Arnold Gehlen
Kalter Blick in die „Wärmestuben des Liberalismus“
von Ulrike Baureithel
Seit rund einem Jahrzehnt tauchen die Begrifflichkeiten Arnold Gehlens in den Versatzkästen neurechter Theorie auf. Der 1904 geborene und 1976 verstorbene Philosoph und Soziologe, der seine Karriere dem Aufstieg der Nationalsozialisten verdankte, war Mitglied der NSDAP und in einigen NS-Massenorganisationen tätig, wurde im Entnazifizierungsverfahren allerdings nur als „Mitläufer“ eingestuft. Mit seinem Werk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940) legte er eine konservativ grundierte und autoritär flankierte philosophische Anthropologie vor, die, von kompromittierenden Teilen bereinigt, auch nach dem Krieg insbesondere an die Systemtheorie anschlussfähig war. (1) In den sechziger Jahren profilierte sich Gehlen als konservativer Widersacher der Kritischen Theorie vor allem Adornos und liberaler Gesellschaftstheorien, wenngleich er von einigen marxistischen Theoretikern durchaus geschätzt und ernstgenommen wurde.
Den Menschen bestimmt Gehlen als Mängelwesen, organisch defizitär und instinktarm, aber weltoffen. Seine spezifische Ausstattung und Formbarkeit erlaubt es ihm jedoch, sich zu sich selbst zu verhalten und sich reflexiv handelnd in die Welt einzubringen. Er ist, um zu überleben, also zur planenden Handlunggezwungen, weshalb er seinen angeborenen Antriebsüberschuss bändigen und kontrollieren muss. Hier kommen die Institutionen ins Spiel, derer der Mensch bedarf. Zuvörderst die Sprache, aber auch Gewohnheiten, Kulte und Rituale, die Technik, die die menschlichen Organmängel kompensieren, Religion, Familie und nicht zuletzt der Staat entlastenihn von einem ständig auf ihm liegenden Entscheidungsdruck. Für Gehlen sind stabile Institutionen und die ihnen je eigene Ethik deshalb die wichtigsten Ordnungsfaktoren, damit das „Kulturwesen“ Mensch in der Welt bestehen kann. In seinem 1956 verfassten Werk Urmensch und Spätkulturformuliert er seine Institutionenlehre aus, in der Kampfschrift Moral und Hypermoral (1969) rechnet er mit den institutionenzerstörerischen Trends des Humanitarismus und der Moralhypertrophie ab.
Mit der Bestimmung des Menschen als Zuchtwesen, als unbestimmtes und deshalb in Führung zu nehmendes Wesen, dessen Leistungsaufbau auf die Tat ausgerichtet ist, operiert Gehlen mit einer Semantik, die ihn heute auch für rechte Diskurse instrumentalisierbar machen. Der Zucht- und Führungsdiskurs und der ordnungspolitische Institutionenbegriff in Gehlens Werk sind so dominierend, dass sie „softere“, etwa sprach- und kunstaffine Theorieelemente, verblassen lassen. Die Rede vom „Humanitarismus“ und der globalen Moralhypertrophie bedient die Denkschablonen derer, die sich heute gegen „Political Correctness“ und „Gutmenschentum“ stemmen.
Ein weiterer Grund für die Anschlussfähigkeit des Werkes Gehlens ist die Tatsache, dass er seine theoretischen Begrifflichkeiten der Alltagssprache entlehnte und diese, reflexiv aufbereitet, wieder in den Alltagsdiskurs eingespeist hat. Der Erfolg von Gehlens Publikumsschlager Die Seele im technischen Zeitalter (1957) ist zweifellos darauf zurückzuführen. Noch nicht so kulturkritisch gestimmt wie in späteren Jahren, nordet Gehlen für ein breites Publikum darin ein, was seine Philosophische Anthropologie ausmacht. Es ist kein Zufall, dass eben diese Begrifflichkeiten heute – sozusagen abgesunkenes Kulturgut – als Stichwortgeber für die Neue Rechte wieder virulent werden.
1. Neurechter Kotau
Im Jahr 2000 erschien in der Edition Antaios eine Monografie über Arnold Gehlen mit dem Untertitel „Vordenker eines neuen Realismus“. (2) Sowohl sein Autor, Karlheinz Weißmann, als auch der Antaios-Verlag, heute auf dem Rittergut Schnellroda ansässig, waren in der rechten Szene schon damals keine Unbekannten. Der Historiker Weißmann schreibt seit vielen Jahren für die Wochenzeitung Junge Freiheit, war mit Götz Kubitschek, der den Antaios-Verlag führt, Mitbegründer des rechten Thinktanks Institut für Staatspolitik und arbeitete, bis sich die politischen Wege der beiden Stichwortgeber der Neuen Rechten wieder ein Stückweit trennten (3), auch für Kubitscheks Rechtsintellektuellenzeitschrift Sezession.
Das schmale Bändchen, daran lässt der Autor keinen Zweifel, ist eine Hommage an Gehlen, „eine Art Dank für die zahlreichen Anregungen“, die der Verfasser „von einem der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts“ erhalten hat: „Dieses Buch hat affirmativen Charakter.“ (4) Was aber macht das Werk des 1976 verstorbenen Philosophen und Soziologen, der zusammen mit Max Scheler und Helmuth Plessner zu den Begründern der Philosophischen Anthropologie gehört, so attraktiv, dass er nicht nur die Bewunderung Weißmanns, sondern auch die vieler anderer rechter Laudatoren auf sich zieht?
Einerseits hatte Christian Graf von Krockow Gehlen einst mit dem Verdikt belegt, „in seinem Werk eine, nein, die faschistische Theorie entworfen und vollendet“ zu haben, „auf dem allerhöchsten Reflexionsniveau, das sie überhaupt zu erreichen vermag“ (5), und der rechte Vordenker Armin Mohler adelte ihn als „Meister“ des Konservatismus. Andererseits war Theodor W. Adorno (6), obwohl er Gehlens Berufung in Heidelberg hintertrieb, seinem Kollegen in den sechziger Jahren durchaus freundschaftlich verbunden (7), und Wolfgang Harich pflegte aus der DDR heraus fruchtbaren Austausch mit ihm. Worin also besteht die theoretische Unterfütterung dieses streitbaren Denkers, dass sie in den Erwartungshorizont eines künftigen rechten Aufstands eingebaut werden kann?
2. Biografischer Hintergrund
1904 als Sohn des Leipziger Verlegers Max Gehlen und dessen Frau Margarete geboren, gehörte Gehlen einer Generation an, die als Jugendliche und junge Erwachsene in die Verwerfungen durch den Ersten Weltkrieg und den demokratischen Umbruch in der Weimarer Republik hineinwuchsen. Auch wenn der politische Wiedergänger Weißmann ihn gerne in den politischen Umkreis der von Mohler kreierten „Konservativen Revolution“ eingemeinden würde, darf man sich Gehlen wohl eher als einen zunächst von einem Privatlehrer erzogenen, begabten Karrieristen vorstellen, der am eliteträchtigen Thomas-Gymnasium sein Abitur absolvierte und innerhalb von vier Jahren das Philosophiestudium mit der Promotion in Leipzig abschloss. Unter seinen Lehrern war der Biologe und Philosoph Hans Driesch, Pazifist und Demokrat, dem Gehlen seine Hinwendung zu einer materialistisch begründeten Auffassung des Menschen verdankte.
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1933 wird für Gehlen zum Wendejahr.
Er tritt in die NSDAP ein, wird Assistent des NS-Soziologen Hans Freyer und übernimmt nach diversen Vertretungen den Lehrstuhl von Hans Driesch, den die Nationalsozialisten aus dem Amt gedrängt hatten. Daneben ist Gehlen im Nationalsozialistischen Lehrerbund und im Nationalsozialistischen Dozentenbund tätig. Mit der Unterzeichnung des „Bekenntnisses der Professoren zum nationalsozialistischen Staat“ und seiner Antrittsvorlesung Der Staat und die Philosophie (8) erledigt er seinen Kotau vor dem NS-Régime. Belohnt wird er dafür mit dem Kant-Lehrstuhl in Königsberg (1938) und einer Professur in Wien (1940). In diese Zeit fällt die Konzeption seines Hauptwerks Der Mensch, das auch in den Theoriebestand der Wehrmachtspsychologie aufgenommen wird. (9) Eine geplante „Philosophie des Nationalsozialismus“ beendet er nicht.
Auch nach dem Krieg verfolgt Gehlen seine Karriere, wenn auch nicht ganz bruchlos, weiter. Nach der obligatorischen Amtsenthebung aller reichsdeutschen Professoren in Österreich orientiert er sich auf die Soziologie und findet in der französischen Besatzungszone an der neu gegründeten Verwaltungshochschule in Speyer Unterschlupf. Später folgt ein Soziologie-Lehrstuhl an der RWTH Aachen. Bedeutendere Professuren bleiben ihm vorenthalten, weil er einigen seiner einflussreichen Kollegen zu belastet erscheint; im Entnazifizierungsverfahren wird er als „Mitläufer“ eingestuft. Tatsächlich finden sich in seinem Werk keinerlei antisemitische Ausfälle, nicht richtig allerdings ist, wie Christian Thies behauptet, dass rassistische Anklänge in Gehlens Werk völlig fehlen. (10) Den größten Einfluss entfaltet der scharfe Polemiker Gehlen in den sechziger Jahren in seiner konservativ-kulturpessimistisch grundierten Gegnerschaft zur Studentenbewegung, unterstützt von seinem ehemaligen Assistenten Hanno Kesting in Speyer, der 1969 Ordinarius in Bochum wird.
3. Der Mensch, ein Zuchtwesen
Der Mensch, heißt es einleitend in Gehlens Hauptwerk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (11), sei „ein ganz einmaliger, sonst nicht versuchter Gesamtentwurf der Natur“. (M, S. 13) Damit grenzt er sich explizit von allen anthropologischen Stufenmodellen, insbesondere aber von Max Scheler ab, der dem Geist eine privilegierte, naturentzogene Position zuweist und damit den seit Descartes die Wissenschaften umtreibenden Geist-Leib-Dualismus verlängert. Von Scheler übernimmt Gehlen allerdings die Vorstellung, dass der Mensch nicht „festgerückt“ sei wie ein Tier (Nietzsche), sondern seiner Umwelt weltoffen (12) begegne. Zwar handele es sich um ein „schutzloses, bedürftiges“ und exponiertes Wesen“ (M, S. 14f) mit hohen Existenzrisiken, doch dieses Mängelwesen sei durch seine Plastizität (13) und seine spezifischen Anlagen und Gaben in der Lage, diese Defizite auszugleichen, durch reflexive Handlung: „(E)r verhält sich zu sich selbst, lebensnotwendig, wie dies kein Tier tut; er lebt nicht, (...), er führt sein Leben“ (M, S. 12), „er macht sich zu etwas“, „nimmt zu sich Stellung“ (M, S. 30). Die Art, wie er sein Leben führt, ist sozial vermittelt und kommunikativ.
Hatte Helmuth Plessner den Menschen als „von Natur aus künstlich“ gekennzeichnet, folgt ihm Gehlen in der Bestimmung als instinktreduziertes „Kulturwesen“, dessen Grundbestimmung es ist zu handeln, um zu überleben.
Die Welt, in der der Mensch lebt, ist eine zweite Natur, die er sich schafft – aber in dieser Leistung wird er notwendig sein eigenes Thema und er ist so beschaffen, dass er immerfort an sich selbst Aufgaben findet, deren Lösung zugleich ein Fortschritt in der Welt ist.“ (M, S. 412)
Gehlens Handlungsbegriff ist aktivistisch, was ihn für die rechte „Tat“-Rhetorik instrumentalisierbar macht; gleichzeitig ist er aber auch auf menschliche Selbsttätigkeit und Selbstverwirklichung ausgerichtet, das dürfte auch marxistische Denker wie Wolfgang Harich auf Gehlens Theorie aufmerksam gemacht haben. Der „Prometheus“ jedenfalls, dieses „vorhersehende und tätige Wesen“ (M, S. 58), wird in neurechten Gazetten gerne aufgerufen.
In seiner Umwelt ist dieser organisch unspezialisierte und weltoffene Mensch, so Gehlen weiter, indessen einer immensen Reizüberflutung ausgesetzt, die er bewältigen muss. Der ständig auf ihm lastende Entscheidungsdruck, gepaart mit dem menschlichen Antriebsüberschuss befördert zwar eine hohe, sprachlich und symbolisch vermittelte, phantasierende und planende Produktivität, führt aber auch zu permanenter Überlastung. In seiner späteren Intellektuellenkritik („Mundwerksburschen“ nennt er die Intellektuellen) wird Gehlen das den „chronischen Alarmzustand“ nennen (A+S, S. 193). (14)
Deshalb bedarf es der Entlastung, eine der zentralen Denkfiguren in Gehlens Werk. Abgesehen von der Sprache und ihrer Abstraktionsfähigkeit, durch die der Mensch in Distanz zu einer konkreten Situation tritt (15), entbinden ihn kleine und große Entlastungsinstanzen von der Zumutung, auf alle Reize originär oder selbsttätig reagieren zu müssen: Gewohnheiten, Rituale und Kulte („magische Techniken“), aber auch Institutionen wie Religion, Ehe und Familie, die Technik und sogar die Kunst. Voraussetzung ist, dass die Triebe so umgebaut werden, dass die Bedürfnisse nicht mehr nach unmittelbarer Erfüllung streben, sondern gehemmt und aufgeschoben werden können, also „abhängbar von den Antrieben“ sind (M, S. 396). Dadurch entsteht ein Hiatus, ein Leerraum zwischen den Bedürfnissen und ihrer Befriedigung, in dem die Handlung und das sachgemäße Denken Raum findet (vgl. M 395). Die Umformung von Antrieben in „Dauerinteressen“, asketische, „sehr künstlich gezüchtete Verzichtsakte“ (M, S. 29) selbst müssen dem Menschen zum Bedürfnis werden.
Die von Gehlen dekretierte „Zuchtbedürftigkeit“ des Menschen (M, S. 64) gehört zu den kompromittierenden Teilen seines Hauptwerkes, und er hat diese Terminologie auch in der 1950 neu bearbeiteten und um die beiden Kapitel „Erblichkeit und Wesensart“ und „Oberste Führungssysteme“ gekürzten Fassung nicht getilgt (16). „Das Auskrystallisieren der Antriebe (...) ist ihr Sichfaßlichwerden, ihre Entstehung zu wirklichen Kräften des Innern; damit werden sie zugleich der Stellungnahme ausgesetzt und Material der Zucht, der Erziehung und Selbstzucht.“ (M, S. 408) Und unmissverständlich an anderer Stelle: „(D)er Mensch (ist) ein Zuchtwesen“, seine Physis, auch als Geschlechtswesen, wird ihm „zur Aufgabe“ (vgl. M, S. 428f).
4. Institutionen: Garantinnen der Stabilität
Die in der Vorstellung des „Mängelwesens Mensch“ aufscheinende negative Anthropologie Arnold Gehlens mündet in der Fassung von 1940 also nicht von ungefähr in den von Alfred Rosenberg entlehnten „Zuchtbildern“. Selbst wenn man den zeitgenössischen Kontext berücksichtigt und den Begriff heute vielleicht eher mit „(Selbst-)Erziehung“ übersetzen würde, ist das autoritäre Moment unübersehbar. Gehlen geht es um einen handlungsleitenden Führungsimperativ. Ein (selbst)bewusster Wille ist in dieser „Kultur der Zucht“ nicht mehr vorgesehen, eher übernimmt das Wollen die Führung: „(D)er Mensch ist wesentlich wollend.“ (M, S. 431) Er muss sich „in Führung nehmen“, die Leistung ihm „Motiv“ werden. „Sie (die eigentliche Willenskraft) ist durchaus Resultat der Zucht, der Herrschaftsgeschichte der Leistungen und Antriebe des Menschen. Sie setzt voraus, daß bestimmte Dauerinteressen ausgebildet worden und Bedürfnis geworden sind, daß die völlige Konzentration des Bewußtseins auf die bestehenden Aufgaben gelungen ist, und daß eine stetige Disziplin der Tat in eindeutigen Tätigkeiten zustande gekommen ist.“ (M, S. 433).
Dieses Anpassungsprogramm, die „Ordnung des ‚Festgestellten‘“, wie Gehlen Nietzsche zitiert, hat ordnungspolitischen Charakter, ist gleichzeitig aber auch Ausdruck der in Gewohnheiten, Ritualen und Einstellungen domestizierten Triebe, in denen sich wiederum der Charakter des Menschen ausweist. „Wenn diese Anpassungsvorgänge in ihm am intensivsten arbeiten, dann erreicht seine Männlichkeit ihren höchsten Grad“, zitiert der Soziologe den französischen Physiologen Alexis Carrel in selbstverständlicher Gleichsetzung von Mensch und Mann. (M, S. 440)
Es handelt sich um eine „einverleibte Ordnung von Haltungs- und Führungsregeln, von angeeigneten, (...) fast bewusstlos gewordenen ‚Instinkten‘“, die sich „aus den Antrieben auskrystallisieren und, in Handlungen der Welt ausgesetzt, an ihr ausgelesen“ werden.
(M, S. 44)
Anhand solcher Anleitungen lassen sich nicht nur ungleiche soziale Arbeitsteilungen legitimieren – jeder kleinste Baustein sei noch „eine Tat der sachlich-disziplinierten Arbeit“, heißt es an einer Stelle, weshalb „jedes Attentat auf die Grundlagen dieses Systems verhindert werden muss“ (M, S. 397), sondern liefern auch die Versatzstücke heutiger Selbstoptimierungskonzepte. Gehlens Theorie hatte wesentlichen Einfluss auf die aufstrebende Soziologie der frühen Bundesrepublik, insbesondere auf den selbst in den Nationalsozialismus verstrickten Helmut Schelsky, auch wenn dieser mit seiner Vorstellung vom kontinuierlichen „stabilen Institutionenwandel“ in Konflikt mit seinem ehemaligen Lehrer geriet, was später zum Bruch führte.
Arnold Gehlen hat die in Der Mensch angelegte Institutionenlehre in Urmensch und Spätkultur (1956) weiterentwickelt. Sein dort sehr weiter Institutionenbegriff umfasst fast alle sachlichen und symbolischen Artefakte, von Kult und Religion über die Ehe bis hin zur Technik als „Organersatz“. Institutionen, ist er überzeugt, seien für den bedürftigen Menschen unabdingbar, um zu überleben und damit grundlegender Stabilisator menschlichen Daseins und Garant der Freiheit, wenn auch um den Preis der Entfremdung.
Inbegriff der Institution ist für ihn der Staat,
bekennt er in seiner Antrittsrede 1933 für den Lehrstuhl in Leipzig. Den Nationalsozialisten schlägt er vor, Staat und Philosophie in ein fruchtbares Verhältnis zu bringen.
Doch in der Moderne, so Gehlens Mantra seit den sechziger Jahren, seien die Institutionen von Zerfall bedroht, ausgehöhlt vom Werteverlust und zerrieben zwischen den „Superstrukturen“ der Weltgesellschaft (A+S, S. 156). Sie hätten die ihnen jeweils inhärente Ethik, etwa die des Militärs, aufgegeben zugunsten nicht-entlastender Ordnungskräfte. In kritischen Kulturepochen wie dem Spätkapitalismus – Epochen der gesellschaftlichen Kristallisation, wie es Gehlen nennt –, bildeten sich wertentleerte, zweckhafte Anpassungsprofile und Verhaltensweisen aus, „Schnittpunktexistenzen“ und „Funktionsträger“ (A+S, S. 250) übernehmen das Regiment.
Dabei ist Gehlen überzeugt, dass diese Entwicklung nicht umkehrbar ist und die Aufgabe der Kulturkritik nicht im „Traditionsprotest“ besteht (A+S, S. 234). Doch in scharfer Konfrontation mit der Studentenbewegung und in Ablehnung aller Demokratisierungsbestrebungen geißelt Gehlen die gesinnungsethische „Moralhypertrophie“ und den „Humanitarismus“, jene „überdehnte Hausmoral“, wie er in Moral und Hypermoral (1969) (18) schreibt, die die staatliche Ordnung unterminiere. (M+HM, S. 92) Die „zur ethischen Pflicht gemachte unterschiedslose Menschenliebe“ (M+HM, S. 79), die das „familiale Ethos in die großen rationalen Geschäfte“ überträgt, lehnte er als verantwortungslose Gefühlsduselei ab. In dieser Kampfschrift ist auch von der „Ideologie vom guten Menschen“ die Rede, inkarniert in der Figur des krittelnden Intellektuellen: Vorlage für den heutig abfällig gebrauchten Begriffs des „Gutmenschen“.
Mit den hier angedeuteten kulturkritischen Bestandsaufnahmen und der anthropologisch inspirierten, aber politisch gedachten konservativen Ordnungspolitik fand Arnold Gehlen in der Nachkriegszeit als gefragter Redner und Essayist und als Beirat in unternehmernahen Stiftungen breite Resonanz. Und er hatte wegweisende Adepten aus der jüngeren Generation, allen voran Armin Mohler. Dieser widmete den ersten Leitartikel in Criticón, einem 1970 gegründeten, frühen Umschlagplatz für rechte Publizistik, Gehlens Moral und Hypermoral und nahm ihn zum Anlass, gegen die „Verwaschenheit“ linker Rhetorik zu polemisieren. „Die Auflösungserscheinungen in Staat und Gesellschaft“, heißt es dort, „nehmen so überhand, dass die Gegenwehr organisiert werden muss – und zwar vor allem auch geistig.“ (19)
5. Rechte Rezeption:
Anti-Rousseau für die „Gegnerbekämpfung“
In dieser Form der „geistigen Gegenwehr“ nehmen auch Mohlers ideologische Nachfahren die „Wegmarke“ Gehlen (Mohler) in Besitz. Wenig verwunderlich ist es Karlheinz Weißmann, der seine dünne Gehlen-Hommage ab 2004 im rechten Publizistiklager einem geneigten Publikum andient. Unter dem Stichwort „Die heroische Existenz des Geistigen“ legt er im Januar 2004 der Leserschaft der Jungen Freiheitdie Wiederentdeckung Gehlens ans Herz, in einem Gastbeitrag für dieSezessionfährt er Gehlen (einführend sogar mit dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann) auf, um ihn als Gegner eines nun globalen „Humanitarismus“ in Stellung zu bringen. (20) Das Buch der Wahl ist Moral und Hypermoral, auf das in der Folgezeit auch andere Autoren Bezug nehmen, wobei Weißmann zumindest in der Jungen Freiheit gleich eine umfassende Einführung in Gehlens Werk mitliefert. Das Leben des Soziologen ist dem Autor Beleg dafür, dass es auch eine „‚heroische‘ Existenz im Geistigen geben kann.“ Die Sezession wiederum nutzt Weißmann bis 2011 als Plattform, um Restbestände seiner Gehlen-Monografie aufzubereiten.
Auch Götz Kubitschek zelebriert im entsprechenden Schwerpunktheft derSezession sein Gehlen-Erlebnis: „Es ist erhebend, seine Gedanken zu begreifen.“ Mit Gehlen, hebt er seinen neuen Gewährsmann aufs Schild, habe die politische Rechte „jenen Anti-Rousseau, den sie für ihre Gegnerbekämpfung eigentlich so dringend benötigt.“ Er rühmt die Institutionenlehre Gehlens, die dem Menschen abspreche „in jeder Situation ‚sachgerecht‘ zu handeln“ und deshalb eine „‚Außenstabilsierung‘ im Sinne der institutionellen Organisationen“ erfahren müsse. „Was hier aufgeworfen wird, sind die Fragen der Grenzen der Freiheit des Einzelnen vor den Ansprüchen des Ganzen, nach Erziehungsmodellen, Hierarchien, Verboten, nach der Disziplinarmacht und der Gefahr der Erstarrung.“
Den Institutionen allerdings wohne bereits die Tendenz zu ihrem Verfall inne, weshalb eine rein konservative Kulturkritik ins Leere gehe. Und Kubitschek zitiert den immer wieder aufgerufenen Passus aus Moral und Hypermoral über den Staat:
„Seit der Antike bezeichnet das Wort ein Gebilde, dessen Sinn letzten Endes nur als rational organisierte Selbsterhaltung eines geschichtlich irgendwie zusammengekommenen Zusammenhangs von Territorium und Bevölkerung bestimmt werden kann. Es ist die bedeutendste geschichtliche Leistung einer Nation, sich überhaupt als eine so verfaßte geschichtliche Einheit zu halten, und den Deutschen ist es nicht geglückt.“ (M+HM, S. 103)
Damit sind die Markierungspunkte gesteckt, an denen entlang sich die künftige rechte Gehlen-Rezeption entlanghangelt: Anti-liberaler Affekt, Anti-Individualismus, autoritär-disziplinierende Außenleitung, Leistungsethos und das Primat der Nation unter Ablehnung aller „Superstrukturen“. Gefeiert wird Gehlen aber auch als Theoretiker der „Kälte“, dessen Blick unbestechlich die „Wärmestuben des Liberalismus“ samt ihrer „Moralhypertrophie“ entlarvt. Ab 2010 ist Gehlen im rechten Diskurs offenbar so weit verankert, dass er nunmehr als publizistischer Stichwortgeber in Dienst genommen werden kann, gleichgültig ob es um die Zukunft Deutschlands, Einwanderungspolitik, das Militär oder sogar Genderfragen und „Kopftuchmädchen“ (21) geht.
Zusammen mit dem österreichischen Identitären Martin Lichtmesz und mit Erik Lehnert, Geschäftsführer des Instituts für Staatspolitik, puzzelt sich diese recht elitär und elaboriert auftretende Gehlen-Gemeinde einen Theoriebaukasten zusammen, der sie einerseits anschlussfähig macht an die Mainstream-Diskurse (22), mittels eklektizistischer Lesarten gleichzeitig aber auch das liberale Lager provoziert. Mit der Aufnahme Arnold Gehlens in das von Lehnert und Weißmann herausgegebene „Staatspolitische Handbuch“ (Bd. 3, Vordenker) hieven die neurechten Ideologen den konservativen Denker endgültig in ihren Olymp. Der Informationsbrief der Bibliothek des Konservatismus widmete Gehlen 2017 ein ausführliches Porträt mit dem zustimmenden Hinweis auf Herbert Schnädelbach, „der seinen linken Mitstreitern ins Stammbuch schrieb, man solle immer bedenken, dass Gehlen recht gehabt haben könnte.“ (23)
Auch einzelne Vertreter der AfD entdecken Arnold Gehlen für sich. Marc Jongen, Philosoph und ehemaliger Assistent von Peter Sloterdijk in Karlsruhe und seit 2017 Bundestagsabgeordneter der AfD, bringt Gehlen ins Spiel wenn er gegen das „68er verseuchte Deutschland“ (24) interveniert, die Asyl- und Ausländerpolitik der Merkel-Regierung geißelt und Gehlens „Extremismus der Ordnung“ (Rehberg) als Waffe gegen die gesellschaftliche Destabilisierung gezückt sehen will. (25) Es darf allerdings bezweifelt werden, dass ein Fanatiker der Ordnung, wie es Arnold Gehlen tatsächlich war, sich gerne hätte von Leuten einverleiben lassen, die selbst nichts anderes im Sinn haben als zu destabilisieren, gleichgültig, ob er mit dem liberalen Grundkonsens der bestehenden Ordnung einverstanden war.
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- Vgl. Andreas Höntsch: „Die institutionelle Bestimmtheit sozialer Systeme – Niklas Luhmanns Systemtheorie und die Soziologie der Leipziger Schule“, Berlin 2018.
- Karlheinz Weißmann: „Arnold Gehlen – Vordenker eines neuen Realismus“, Bad Vilbel 2000. Seit September 2017 gibt Weißmann die von der „Förderstiftung konservative Bildung und Forschung“ finanzierte Zeitschrift „Cato – Magazin für neue Sachlichkeit“ heraus.
- Vgl. hierzu Volker Weiß: „Die autoritäre Revolte– Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes“, Stuttgart 2007, S. 16ff.
- Karlheinz Weißmann: „Arnold Gehlen – Vordenker eines neuen Realismus“, Bad Vilbel 2000, S. 7.
- Christian Graf von Krockow: „Die Deutschen in ihrem Jahrhundert“, Reinbek 1990, S. 362.
- Theodor W. Adorno: „Arnold Gehlen: Drei Rundfunkgespräche“, in: Theodor W. Adorno: „Kultur und Verwaltung – Vorträge und Gespräche“, Produktionen des Südwestrundfunks (6 CDs), München 2008.
- So behauptet jedenfalls der in der Bundesrepublik wirksam werdende Gehlen-Assistent Helmut Schelsky, in: Helmut Schelsky: „Rückblicke eines ‚Anti-Soziologen‘’’, Opladen 1981.
- Der Staat und die Philosophie in: Arnold Gehlen: „Philosophische Schriften 2“, hg. von Lothar Samson, Frankfurt 1980.
- Zum Werdegang und Wirken Gehlens im Nationalsozialismus ausführlich Gerwin Klinger: „Die Modernisierung des NS-Staates aus dem Geist der Anthropologie – Die Konzepte „Zucht“ und „Leistung“ bei Arnold Gehlen“. In: Wolfgang Bialas/Manfred Gangl: „Intellektuelle im Nationalsozialismus“, Frankfurt u. a. 2000, S. 299–324.
- Christian Thies: „Arnold Gehlen zur Einführung“, Hamburg 2000, S. 16. Dies gilt insbesondere für die nach dem Krieg getilgten Kapitel aus „Der Mensch“, Spuren lassen sich aber auch in der heute kursierenden Fassung nachweisen.
- Arnold Gehlen: „Der Mensch – Seine Natur und seine Stellung in der Welt“, in: Arnold Gehlen: „Gesamtausgabe“, hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Teilband 3.1, Frankfurt 1993. Die Zitate folgen dieser Ausgabe letzter Hand von 1962, die sich inhaltlich im Wesentlichen mit der stark bearbeiteten Ausgabe von 1950 deckt. Im Folgenden zitiert als „M“.
- Alle für Gehlen wesentlichen Begriffe im Folgenden kursiv.
- Der Begriff ist bei Gehlen zentral und bedeutet in einem sehr weit bestimmten Sinn die Entwicklungsfähigkeit und Formbarkeit der menschlichen Antriebe.
- Arnold Gehlen: „Anthropologische und sozialpsychologische Studien“. Reinbek 1986, darin der Teil „Sozialpsychologie“ (identisch mit: „Die Seele im technischen Zeitalter“); im Folgenden zitiert als „A+S“.
- Anknüpfend an Johann Gottfried Herder räumt Gehlen der „Sprachmäßigkeit des menschlichen Leistungsaufbaus“ und der Phantasie in Der Mensch breiten Raum ein, der Philosoph Nicolai Hartmann hielt dies sogar für das „Zentralstück des ganzen Werkes“. Gehlens Theorie der Sprache, so Gehlen-Herausgeber Rehberg, sei bis heute nicht genügend ausgewertet worden. Für den hier verhandelten neurechten Diskurs spielt dieser Teil jedoch eine zu vernachlässigende Rolle.
- Vgl. GA 2, S. 695–743;
- Der Staat und die Philosophie in: „Arnold Gehlen: Philosophische Schriften 2“, hg. von Lothar Samson, Frankfurt 1980, S. 301.
- Arnold Gehlen: „Moral und Hypermoral – Eine pluralistische Ethik“, Frankfurt 1969. Im Folgenden zitiert als „M+HM“.
- zitiert nach: Moritz Neuffer/Morten Paul: „Rechte Hefte – Zeitschriften der alten und Neuen Rechten nach 1945“. Eurozine 7, November 2018, https://www.eurozine.com/rechte-hefte/, abgerufen am 15. 8. 2019.
- Vgl. Junge Freiheit vom 30. 1. 2004, Sezession 4/2004, flankiert wird der Beitrag in der Sezession von einem durchaus informativen Gastbeitrag von Reinhard Pitsch, der die „Tragik Gehlens und der Marxisten“ in den Blick nimmt.
- In diesem Zusammenhang kommen auch Frauen zu Wort, Sophie Liebnitz etwa und die Aktivistin der Identitären Bewegung, Caroline Sommerfeld-Lethen, die mit ihrem zusammen mit Martin Lichtmesz verfassten Buch „Mit Linken leben“ 2017 für publizistischen Aufruhr sorgte.
- Ein prominentes Beispiel dafür ist der in der Sezession veröffentlichte Briefwechsel zwischen Claus Leggewie und Götz Kubitschek 2016, in dem es am Rande auch um Gehlen geht.
- „Agenda – Informationsbrief der Bibliothek des Konservatismus 6/2017“, S. 2f.
- Vgl. „Man macht sich zum Knecht“, Interview mit Marc Jongen in: Die Zeit vom 25. 5. 2016
- Vgl. Klaus-Peter Hufer: „Neue Rechte, altes Denken – Ideologie, Kernbegriffe und Vordenker“, Weinheim 2018, S. 85f.
Die Autorin:
Ulrike Baureithel M.A. studierte Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und hat zahlreiche Aufsätze zur Literatur und Geschichte der Weimarer Republik veröffentlicht. Sie war 1990 Mitgründerin der Wochenzeitung „Freitag“ und arbeitet heute als freie Journalistin, Fachlektorin und Lehrbeauftragte an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Veröffentlicht: 26. September 2019