle­xio­nen ent­wi­ckeln dabei einen eigenen, unver­kenn­ba­ren Sound, sie into­nie­ren einen melan­cho­li­schen Wort­ge­sang über die erstarrte Leben­dig­keit einer Sub­jek­ti­vi­tät, die zuver­läs­sig daran schei­tert, sich über ihren auf­ge­klär­ten Zustand Auf­klä­rung zu ver­schaf­fen. In dieser Phase seines Werkes, also in den sieb­zi­ger Jahren, betreibt Strauß Libe­ra­lis­mus­kri­tik als Sprach­kri­tik; er insze­niert die Tragik einer Auto­no­mie, die nicht mehr weiß, warum sie über­haupt frei sein soll. Statt selbst­be­wusst ihre Lebens­form zu wählen und zu bestim­men, wovon sie sich bestim­men lassen, ver­lie­ren die Cha­rak­tere den Boden unter den Füßen und stehen exis­ten­ti­el­len Grund­er­fah­run­gen wie Liebe und Glück, Krank­heit und Tod in spek­ta­ku­lä­rer Sprach­lo­sig­keit gegen­über. Die stumme Gewalt von Geld, Wis­sen­schaft und Medien, aber auch die tra­di­ti­ons­ver­ges­sene Auf­klä­rung selbst haben die kul­tu­rel­len Quellen der Lebens­deu­tung aus­ge­trock­net und die Sprache ins Exil getrie­ben, ins „Plap­pern“ und „Sabbern“.

Damit steht das Urteil fest. Der Libe­ra­lis­mus der Bun­des­re­pu­blik kon­su­miert die Bedeut­sam­keit der Welt, er lebt von sym­bo­li­schen Bestän­den, die er nicht erneu­ern, sondern nur ver­brau­chen kann. 

Ohne einen inter­pre­ta­ti­ven Hori­zont aus starken Wer­tun­gen spaltet sich das libe­rale Frei­heits­be­wusst­sein vom Hand­lungs­be­wusst­sein ab und pro­du­ziert eine entro­pi­sche Gesell­schaft, in der sich Frei­heit redu­ziert auf Wahl­frei­heit oder die Ent­schei­dung zur Nicht­ent­schei­dung. Lynn, der ein The­ra­peut in „Kall­dewey, Farce“ (1982) gerade die letzten Regun­gen der Schwer­mut aus­treibt: „Ich kann mich nicht ent­schei­den: Geh ich ab? Bleib ich da, sag ich was /​ sag ich nix? Ich will weg, weg und bleiben, bleiben.“ (TS II, S. 61)

Strauß macht kein Geheim­nis daraus, dass sein Sprach­ver­ständ­nis theo­lo­gi­sche Wurzeln hat: Die Sprache, die im Säku­la­ris­mus der libe­ra­len Demo­kra­tie ihren welt­erschlie­ßen­den Sinn ver­liert, war ursprüng­lich eine Gabe, die Gott den Men­schen hin­ter­las­sen hat. 

Der gött­li­che Logos bildet die vor­gän­gige Textur der Welt, und dieser Textur gegen­über sind die Men­schen zur Treue ver­pflich­tet. Sie dürfen sie nicht zer­stö­ren, nicht „über­spre­chen“.

 

Groß und klein; Rumor

An keiner Stelle hat Strauß diese Sprach­auf­fas­sung so ein­dring­lich in Szene gesetzt wie in „Groß und klein“ aus dem Jahre 1978 – und gleich­zei­tig blitzt in diesem Stück bereits jener tiefe Pes­si­mis­mus auf, den er später zu einer mythi­schen Wende radi­ka­li­sie­ren wird.

Das Stück handelt von Lotte-Kotte aus Rem­scheid-Lennep – bei Strauß sind Dop­pel­na­men Alle­go­rien für das Spie­gel­sta­dium der Kultur – die von ihrem Mann ver­las­sen wurde und nun als Pau­schal­tou­ris­tin nach Marokko reist. Doch die Ferne ist nicht die Ferne, sondern der Spiegel des Eigenen: Im Natur­frie­den der Wüste zeigt sich die Wahr­heit des Libe­ra­lis­mus, sein innerer Bür­ger­krieg („jeder gegen alle“). Die Rei­se­gruppe ist sich „spin­ne­feind“, zer­fres­sen von „Gier, Neid, Des­in­ter­esse, Hab­sucht und blinde(m) Eifer“ (TS I, S. 413). Die Welt­ge­schichte scheint wieder dort ange­kom­men zu sein, wo sie einst mit dem Exodus begon­nen hatte – nämlich in der Wüste, im Still­stand der prä­his­to­ri­schen Zeit. „Die Zeit vergeht, aber nicht richtig.“ (TS I, S. 407). Doch eines Abends geschieht ein Wunder, von dem aber niemand zu sagen vermag, ob es tat­säch­lich eines ist. Lotte erlebt ein Pfings­ten der Sprache und wird Zeugin eines Gesprächs zwi­schen zwei Unbe­kann­ten. Der Sinn der Wörter bleibt ihr unver­ständ­lich, es könnte sich auch um das übliche Geplap­per handeln. Am Null­punkt der Kom­mu­ni­ka­tion wirkt der Klang der Stimmen jedoch Wunder und ver­wan­delt alles. Lotte, der Engel im Stück, glaubt hinter ihrer Jalou­sie reli­giöse Brocken zu hören und erlebt das ursprüng­li­che Ver­neh­men der Sprache. „Hab ich mein Lebtag nicht gehört, solche … solche … Wohl – laute!“  (TS I, S. 405)

Ist die Erfah­rung des Hei­li­gen bloß eine Ein­bil­dung? Eine reli­giöse Fata Morgana in der Tou­ris­ten­wüste? Der Zuschauer erfährt es nicht, das Wider­fahr­nis bleibt ästhe­tisch unent­scheid­bar in der Schwebe. Doch für Lotte selbst war es eine An-Rede, und danach geht sie mit anderen Augen durch die Welt; sie fühlt sich frei, und der mythi­sche Zwang, der über ihrer gesell­schafts­lo­sen Gesell­schaft liegt, löst sich auf. Doch die Ver­wand­lung der Sprache bleibt privat, es gibt kein pro­fa­nes Pfings­ten, niemand ist emp­fäng­lich für das Neu­wer­den der Sprache. Und was nach dem Natio­nal­so­zia­lis­mus vom „Deutsch der Deut­schen“ übrig ist, das ver­en­det im Ratio­na­li­täts­ge­häuse einer ame­ri­ka­ni­sier­ten Moderne (das ist das Thema des Romans „Rumor“ aus dem Jahr 1980).

Hatte Strauß bislang den Ein­druck erweckt, die Sinn­krise der libe­ra­len Gesell­schaft könne kul­tu­rell, also durch eine (meta­phy­si­sche) Öffnung der Sprache kuriert werden, so glaubt er das bald nicht mehr. 

Immer öfter finden sich Pas­sa­gen, die den Ein­druck erwe­cken, die Bun­des­re­pu­blik könne nicht mehr von innen refor­miert, sondern nur noch im Ganzen über­wun­den werden. Zu tief sind ihre Insas­sen in das System ver­strickt, zu ver­stei­nert, zu gleich­gül­tig sind all die ratio­na­len Ego­is­ten. Sie sind so heillos ent­frem­det, dass ihnen ihre eigene Fremd­heit schon wieder ver­traut vor­kommt. Was der Libe­ra­lis­mus Gesell­schaft nennt, ist eine Ansamm­lung aus iso­lier­ten Ein­zel­nen, die ihre Frei­heit als per­sön­li­chen Besitz ver­ste­hen und nur durch ihre Tren­nung ver­bun­den sind – durch die gemein­same Ver­fol­gung selbst­süch­ti­ger Inter­es­sen. Und der „Kapi­ta­lis­ti­sche Rea­lis­mus“ der Kunst (so das Thema der Aus­stel­lung in der „Tri­lo­gie des Wie­der­se­hens“) tran­szen­diert die Wirk­lich­keit nicht mehr, sondern vermag nur noch, diese ästhe­tisch zu ver­dop­peln. Das „Heilige“ aus „Groß und klein“ ist unkennt­lich geworden.

3. Die Wie­der­kehr des Tragischen

Wohnen, Dämmern, Lügen

Die Stücke und Pro­sa­texte bekom­men nun etwas Dro­hen­des und Gewalt­sa­mes. Der dop­pelte Schluss von „Kall­dewey, Farce“ klingt bereits nach einer Warnung, während die Pro­sa­samm­lung „Wohnen, Dämmern, Lügen“ (1994) den unbe­wuss­ten Wunsch nach dem erlö­sen­den Unheil verrät, nach der Wie­der­kehr der Tragik in post­tra­gi­schen Ver­hält­nis­sen. Die Erzäh­ler­stimme schil­dert, wie die sinnlos plap­pernde und heillos „über­spro­chene“ Sprache zu einem gewal­ti­gen „Feu­er­ball“ zusam­men­schießt, zu einer alles ver­nich­ten­den „Masse“ aus „Rede­klum­pen“, die über die Gesell­schaft hin­weg­rol­len. Das „Sprach-Biest“ aus „Ex-Wörtern“ initi­iert einen Akt rei­ni­gen­der Gewalt: „Am Ende wird man am Schopf und am Leib ergrif­fen von der ent­fes­sel­ten wört­li­chen Bedeu­tung, die uns mit ani­ma­li­schen Kräften über­fällt. Das Sprach-Biest und das Men­schen-Gestell …“ (WDL, S. 193). Kurz zuvor hatte Strauß einen (als Kino­be­su­cher) mas­kier­ten Dichter bereits von der großen Säu­be­rung träumen lassen.

Aber viel­leicht ist meine Hoff­nung bereits auf das Unheil gerich­tet. Auf einen Bil­der­sturm, wie die Welt ihn noch nicht gekannt hat … Es muß über uns kommen, aus uns selbst kommt nichts mehr.“ (WDL, S. 179 f.)

Strauß kri­ti­siert hier nicht mehr nur die kul­tu­relle Patho­lo­gie des Libe­ra­lis­mus, nein, er kri­ti­siert das System nun ins­ge­samt als Fehl­ent­wick­lung, als falsche Eman­zi­pa­tion nicht mehr vom jüdisch-christ­lich ver­stan­de­nen Hei­li­gen, sondern vom mythi­schen Sakra­len. In einem eminent fol­gen­rei­chen, ja werk­be­stim­men­den Schritt wech­selt er sein geschichts­phi­lo­so­phi­sches Koor­di­na­ten­sys­tem aus; Strauß ver­lässt den für „Groß und klein“ noch selbst­ver­ständ­li­chen mono­the­is­ti­schen Bezugs­rah­men und geht hinter die mosai­sche Grün­dungs­szene, also hinter die Welt­bild­re­vo­lu­tion der Ach­sen­zeit zurück. Damit sitzt plötz­lich der Mono­the­is­mus auf der Ankla­ge­bank. In einem sin­gu­lä­ren Akt der Selbst­auf­wer­fung, so scheint ihm Strauß vor­zu­wer­fen, hat er gegen das sakrale Ursprüng­li­che rebel­liert und die Zivi­li­sa­tion von vitalen Lebens­mäch­ten abge­schnit­ten. Der Glaube an den Einen Gott war der falsche Exodus, es war jener Auszug aus der „Tages­ord­nung des Ewigen“ (WDL, S. 181), mit dem die Weichen in die Moderne falsch gestellt wurden: in die Sack­gasse einer exis­tenz­ver­ges­se­nen Emanzipation.

Nicht mehr das jüdisch-christ­li­che Welt­bild, sondern das tra­gi­sche Denken der antiken Göt­ter­welt bildet nun die kon­tras­tive Folie der Strauß’schen Gegen­warts­kri­tik. Der west­li­che Libe­ra­lis­mus, wird es nun heißen, zer­stört nicht nur den Reich­tum der Sprache, sondern ver­fehlt auch die sakrale Grund­wahr­heit der Geschichte. In Wahr­heit habe die Geschichte die mythi­sche Zeit nie ver­las­sen und sei viel eher ein Kon­ti­nuum des Schre­ckens als des Fort­schritts. „Geschichte“, sagt die domi­nante Pro­sa­stimme in „Wohnen, Dämmern, Lügen“, „gibt es nur, um den steten Fluß der Träne zu sichern“ (WDL, S. 187). Unter dem Sakra­len, das den Kern des Mythos aus­macht, ver­steht Strauß das „Immer­wäh­rende“ und Ursprüng­li­che, dazu zählen auch Tragik und Opfer. „Es ist Unheil wie eh und je.“ (ABG, S. 24) Jeder Versuch, die unver­än­der­bare Opfer­lo­gik der Geschichte sozio­po­li­tisch zu über­win­den, muss schei­tern, denn er pro­vo­ziert not­wen­di­ger­weise die Wie­der­kehr „ver­schlepp­ter“ Gewalt und auf­ge­stau­ter Tragik.

Da die Geschichte nicht auf­ge­hört hat, ihre tra­gi­schen Dis­po­si­tio­nen zu treffen, kann niemand vor­aus­se­hen, ob unsere Gewalt­lo­sig­keit den Krieg nicht bloß auf unsere Kinder ver­schleppt.“ (ABG, S. 11)

Den Holo­caust nennt Strauß ein „Ver­häng­nis in sakra­ler Dimen­sion des Wortes“, wobei er keinen Zweifel lässt an der über „das Men­schen­maß hinausgehende(n) Schuld“. (ABG, S. 22)

 

Die Frem­den­füh­re­rin; Ithaka

Doch die libe­rale Gesell­schaft ver­drängt nicht nur das Tra­gi­sche; sie hat nicht einmal mehr einen Begriff davon – wie die Rei­se­lei­te­rin in „Die Frem­den­füh­re­rin“ (1986), der jedes Ver­ständ­nis für mythi­sche Bilder fehlt. Während man das Stück noch als Kritik an anti­tra­gi­schen Bewusst­seins­for­men ver­ste­hen kann, so übt das Drama „Ithaka“ (1996) eine dezi­diert poli­ti­sche Kritik, und zwar am Status quo der von fremden Mächten „bela­ger­ten“ deut­schen Nation. Unschwer ist jeden­falls das besetzte grie­chi­sche Archi­pel als Alle­go­rie der ame­ri­ka­ni­sier­ten Bun­des­re­pu­blik zu erken­nen; die Besat­zer unter­hal­ten kei­ner­lei Bezie­hung zur Tra­di­tion der Insel­kul­tur und ent­pup­pen sich als lar­moy­ante Wohl­stands­bürsch­chen, die den anschei­nend glück­li­chen Bel­li­zis­mus der Antike gegen einen feigen Hedo­nis­mus aus­ge­tauscht haben. Die hasen­fü­ßi­gen Pazi­fis­ten kennen weder Freund noch Feind, weshalb sie den Dienst an der Waffe erst einmal abge­schafft haben. „Zag­hafte Jüng­linge erhal­ten Tro­phäen, weil sie sich niemals an einer Waffe ver­grif­fen.“ (TS III, S.107) Nachdem die post­he­roi­schen Groß­mäu­ler alles Leben zum Still­stand gebracht haben, senkt sich eine blei­erne Geschichts­lo­sig­keit über die Insel und lässt die schöp­fe­ri­schen „Kräfte“ des Volkes „ver­fau­len“. Erst der heim­keh­rende Herr­scher Odys­seus beendet the end of history. Mit der blu­ti­gen Abschlach­tung der Freier stellt er die mythi­sche Ordnung wieder her; er bringt das Leben auf die Insel zurück und führt sein Volk heim ins Heilige der eigenen Kultur.

4. Anschwel­len­der Bocks­ge­sang und „heilige“ Wiedervereinigung

Gewiss, das sind ästhe­ti­sche Fan­ta­sien, und die Lite­ra­tur wäre unend­lich arm, wenn sie nicht ihr Recht wahr­nähme, mit aller ima­gi­na­ti­ven Radi­ka­li­tät geschicht­li­che Welten in die Luft zu jagen. Aber so gewitzt „Ithaka“par­tien­weise auch ist, die Kern­idee des Stücks – die Befrei­ung von der West­bin­dung des deut­schen Geistes und dessen Rück­kehr ins natio­nale Eigene – findet sich auch in Strauß’ Essay „Anschwel­len­der Bocks­ge­sang“ (3). Bei dem Text handelt es sich zunächst um die Ent­täu­schungs­ver­ar­bei­tung eines Schrift­stel­lers, der sich ein­ge­ste­hen muss, dass ihn seine Hoff­nun­gen von 1989 getro­gen haben: Zwar ist die Ber­li­ner Mauer gefal­len, doch in Deutsch­land herrscht immer noch die Sys­tem­lo­gik der Bun­des­re­pu­blik, die „ebenso lächer­li­che wie wider­wär­tige Ver­ge­sell­schaf­tung des Leidens und des Glü­ckens“ (ABG, S. 14), die Nega­tion des „Tra­gi­schen“ (ABG, S. 15), die Aus­trei­bung von „Anwe­sen­heit, von unauf­ge­klär­ter Ver­gan­gen­heit, von geschicht­li­chem Gewor­den­sein, von mythi­scher Zeit …“ (ABG, S. 13). „Es ist der Mars auf Erden, so kalt, so leblos, viel­durch­furcht und ohne Atmo­sphäre.“ (ABG, S. 17)

Kurzum, der von Strauß sehn­süch­tig erwar­tete Sys­tem­wech­sel ist aus­ge­fal­len, der Kult der Tabu­ver­let­zung sowie die „poli­ti­schen Rela­ti­vie­run­gen von Exis­tenz“ (ABG, S. 23) bestim­men wei­ter­hin den natio­na­len Alltag: Die „Ver­höh­nung des Eros, die Ver­höh­nung des Sol­da­ten, die Ver­höh­nung von Kirche, Tra­di­tion und Auto­ri­tät (...).“ (ABG, S. 11)

Strauß, und das ist der Grund für seine Ent­täu­schung, hatte sich die „Heilige Wie­der­ver­ei­ni­gung“ (4) ganz anders vor­ge­stellt als etwa der ame­ri­ka­ni­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Francis Fuku­yama. Nicht als pla­ne­ta­ri­schen Sieg des libe­ra­len Welt­geis­tes, sondern als Bruch mit der West­bin­dung und als Wie­der­an­schluss der tie­fe­ren deut­schen Kultur an die Politik. Dass Strauß die Wie­der­ver­ei­ni­gung in neu­heid­nisch-natio­nal­re­li­giö­ser Begriff­lich­keit beschreibt und sie „heilig“ nennt, ist kein Zufall; für ihn stellt der Mau­er­fall ein seins­ge­schicht­li­ches Ereig­nis dar, das mit sozio­his­to­ri­schen Erklä­run­gen nicht annä­hernd begrif­fen werden kann. Die Epo­chen­zä­sur von 1989 beendet den Kalten Krieg der Welt­mächte und eröff­net Deutsch­land die Mög­lich­keit, sein von der Ver­west­li­chung ver­dräng­tes „Sit­ten­ge­setz“ an die Gegen­wart anzu­schlie­ßen. Mit dem „Sit­ten­ge­setz“ kehrt der exis­ten­ti­elle Ernst des Lebens in die Gesell­schaft zurück, ein Ernst, der ebenso an das Erken­nen von Freund und Feind gebun­den sei wie an die kol­lek­tive Opfer- und Tötungsbereitschaft.

Daß jemand in Tadschi­ki­stan es als poli­ti­schen Auftrag begreift, seine Sprache zu erhal­ten, wie wir unsere Gewäs­ser, das ver­ste­hen wir nicht mehr. Daß ein Volk sein Sit­ten­ge­setz gegen andere behaup­ten will und dafür bereit ist, Blut­op­fer zu bringen, das ver­ste­hen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-liber­tä­ren Selbst­be­zo­gen­heit für falsch und ver­werf­lich.“ (ABG, S. 11)

Mit anderen Worten: Auch vier Jahre nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung herrscht noch immer der anti-tra­gi­sche, exis­tenz­ver­ges­sene und nun nach Osten erwei­terte BRD-Libe­ra­lis­mus, doch er herrscht, so ver­si­chert Strauß dem Leser, nicht mehr lange. Unter dem Parkett der „Mas­sen­de­mo­kra­tie“ hat „die Geschichte ihre Dis­po­si­tio­nen“ (ABG, S. 11) getrof­fe­nen, und der Autor hört bereits den „anschwel­len­den“ Rumor wie­der­keh­ren­der Tragik. „Im Banne des Vor­ge­fühls. Die Ursa­chen liegen im seis­mi­schen Bereich. Kata­stro­phi­sche, destruk­ti­ons­hal­tige Vor­ge­fühle durch­lau­fen den gesam­ten Orga­nis­mus des Zusam­men­le­bens und ver­grö­ßern sich dabei sys­tem­über­schat­tend.“ (ABG, S.22). Das frivole Tremolo von der Wie­der­kehr der Tragik, auch die Hei­li­gung des Natio­na­len wären im mosa­isch-christ­li­chen Welt­bild seines Früh­werks undenk­bar gewesen; ent­spre­chend erwar­tet Strauß bei der Rück­kehr der Nation ins kul­tu­rell Eigene nicht den gerech­ten Gott der jüdisch-christ­li­chen Über­lie­fe­rung, sondern das pagane Ensem­ble der grie­chi­schen Götter:

Die Wie­der­kehr der Götter, wie Malraux und Jünger sie vor­aus­se­hen, die Hoff­nung der Weisen – nur: wie heißen die Künf­ti­gen und wer emp­fängt sie? (…) Solche Wie­der­keh­ren kämen dem Ein­bruch des Unbe­kann­ten gleich, unter Umstän­den sogar: des ein­ma­lig Fürch­ter­li­chen.“ (ABG, S. 21)

Dass Botho Strauß libe­rale Regie­rungs­for­men, vulgo: die Demo­kra­tie als Abwei­chung von der „Tages­ord­nung des Ewigen“ kri­ti­siert – dies muss man ihm nicht unter­stel­len. Aus­drück­lich bezieht er sich auf den poli­ti­schen Anti-Mono­the­is­mus eines Gomez Davila, Julius Evola oder Ernst Jünger. Doch welchen natio­na­len Traum träumt er selbst? Wie stellt Strauß sich den post­li­be­ra­len Staat vor, den rea­li­sier­ten Wie­der­an­schluss der deut­schen Kultur an die Politik?

5. Der Wie­der­an­schluss des deut­schen Geistes

Auf den ersten Blick scheint es, als erwarte Strauß ledig­lich mehr „deut­sche Kultur“, mehr „Anwe­sen­heit“ natio­na­ler Ver­gan­gen­heit in Theater, Musik und Lite­ra­tur. Doch das ver­fehlt den Kern­ge­dan­ken seines Sanie­rungs­pro­gramms, nämlich die Idee einer schla­gen­den Ver­bin­dung aus deut­schem Geist und deut­scher Politik. Nur zu Erin­ne­rung: Das Grund­pro­blem des Libe­ra­lis­mus bestand für den frühen Strauß darin, dass er die exis­tenz­er­hel­len­den reli­giö­sen und kul­tu­rel­len Voka­bu­lare zer­stört, in denen Sub­jekte ihr Leben als ein sinn­vol­les deuten.

Der spätere Strauß gibt sich mit dieser bloß kul­tu­rel­len Kritik nicht mehr zufrie­den und greift das System selbst an, den libe­ra­len Frei­heits­be­griff, die Tra­gik­ver­ges­sen­heit, über­haupt die Tren­nung der Wert­sphä­ren von Politik und Kultur. Denn anstatt das tra­gi­sche Wissen der Kunst an das Poli­ti­sche anzu­schlie­ßen und Geist und Macht zu ver­söh­nen, spalte der Libe­ra­lis­mus Kunst und Kultur ab und über­lasse sie dem „Régime der tele­kra­ti­schen Öffent­lich­keit“, der „unblutigste(n) Gewalt­herr­schaft und zugleich de(m) umfassendste(n) Tota­li­ta­ris­mus der Geschichte“ (ABG, 18). Aus diesem Grund ist libe­rale Politik Macht ohne Geist; sie redu­ziert sich auf Wohl­stands­meh­rung, Kon­flikt­ver­mei­dung, Ver­wal­tung, Büro­kra­tie, Sozi­al­für­sorge und Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit, mithin auf die Abwehr von Lebens­ri­si­ken, von Leid, Unglück und Not. Strauß sieht darin keinen Fort­schritt, sondern nur einen wei­te­ren Schritt auf dem Weg zur Rela­ti­vie­rung von Exis­tenz in einer „Tur­boh­ölle der Schein­bar­kei­ten“ („Die Ähn­li­chen“; TS III, S. 244).

Unsere Unglü­cke und schlech­ten Aus­sich­ten, Bedro­hun­gen und Kämpfe sind auf schmerz­li­che, beinahe brutale Weise untra­gisch. Daher, und so war es immer, dies urtüm­li­che Ver­lan­gen, die Tra­gö­die zu schauen und von der Uner­meß­lich­keit des Leids berührt und gestärkt zu werden. Der Mensch, selbst nur ein Wurm im Leid­we­sen, ein kleiner Krie­cher des Unglücks, ist der Tra­gö­die bedürf­tig.“ (NA, S. 207)

Wie die Moderne ins­ge­samt, so wähnt sich auch der Sozi­al­staats­ka­pi­ta­lis­mus jen­seits der Tragik; er gießt die Tra­gik­ver­ges­sen­heit des Libe­ra­lis­mus gleich­sam in Wohl­fahrts­be­ton und ver­dun­kelt das onto­lo­gisch unauf­heb­bare Faktum von Unglück und Not. Der Ver­sor­gungs­eta­tis­mus der BRD weiß nicht mehr, was die (deut­sche) Kunst weiß, er weiß nichts von der Gegen­wart der Tra­gö­die, den Arche­ty­pen des Lebens und den Grund­be­din­gun­gen des Mensch­li­chen. Unter Anspie­lung auf Heid­eg­gers Diktum von der „Not der Not­lo­sig­keit“ schreibt Strauß: „Viele werden erst lernen müssen, daß vom Reich­tum an auf­wärts die Not beginnt.“ (AW, S. 40)

Strauß ver­ab­schie­det hier nicht nur die libe­rale Tren­nung von Staat und Indi­vi­duum, sondern zugleich jene werk­ge­schicht­li­che Phase, die den „Tod der Sprache“ in den Mit­tel­punkt des kri­ti­schen Inter­es­ses rückte. Während die frühen Stücke die Mög­lich­keit ins Spiel brach­ten, eine kul­tu­rell erneu­erte, an ver­schüt­tete Bedeu­tungs­quel­len ange­schlos­sene Sprache könne dem exis­tenz­ver­ges­se­nen Bürger die Augen öffnen, so über­trägt Strauß diese Aufgabe nun dem exe­ku­ti­ven Staat: Er ist es, der die „Rela­ti­vie­rung von Exis­tenz“ beenden und das unle­ben­dige, von mole­ku­la­rer Gewalt bedrohte Leben vita­li­sie­ren und ihm Sinn ver­lei­hen soll. Schwer­mü­tig beschwört die Nie­mands­gar­ten­szene in „Wohnen, Dämmern, Lügen“ (WDL, S. 49ff) eine meta­phy­si­sche Staat­lich­keit, die macht­voll das öffent­li­che Leben struk­tu­riert und die dunklen Antriebe des Ein­zel­nen gleich­sam in Form setzt.

In dieser post­li­be­ra­len Staat­lich­keit gehen Geist und Macht wieder eine Syn­these ein, denn beide wurzeln in jenem Sakra­len, das ver­drängt zu haben den Grün­dungs­de­fekt des Libe­ra­lis­mus ausmacht.

Nach dem Wie­der­an­schluss des Geistes an die Macht – so erläu­tert Strauß mit einem Zitat von Rudolf Bor­chardt – gibt die Dich­tung erneut „der Politik den Gehalt (…), wie von Dante und Petrarca zu Mac­chia­vell, über Milton und Vol­taire zu Schil­ler, über die deut­sche Roman­tik zu Hegel ...“. (AW, S. 15f)

So harmlos die For­de­rung nach einem Wie­der­an­schluss des Kul­tu­rel­len an das Poli­ti­sche klingt – in Wahr­heit redet Strauß einem poli­ti­schen Vita­lis­mus das Wort, der dem Staat allen Ernstes die Aufgabe stell­ver­tre­ten­der Exis­ten­zer­schlie­ßung zuweist. Ein post­li­be­ra­ler Staat soll der exis­tenz­ver­ges­se­nen „Not der Not­lo­sig­keit“ ein Ende berei­ten und – so stellt es sich dar – den Bürger mit den tra­gi­schen Wahr­hei­ten des eigent­li­chen Lebens kon­fron­tie­ren. Zugleich lenkt der „König“ (das ist das anti­li­be­rale Begriffs­bild am Schluss des „Bocks­ge­sangs“) die anthro­po­lo­gisch unhin­ter­geh­bare Gewalt der Gesell­schaft, ihren Thymos, auf seine Person; sou­ve­rän macht er sich selbst zum Sün­den­bock, beendet den Bür­ger­krieg und stiftet Frieden. Diese Denk­fi­gur erklärt das Poli­ti­sche zu einer Form des ratio­nal undurch­dring­li­chen Lebens; die Ent­schei­dun­gen des Sou­ve­räns beruhen nicht auf Ver­nunft, nicht auf Argu­men­ten oder nor­ma­ti­ven Legi­ti­ma­ti­ons­fi­gu­ren – es sind Ent­schei­dun­gen aus dem vor­po­li­ti­schen Nichts und damit so unbe­greif­lich wie das „heilige“ Leben selbst. Der Staat, und das macht das Strauß’sche Denken für die neu­hei­di­sche Rechte attrak­tiv, ist nicht mehr der Garant von Demo­kra­tie, Frei­heit und Gerech­tig­keit; er ist der Garant von mythi­scher Homo­ge­ni­tät, abso­lu­ter Ordnung und Lebens­tiefe: Der Ein­zelne spürt sich wieder.

Im Ver­gleich zum frühen Werk mar­kiert dieses Denken einen Unter­schied ums Ganze. Im jüdisch-christ­li­chen Deu­tungs­rah­men, in der Bezie­hung von „Groß“ (Gott) und „Klein“ (Subjekt), sollte das archa­isch Sakrale – Macht, Opfer, Tragik – durch das mono­the­is­tisch ver­stan­dene Heilige über­wun­den bezie­hungs­weise im kul­tu­rel­len Sprach­spiel ent­schärft werden. Der späte Strauß dagegen dreht die Vor­zei­chen um. Nun möchte er im archa­isch Sakra­len, im Immer­wäh­ren­den und Ursprüng­li­chen, jenes „Heilige“ erken­nen, das im dich­te­ri­schen Gedächt­nis auf­be­wahrt und der libe­ra­len „Jetzt­le­big­keit“ nor­ma­tiv ent­ge­gen­setzt werden kann.

Strauß besei­tigt damit nicht nur die Grenze von Kunst und Politik; er ver­klärt auch das sakrale Dich­ter­wis­sen zur Wahr­heit des Poli­ti­schen. Viel Hoff­nung auf eine Ver­söh­nung von deut­schem (Dichtungs-)Geist und deut­scher Macht hegt er aller­dings nicht mehr.

(D)ie Flutung des Landes mit Fremden“, schreibt er im Herbst 2015, sei ein wei­te­res Bei­spiel dafür, wie weit sich der libe­rale Staat von der kul­tu­rel­len Sub­stanz Deutsch­lands ent­fernt habe. Strauß fühlt sich nun als „der letzte Deut­sche“, dessen „Emp­fin­den und Geden­ken“ noch „ver­wur­zelt (ist) in der geis­ti­gen Heroen­ge­schichte von Hamann bis Jünger, von Jakob Böhme bis Nietz­sche, von Klop­stock bis Celan“. (5)

Gibt es eine Tragik des Botho Strauß? Es gibt sie. Strauß begann mit einem fas­zi­nie­ren­den lite­ra­ri­schen Projekt, er beschrieb in seinen Prosa- und Thea­ter­stü­cken die Tragik eines Libe­ra­lis­mus, der auf seinem Sie­ges­zug jene kul­tu­rel­len Bilder neu­tra­li­siert, in deren Licht er die errun­gene Frei­heit über­haupt erst als sinn­volle zu deuten vermag. In inten­si­ven dra­ma­ti­schen Szenen beschrieb Strauß, wie die Macht des sym­bo­li­schen Kapi­ta­lis­mus Hand in Hand mit einer miss­ver­stan­de­nen Auf­klä­rung Tra­di­tio­nen öko­no­mi­siert und meta­phy­si­sche Welt­deu­tun­gen ver­flüs­sigt. Doch der Phä­no­me­no­loge hat sich von seinen eigenen Deka­denz­dia­gno­sen irre machen und zu einem poli­ti­schen Exis­ten­tia­lis­mus ver­füh­ren lassen, der rechte Denk­mus­ter ver­edelt und salon­fä­hig macht. Strauß hat ver­ra­ten, was er ursprüng­lich retten wollte: die Freiheit.

Thomas Ass­heuer ist Redak­teur im Feuil­le­ton der Ham­bur­ger Wochen­zei­tung Die Zeit.


Lite­ra­tur

Siglen

  • ABG = „Anschwel­len­der Bocks­ge­sang“. In: Der Pfahl. Jahr­buch aus dem Nie­mands­land zwi­schen Kunst und Wis­sen­schaft, Heft VII (1993), S. 9–25.
  • AW = „Auf­stand gegen die sekun­däre Welt“, München/​Wien 1999.
  • NA = „Niemand anderes“, München/​Wien 1987.
  • PP = „Paare, Pas­san­ten“, München 1981.
  • TS I/​TS II = „Thea­ter­stü­cke“, München/​Wien 1991.
  • WDL = „Wohnen, Dämmern, Lügen“, München 1994.

Fuß­no­ten

  1. Götz Kubit­schek: „Gegen­auf­klä­rung – Botho Strauß ist 70.“, in: Sezes­sion 63/​2014, S. 47.
  2. Botho Strauß:Versuch, ästhe­ti­sche und poli­ti­sche Ereig­nisse zusam­men­zu­den­ken“, Frank­furt am Main 1987. Vgl. dazu auch Th. Ass­heuer: „Tragik der Frei­heit. Von Rem­scheid nach Ithaka. Radi­ka­li­sierte Sprach­kri­tik bei Botho Strauß“, Bie­le­feld 2014.
  3. Anschwel­len­der Bocks­ge­sang“ in Der Spiegel Nr. 6/​1993
  4. In: Die Zeit, Nr. 52/​2000.
  5. Der letzte Deut­sche“, in Der Spiegel Nr. 42/​2015. – Schon Thomas Mann kri­ti­sierte die rechts­in­tel­lek­tu­elle Methode, kul­tu­rel­les Wissen aus der „Sphäre reiner Erkennt­nis“ auf das „soziale und poli­ti­sche Gebiet“ zu über­tra­gen und damit einem „Zynis­mus des Unter­gangs“ zu „hul­di­gen“. Th. M.: „Die Wie­der­ge­burt der Anstän­dig­keit“. In Ders.: „Poli­ti­sche Schrif­ten und Reden“. Bd. 2, her­aus­ge­ge­ben von Hans Bürgin, Frankfurt/​M. 1968, S. 203–224, hier S. 210. Diesen Hinweis ver­danke ich Irmela von der Lühe.

Ver­öf­fent­licht: 13. Dezem­ber 2019

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