Mus­lim­bru­der­schaft: Eine gut orga­ni­sierte Minderheit

Demons­tran­ten zeigen in Paris den R4bia-Gruß, der als Erken­nungs­zei­chen der Mus­lim­bru­der­schaft gilt. Foto: Guil­laume Louyot Onickz Artwork/​shutterstock

Die Mus­lim­bru­der­schaft ist ein ein­fluss­rei­ches Netz­werk des lega­lis­ti­schen Isla­mis­mus, das sich im Westen durch eine hohe Ver­schwie­gen­heit aus­zeich­net. Eine neue Publi­ka­tion geht den Struk­tu­ren der Mus­lim­brü­der auf den Grund.

Über den orga­ni­sier­ten Isla­mis­mus zu spre­chen scheint häufig gar nicht so einfach zu sein. Da ist zunächst das Ver­hält­nis von Isla­mis­mus und Islam. Manche neigen hier zur pau­scha­len Ver­men­gung, andere hin­ge­gen prak­ti­zie­ren eine fein­säu­ber­li­che, in ihrer Abso­lut­heit aller­dings kon­tra­fak­ti­sche Tren­nung. Dazu kommt die Frage, welche isla­mis­ti­schen Akteure ein wie hohes Risiko für die libe­rale Demo­kra­tie, die plu­ra­lis­ti­sche Gesell­schaft und die öffent­li­che Sicher­heit dar­stel­len und ob sie deshalb etwa auch in die Ver­fas­sungs­schutz­be­richte auf­ge­nom­men werden sollten.

Beson­ders schwie­rig ist die Gemenge­lage bei der Mus­lim­bru­der­schaft – einem ein­fluss­rei­chen Geheim­netz­werk des lega­lis­ti­schen Isla­mis­mus, das sich im Westen durch noto­ri­sche Ver­schwie­gen­heit sowie durch schwer zu durch­schau­ende Struk­tu­ren und Bezie­hungs­ge­flechte aus­zeich­net. Es ist ein Ver­dienst des Isla­mis­mus-For­scher Lorenzo Vidino, seit Jahren zu dieser Bewe­gung zu for­schen und zu publi­zie­ren. Mit The Closed Circle. Joining and Leaving the Muslim Brot­her­hood in the West hat der Direk­tor des „Program on Extre­mism“ an der George Washing­ton Uni­ver­sity nun sein zweites Buch zur Mus­lim­bru­der­schaft vorgelegt.

Auf abwä­gende und unauf­ge­regte Weise ana­ly­siert Vidino darin, wie die Mus­lim­bru­der­schaft in den west­li­chen Ländern orga­ni­siert ist. In der Vor­gän­ger­pu­bli­ka­tion The New Muslim Brot­her­hood in the West (CUP, 2010) ging es ihm noch stärker um deren Geschichte, Metho­den, Hal­tun­gen und Ziele sowie die Reak­tio­nen west­li­cher Regie­run­gen auf die Bewe­gung. Um mehr über die inneren Dyna­mi­ken in den Struk­tu­ren zu erfah­ren, hat Vidino für The Closed Circle mit sieben ehe­ma­li­gen Mit­glie­dern der Mus­lim­bru­der­schaft gespro­chen. Alle Inter­view­part­ner waren in den letzten Jahr­zehn­ten in ver­schie­de­nen Ländern aktiv, ihre Rolle reichte vom Top­funk­tio­när bis hin zur Mit­läu­fe­rin. Die Auswahl deckt eine große Band­breite an sozio-öko­no­mi­schen Hin­ter­grün­den und per­sön­li­chen Bio­gra­phien ab.

Natio­nale Eigendynamiken

Gegrün­det wurde die Mus­lim­bru­der­schaft 1928 in Ägypten durch Hassan al-Banna. Seitdem hat sie die poli­ti­schen, reli­giö­sen und sozia­len Ent­wick­lun­gen im ara­bi­schen Raum maß­geb­lich geprägt und auch die mus­li­mi­schen Com­mu­ni­ties darüber hinaus, auch im Westen, tief­grei­fend beein­flusst. Die von der Mus­lim­bru­der­schaft ver­tre­tene Auf­fas­sung vom Islam als lücken­lo­sem und umfas­sen­den System, das alle Aspekte des pri­va­ten und öffent­li­chen Lebens regelt, habe welt­weit Gene­ra­tio­nen von Isla­mis­ten inspi­riert – sowohl jene, die gewalt­frei agieren, als auch solche, die zur Durch­set­zung ihrer Ziele Gewalt anwen­den, wie Vidino anhand von einigen Bio­gra­phien zeigt.

Im Westen aktiv ist die Mus­lim­bru­der­schaft seit den späten 1950ern und frühen 60ern, als sich kleine ver­ein­zelte Gruppen von Akti­vis­ten aus dem Nahen Osten in ver­schie­de­nen euro­päi­schen und nord­ame­ri­ka­ni­schen Städten nie­der­lie­ßen – aller­dings nicht in gemein­sa­mer Abstim­mung, sondern unab­hän­gig von­ein­an­der, wie Vidino betont. Nicht selten lag der Grund für die Emi­gra­tion auch in der Repres­sion gegen­über dem Mus­lim­bru­der­schaft im Nahen Osten begrün­det, die bis heute in manchen Ländern anhält bzw. wie­der­erstarkt ist. In Ägypten, Saudi Arabien und den Ver­ei­nig­ten Ara­bi­schen Emi­ra­ten ist die Mus­lim­bru­der­schaft seit einigen Jahren als Ter­ror­or­ga­ni­sa­tion verboten.

Vidinos Studie macht deut­lich, dass die Netz­werke, Struk­tu­ren und Tak­ti­ken der Mus­lim­bru­der­schaft sowohl im Westen als auch im Nahen Osten stark von den poli­ti­schen Rah­men­be­din­gun­gen und Ent­wick­lun­gen vor Ort geprägt sind. Aus diesem Grund hält er den häufig ver­wen­de­ten Begriff „Ableger“ für irre­füh­rend, da dieser sug­ge­riert, die natio­na­len Netz­werke seien einer Schalt­zen­trale im Ursprungs­land Ägypten ope­ra­tiv unter­ge­ord­net. Gleich­zei­tig begrei­fen sich die Akteure als Teil einer grö­ße­ren Familie, die über ein welt­wei­tes Netz orga­ni­sa­to­ri­scher, per­sön­li­cher und finan­zi­el­ler Ver­flech­tun­gen mit­ein­an­der ver­bun­den ist.

Zudem zeichne sich das weitere Netz­werk durch eine bestimmte Form des isla­mis­ti­schen Akti­vis­mus aus, für welche die die Mus­lim­bru­der­schaft zen­trale Inspi­ra­ti­ons­quelle ist. In diesem Sinne habe schon der Gründer Hassan al-Banna nicht für eine welt­weit ein­heit­lich auf­ge­bau­ten Orga­ni­sa­tion, sondern für die Eta­blie­rung einer glo­ba­len Bewe­gung plä­diert. Ent­spre­chend zitiert Vidino auch einen frü­he­ren Anfüh­rer der ägyp­ti­schen Mus­lim­bru­der­schaft, der meinte, dass jeder, der an den Weg der Bru­der­schaft glaube, auch als Teil von ihnen ange­se­hen werde. Andere hoch­ran­gige Mit­glie­der cha­rak­te­ri­sier­ten die Bewe­gung als „geteilte Denk­weise“ und als „inter­na­tio­nale Denkschule“.

Eine gut orga­ni­sierte Minderheit

Im Westen begann die Mus­lim­bru­der­schaft im Laufe der Zeit die hie­si­gen mus­li­mi­schen Gemein­schaf­ten an ihr reak­tio­nä­res, fun­da­men­ta­lis­ti­sches Islam­ver­ständ­nis her­an­zu­füh­ren. Ermög­licht durch groß­zü­gige Spenden aus Golf­staa­ten wie Katar ent­stand dabei ein immer größer wer­den­des Netz­werk bestehend aus wenigen kleinen Kern­grup­pen, von unter Kon­trolle der Mus­lim­bru­der­schaft ste­hen­den Orga­ni­sa­tio­nen sowie von ihr beein­fluss­ten Akteu­ren. Die Akti­vi­tä­ten dieses Netz­wer­kes umfas­sen Vidino zufolge Bil­dungs- und Wohl­tä­tig­keits­an­ge­bote, finan­zi­elle Dienst­leis­tun­gen oder poli­ti­sche Lobbyarbeit.

Darüber hinaus gelang es dem west­li­chen Mus­lim­bru­der­schaft-Netz­werk immer wieder, von Behör­den und Zivil­ge­sell­schaft als bevor­zug­ter Ansprech­part­ner für Islam-Ange­le­gen­hei­ten her­an­ge­zo­gen zu werden. „Ange­sichts dieser Ent­wick­lung ist es gerecht­fer­tigt, beim Wett­be­werb um die Reprä­sen­ta­tion der west­li­chen Muslime vom rela­ti­ven Sieg einer gut orga­ni­sier­ten Min­der­heit über andere, weniger orga­ni­sierte Min­der­hei­ten zu spre­chen, die der schwei­gen­den Mehr­heit eine Stimme ver­leiht“, resü­miert Vidino.

Zentral für Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren Mus­lim­bru­der­schaft im Westen ist die elitäre, streng geheim gehal­tene Kern­bru­der­schaft usra („Familie“). Dieser kleins­ten orga­ni­sa­to­ri­schen Einheit gehören Vidino zufolge fünf bis zehn bei­trags­pflich­tige Mit­glie­der an, die sich dann wie­derum in Regio­nal- und Lan­des­ver­tre­tun­gen orga­ni­sie­ren. Der Rekru­tie­rungs­pro­zess für die usra zieht sich in der Regel über Jahre hinweg hin und findet anfangs mit­un­ter ohne die Kennt­nis der Rekru­tier­ten selbst statt. Einer von Vidinos Inter­view­part­nern, der schwe­di­sche Ex-Mus­lim­bru­der Pierre Durrani, beschreibt das so: „Im Grunde habe ich einer Orga­ni­sa­tion gehol­fen, von deren Exis­tenz ich nichts wusste.“

Im Laufe der Zeit fun­giere die usra als das engste soziale Umfeld der Mus­lim­brü­der. So stu­die­ren die Mit­glie­der der usra auf ihren wöchent­li­chen Treffen nicht nur die Schrif­ten zen­tra­ler Ideo­lo­gen wie Yusuf al-Qara­dawi oder Sayyid Qutb, sondern gewäh­ren sich auch Unter­stüt­zung in per­sön­li­chen oder finan­zi­el­len Ange­le­gen­hei­ten. Ent­spre­chend weit­rei­chend ist dann die soziale Mar­gi­na­li­sie­rung und Ächtung von Ex-Mit­glie­dern nach ihrem Aus­tritt. Gleich­zei­tig, und das machen die von Vidino por­trai­tier­ten Ehe­ma­li­gen eben­falls deut­lich, muss ein Aus­stieg aus der Mus­lim­bru­der­schaft und ihren Netz­werk nicht unbe­dingt eine voll­stän­dige Abwen­dung vom Islam oder auch vom Isla­mis­mus bedeuten.

Der genaue Blick

Ein beson­ders inter­es­san­ter Fall aus Vidinos Buch ist der von Kamal Helbawy. Geboren 1939 in Ägypten, geriet Helbawy schon als Schüler in Kontakt mit der Mus­lim­bru­der­schaft und gehörte zur ersten Gene­ra­tion der Mus­lim­brü­der in Europa. 1972 wurde er Exe­cu­tive Direc­tor der World Assem­bly of Muslim Youth (WAMY). „Da wir uns global aus­brei­ten mussten, haben wir Feri­en­camps für Jugend­li­che eta­bliert und sie mit Hilfe von Büchern und Akti­vi­tä­ten über den Islam unter­rich­tet. Wir haben uns außer­dem um die mus­li­mi­schen Jugend- und Stu­den­ten­or­ga­ni­sa­tio­nen geküm­mert. Das hat mir die Mög­lich­keit gegeben, welt­weit zu agieren“, erzählt Helbawy.

Maß­geb­lich betei­ligt war Helbawy Ende der 1990er am Aufbau des Muslim Council of Britain (MCB), einer Dach­or­ga­ni­sa­tion zur Reprä­sen­ta­tion der bri­ti­schen Muslime, deren Füh­rungs­riege Vidino zufolge von Beginn an von Isla­mis­ten domi­niert war. Die von Helbawy eben­falls zu dieser Zeit mit­ge­grün­dete Muslim Asso­cia­tion of Britian (MAB) hin­ge­gen stelle Vidino zufolge eine „Mus­lim­bru­der-Orga­ni­sa­tion in Quint­essenz“ dar. Die MAB wurde zudem ein wich­ti­ges Mit­glied der Fede­ra­tion of Islamic Orga­ni­sa­ti­ons in Europe (FIOE), der bis heute bestehen­den, so Vidino, „pan-euro­päi­schen Dach­or­ga­ni­sa­tion der west­li­chen Mus­lim­brü­der“ mit Sitz in Brüssel.

Inter­views mit ehe­ma­li­gen Mus­lim­brü­dern aus Deutsch­land haben keinen Eingang in „The Closed Circle“ gefun­den, da es nicht gelun­gen sei, pas­sende Inter­view­part­ner zu gewin­nen. Inso­fern beschrän­ken sich die Erkennt­nisse von Vidinos Studie auf Ein­zel­per­so­nen und Netz­werke in Groß­bri­tan­nien, Däne­mark, Schwe­den, Frank­reich und den USA. Dennoch stellt „The Closed Circle“ eine Grund­lage für die poli­ti­sche und mediale Debatte auch zu den hie­si­gen Struk­tu­ren der Mus­lim­bru­der­schaft bereit. „The Closed Circle“ zeich­net sich durch einen nüch­ter­nen und genauen Blick auf ein kom­pli­zier­tes Geflecht aus Orga­ni­sa­tio­nen und Ein­zel­per­so­nen aus.


Lorenzo Vidino: The Closed Circle. Joining and Leaving the Muslim Brot­her­hood in the West. Colum­bia Uni­ver­sity Press 2020.

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