Man wird doch wohl noch sagen dürfen?“ – Die bedrohte Mei­nungs­frei­heit als Papiertiger

Ver­schwö­rungs­theo­rien in frag­wür­di­ger Ortho­gra­fie: Auch das ist in Deutsch­land erlaubt. Foto: RechercheNetzwerk.Berlin

Rechts­extreme Agi­ta­to­ren bekla­gen ein Demo­kra­tie­de­fi­zit und die Ein­schrän­kung der Mei­nungs­frei­heit. Dabei geht es ihnen im Kern darum, die Grund­re­geln unseres demo­kra­ti­schen Zusam­men­le­bens fun­da­men­tal infrage zu stellen.


Die rechts­extreme Rhe­to­rik ist voll von einem Geraune darüber, dass die Mei­nungs­frei­heit in der Bun­des­re­pu­blik bedroht sei. Fast jede poli­ti­sche Dis­kus­sion, in der es um Kritik an Anti­se­mi­tis­mus, Ras­sis­mus oder Anti­fe­mi­nis­mus geht, wird von rechter Seite abge­wehrt mit dem Verweis auf die Mei­nungs­frei­heit: „Man wird doch wohl noch sagen dürfen?“. Wenn man einen empi­ri­schen Blick auf diese Debat­ten wirft, stellt man fest, dass auf die flos­kel­hafte Bezug­nahme auf die Mei­nungs­frei­heit stets die Arti­ku­la­tion all jener Res­sen­ti­ments folgt, von denen unter­stellt wird, man dürfe sie öffent­lich nicht äußern. So ent­steht die Para­do­xie, dass unter dem Ticket einer angeb­lich bedroh­ten Mei­nungs­frei­heit unzäh­lige Posi­tio­nie­run­gen in der öffent­li­chen Debatte mehr und mehr Raum ein­neh­men, die sich gegen fun­da­men­tale Prin­zi­pien der Demo­kra­tie richten, etwa gegen die Unan­tast­bar­keit der Men­schen­würde (Art. 1 GG) oder das Gleich­heits­ge­bot und Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bot (Art. 3 GG). Mei­nungs­frei­heit ist aber ein grund­ge­setz­li­ches Abwehr­recht, so dass fast alle „Debat­ten“, die die extreme Rechte zu diesem Thema anzet­telt, rein gar nichts mit Fragen der Mei­nungs­frei­heit zu tun haben. Sie ist ein rhe­to­ri­sches Ticket, um die Demo­kra­tie zu dele­gi­ti­mie­ren und zu destabilisieren.

Es geht den rechts­extre­men Agitator/​innen grund­sätz­lich nicht um Debat­ten mit dem Ziel des Aus­tau­sches von gleich­be­rech­tig­ten Posi­tio­nen, bei der alle prin­zi­pi­ell bereit wären, sich durch (bessere) Argu­mente über­zeu­gen zu lassen – es geht um emo­tio­nale Über­wäl­ti­gung, die sich für Fakten nicht inter­es­siert und sie, wenn über­haupt, nur instru­men­tell ein­setzt. Diesen Kampf gegen die Demo­kra­tie führen die völ­ki­schen Rebell/​innen als fana­ti­sche Dauerwahlkämpfer/​innen. Sie leben von einem selbst­in­sze­nier­ten und hoch emo­tio­na­li­sier­ten Dau­er­wahl­kampf – der nur in seiner Unsach­lich­keit, Unse­rio­si­tät und Emo­tio­na­li­tät erfolg­reich sein kann, weil die Beschleu­ni­gung, die der Wahl­kampf­mo­dus bietet, Ver­stand und Ver­nunft sus­pen­diert und Fakten und Wissen allei­nig dem affek­ti­ven Willen zur Macht unter­ge­ord­net werden.

Dieser Modus des Dau­er­wahl­kamp­fes, der auch und gerade in den Arenen des Inter­nets geführt wird, ist ein Kampf um kul­tu­relle Hege­mo­nie für völ­ki­sche Posi­tio­nen, der als Kampf um Mei­nungs­frei­heit getarnt wird – auf­grund des Ver­schwö­rungs­glau­bens in der rechten Szene bis­wei­len auch in dem tat­säch­li­chen Glauben, es würde eine unge­recht­fer­tigte Ein­schrän­kung der Mei­nungs­frei­heit in Deutsch­land geben, wie es etwa der rechte Kampf­be­griff der Poli­ti­cal Cor­rect­ness doku­men­tiert. Dass es sich dabei um ein fal­sches, weil aus­schließ­lich instru­men­tel­les Ver­ständ­nis von Mei­nungs­frei­heit handelt, bei dem ledig­lich anti­de­mo­kra­ti­sche und anti­plu­ra­lis­ti­sche Posi­tio­nen wieder salon­fä­hig gemacht werden sollen, igno­riert, dass es Kern einer Demo­kra­tie ist, die poli­ti­schen und recht­li­chen Grenzen des Sag­ba­ren zu defi­nie­ren, um ihren eigenen Bestand zu garantieren.

Ange­sichts der maß­geb­lich durch die Digi­ta­li­sie­rung beding­ten Beschleu­ni­gung des Alltags in Demo­kra­tien am Beginn des 21. Jahr­hun­derts stehen poli­ti­sche Akteu­rin­nen und Akteure in der Öffent­lich­keit unter einem gefühl­ten Druck, schnell und poin­tiert auf Ereig­nisse reagie­ren zu müssen – und zwar Akteu­rin­nen und Akteure aller poli­ti­schen Par­teien, also nicht nur der­je­ni­gen, die den Modus des emo­tio­na­li­sier­ten Dau­er­wahl­kamp­fes für sich rekla­mie­ren. Inso­fern ist nicht die Form der damit ver­bun­de­nen Arti­ku­la­tion (der Popu­lis­mus) zentral, sondern der auf diesem Weg trans­por­tierte Inhalt; die Frage danach, welche Ziele ange­strebt werden und ob diese demo­kra­tisch oder anti­de­mo­kra­tisch sind. Das Ver­ständ­nis von Demo­kra­tie sollte dabei nicht auf eine rein formale Dimen­sion ver­kürzt werden, der zufolge ein System als demo­kra­tisch gilt, allein weil es Wahlen gibt. Bei der Beur­tei­lung, ob poli­ti­sche Inhalte demo­kra­tisch oder anti­de­mo­kra­tisch sind, ist die Frage nach dem Wesens­kern von Demo­kra­tie bedeutsam.

Der ver­fas­sungs­recht­li­che Mini­mal­kon­sens basiert auf dem Ver­ständ­nis des Ver­hält­nis­ses von dēmos (griech.; Volk/​smasse) und krateĩn (griech.; herr­schen). Die meisten euro­päi­schen Demo­kra­tien beant­wor­ten beide Ele­mente so, dass ein völ­ki­sches Volks­ver­ständ­nis abge­lehnt wird und dass die Herr­schaft auf reprä­sen­ta­ti­vem Weg erfolgt. Das heißt aber auch, dass eine Demo­kra­tie, die sich wie bei­spiels­weise die bun­des­deut­sche als „wehr­haft“ ver­steht, nicht so naiv sein darf zu glauben, man müsste rechts­extre­men For­de­run­gen allein, weil sie exis­tie­ren, Gehör schen­ken – geschweige denn ihnen folgen. Denn nicht, wer am lau­tes­ten schreit, darf sich durch­set­zen, sondern nur, wer auf reprä­sen­ta­ti­vem Weg Mehr­hei­ten erlangt. Genau deshalb muss eine wehr­hafte Demo­kra­tie anti­de­mo­kra­ti­sche Posi­tio­nen aus­gren­zen, weil diese gegen den sub­stan­zi­el­len Kern der Demo­kra­tie ver­sto­ßen und sie fak­tisch abschaf­fen wollen.

Damit ver­bun­den ist die Schlüs­sel­frage, ob Popu­lis­mus auf Demo­kra­tie­de­fi­zite – seien es formale und/​oder inhalt­li­che – hin­weist. Mit Blick auf formale Defi­zite, also etwa in Ver­fah­rens­fra­gen, ist fest­zu­hal­ten, dass es allein noch kein pro­ze­du­ra­ler Mangel ist, wenn Men­schen nicht willens oder in der Lage sind, im demo­kra­ti­schen Rahmen zu par­ti­zi­pie­ren. Es zeigt nur, dass bei denen, die nicht wissen, wie sie umfang­reich par­ti­zi­pie­ren könnten, ein zu gerin­ges Maß an Kom­pe­tenz und damit an poli­ti­scher Bildung zu attes­tie­ren ist. Wenn es aber tat­säch­lich pro­ze­du­rale Mängel in den west­li­chen Demo­kra­tien geben sollte (was ja sein kann), dann müsste man sie klar und ratio­nal benen­nen können – die rechten Agi­ta­to­rin­nen und Agi­ta­to­ren haben dies noch nie getan. Auch wenn rechte Par­teien mitt­ler­weile (wieder) Wahl­er­folge erzie­len, geht es ihnen im Kern nicht darum, durch kon­struk­tive Arbeit Mehr­hei­ten zu erzie­len, sondern darum, Wege zu finden, um ihre ego­is­ti­schen Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen durch­zu­set­zen. Es geht ihnen eben nicht um den realen Willen des Volkes, sondern um den unter­stell­ten (und erlo­ge­nen) Volks­wil­len – nicht um das, was empi­risch prüfbar und wirk­lich vor­han­den ist, sondern um das, was Rechte zum „Volks­wil­len“ erklä­ren: ihre eigene völ­ki­sche Welt­sicht. Im Kern geht es bei dem anti­par­la­men­ta­ri­schen Affekt der popu­lis­tisch agie­ren­den extre­men Rechten um das, was in der Wei­ma­rer Repu­blik schon der Staats­recht­ler Carl Schmitt – als einer der zen­tra­len Weg­be­rei­ter des Natio­nal­so­zia­lis­mus – for­derte: eine gelenkte Demo­kra­tie auf der Basis eines erfühl­ten (das heißt von den Rechten dik­tier­ten) „Volks­wil­lens“, der auf eth­ni­scher Homo­ge­ni­tät und einem kate­go­ria­len und mili­ta­ri­sier­ten Freund-Feind-Denken basiert.

Im Gegen­satz dazu wird über Fragen nach inhalt­li­chen Defi­zi­ten in einer par­la­men­ta­ri­schen, reprä­sen­ta­ti­ven Demo­kra­tie plu­ra­lis­tisch (mit immer wieder wech­seln­den Mehr­hei­ten) gestrit­ten. Es gibt einen plu­ra­lis­ti­schen Grund­kon­sens, den die extreme Rechte fun­da­men­tal infrage stellt; deshalb sind deren For­de­run­gen auch inhalt­lich anti­de­mo­kra­tisch und formal demo­kra­tie­fern. Als Demokrat/​in, die/​der die Ver­fas­sung als Mini­mal­kon­sens und das Prinzip des Plu­ra­lis­mus mit seinen Facet­ten der Ableh­nung völ­ki­schen Denkens ein­schließ­lich jeder Form von Essen­tia­lis­mus ver­tritt, muss man deshalb klar sagen, dass rechts­extreme Populist/​innen auch nicht auf inhalt­li­che Defi­zite hin­wei­sen, sondern viel­mehr diesen demo­kra­ti­schen Grund­kon­sens zer­stö­ren wollen, der da lautet: Man darf uneinig sein – aber eben nicht auf einer belie­bi­gen Grund­lage, da Demo­kra­tie eine Herr­schafts­form ist, die darüber ent­schei­den muss, wer ihre Grund­re­geln verletzt.

Unei­nig­keit basiert auf dem Prinzip des poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Plu­ra­lis­mus. Wer diesen nicht aner­kennt – und dazu gehört jede Form völ­ki­scher Homo­ge­ni­täts­fan­ta­sien, wie sie im völ­ki­schen Natio­na­lis­mus, Ras­sis­mus, Anti­se­mi­tis­mus oder Anti­fe­mi­nis­mus zum Aus­druck kommen – ver­lässt diese Grund­lage von Frei­heit und Gleich­heit. Deshalb sind die For­de­run­gen rechts­extre­mer Populist/​innen weder formal noch inhalt­lich geeig­net, tat­säch­li­che Demo­kra­tie­de­fi­zite zu benen­nen oder gar zu beheben; die Demo­kra­tie muss, um ihrer selbst willen, diese For­de­run­gen kon­se­quent aus­gren­zen und – mehr noch – rechts­extreme Populist/​innen als das bekämp­fen, was sie sind: nicht einfach Gegner, sondern Feinde der Demo­kra­tie. Wer aber solche Posi­tio­nen auf öffent­li­che Podien wie Fernseh-Talk­shows hebt, trägt nicht zu mehr Plu­ra­lis­mus bei, sondern dazu, dass die­je­ni­gen, die diesen Plu­ra­lis­mus abschaf­fen wollen, auch noch mit seinen Mitteln gegen ihn kämpfen können.


Eine aus­führ­li­chere Fassung des Bei­trags ist erschie­nen im „Jahr­buch für Anti­se­mi­tis­mus­for­schung“ Bd. 27 (2018).

Samuel Salz­born lehrt Poli­tik­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät Gießen. Anfang März erscheint sein neues Buch „Kol­lek­tive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deut­schen Erin­nern“ bei Hentrich & Hentrich.

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