Neue Rechte, altes Denken – Die liberale Demokratie und ihre Gegner
Unser Projekt beleuchtet die Ideengeschichte der antiliberalen Revolte von den 20er Jahren bis heute. Eine Handreichung.
Die liberale Demokratie steht unter Druck. Von außen durch selbstbewusst auftrumpfende autoritäre Regimes, von innen durch eine antiliberale Gegenbewegung, die in Amerika und einigen europäischen Staaten bis in die Regierung durchschlägt. Von einer „Lust zum Untergang“ sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Eröffnungsrede auf dem Politologen-Kongress 2018. Er warnte vor „einer sozial-moralischen Rage, mit der Gruppen regelrecht gegeneinander in den Kulturkampf ziehen“.
Die Revolte gegen die offene Gesellschaft, gegen kulturelle und ethnische Vielfalt, demokratische Gleichheit und Weltoffenheit hat eine lange Vorgeschichte. Ihren Höhepunkt erlebte sie in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Völkisch-nationalistische Vordenker eines „Dritten Reichs“ hatten maßgeblichen Einfluss auf die öffentliche Meinung. Autoren wie Armin Moeller van den Bruck, Oswald Spengler, Carl Schmitt und Ernst Jünger prägten den antiliberalen Zeitgeist. Ihr Wesen sei Verhandeln, klagte Carl Schmitt über die liberale Demokratie in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Parlamentarismus, Gewaltenteilung und universelle Rechte seien Erfindungen des Liberalismus, dagegen sei Demokratie an einen homogenen Volkskörper gebunden. Über „Artfremde“ schrieb Schmitt, sie würden „anders“ denken und müssten vom politischen Prozess ausgeschlossen werden. In Ungarn verkündet Viktor Orban heute stolz das Zeitalter der „illiberalen Demokratie“. In Italien ist eine ultrarechte, offen fremdenfeindliche Partei an der Regierung. Auch zeitgenössische antiliberale Ideologen wie Alexander Dugin oder Alain de Benoist beziehen sich auf die geistigen Vorkämpfer gegen die Demokratie der Zwischenkriegszeit.
Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik
Unser Projekt fällt zusammen mit dem 100. Jahrestag der Gründung der Weimarer Republik am 9. November 1918. Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, erinnert die heutige Debatte an die geistigen und politischen Kämpfe um die erste demokratische Republik in Deutschland. Dass die NS-Bewegung die Weimarer Republik überrennen konnte, lag nicht nur an der Weltwirtschaftskrise und der Uneinigkeit der demokratischen Parteien. Hitlers Machtübernahme war nur möglich, weil große Teile der Gesellschaft – gerade die Eliten in Wirtschaft, Justiz und Verwaltung – der liberalen Demokratie skeptisch bis feindselig gegenüberstanden.
Die Fundamente der Demokratie sind heute stabiler als in der Weimarer Republik. Das ist jedoch keine Garantie für die Zukunft. Populistische Bewegungen, antiliberales Denken und religiöser Fundamentalismus erfahren Zulauf. Ihre radikalen Ausläufer stellen sich offen gegen die freiheitliche Gesellschaftsordnung. Identitäre Bewegungen versprechen Halt und Stärke in einer homogenen Gemeinschaft. Diese Phänomene sind Teil einer „antiliberalen Konterrevolution“ (Timothy Garton Ash), die nicht von allein wieder abebben wird. Die fundierte Auseinandersetzung mit ihren tieferliegenden Ursachen und ideologischen Mustern ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Präventionsarbeit gegen religiösen und politischen Extremismus.
Diese langen Linien bewusst zu machen und Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik zu ziehen, ist ein zentrales Anliegen des Projekts „Die liberale Demokratie und ihre Gegner“. Es wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ und der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. Über die historische Dimension hinaus zielt es auf die aktuelle ideelle und politische Auseinandersetzung. Die Verständigung über die Grundlagen der liberalen Demokratie ist gerade für eine Einwanderungsgesellschaft von herausgehobener Bedeutung, die sich immer wieder auf ihre normativen Gemeinsamkeiten verständigen muss.
Die Extreme
Heute docken Zeitschriften wie die „Junge Freiheit“, das „Institut für Staatspolitik“, völkische Vordenker wie Alain de Benoist oder der russische Politphilosoph Alexander Dugin an die Traditionen der „konservativen Revolution“ an. Mit dem Auftreten neuer Protestbewegungen und politischer Parteien, die auch bürgerliche Schichten ansprechen, sind die Grenzen zwischen den radikalen Rändern des politischen Spektrums und der Mitte der Gesellschaft porös geworden. Anschluss an national-konservative bürgerliche Milieus zu gewinnen ist ein strategisches Ziel der „neuen Rechten“.
Gleichzeitig bahnt sich in zentralen politischen Streitfragen eine neue Querfront zwischen Rechtsextremen und einer populistischen Linken an. Das gilt für ihre ablehnende Haltung gegenüber EU und dem transatlantischen Bündnis, ihre Sympathien mit einem autoritären, neoimperialen Putin-Russland, die Frontstellung gegen die Globalisierung wie die polemische Gegenüberstellung von Volk und Eliten.
Hier wie dort gilt die liberale Demokratie nur als Maske für die Herrschaft des globalen Kapitals. Ein nationalistisch gefärbter Antikapitalismus ist die gemeinsame Klammer, die schon in der Weimarer Republik die radikale Linke mit der extremen Rechten verband. Beide setzen das Kollektiv gegen die Freiheit des Individuums. Es ist kein Zufall, dass eine Reihe prominenter Köpfe des rechtsextremen Lagers aus linksradikalen Strömungen der 70er Jahre kommen.
Auch der islamistische Extremismus ist eine Gegenbewegung zur liberalen Moderne. Er trifft unter Jugendlichen zunehmend auf Resonanz. Der islamistische Vordenker Sayyid Qutb (1906–66) lastet dem westlichen Liberalismus und seinen Verführungen an, dass weltweit Muslime in „Unwissenheit“ (Dschahilīya) zurückgefallen seien. Islamisten betrachten die liberale Gesellschaft als gottlose, dekadente Verirrung. Ihnen geht es um die Formierung von Staat und Gesellschaft nach Gottes Gebot. Ein buchstäblich verstandener, aus dem historischen Kontext herausgelöster Koran wird als Aufforderung gelesen, dieses Ziel falls nötig mit Gewalt (Dschihad) durchzusetzen.
Die antiliberalen Gegenbewegungen sind ein Reflex auf die Verunsicherung durch fundamentale Veränderungen: Globalisierung, Digitalisierung der Lebens- und Arbeitswelt, weltweite Migration, die Erosion des Nationalstaats und die Auflösung der patriarchalen Geschlechterordnung. Diese Entwicklungen laufen parallel und mit hoher Geschwindigkeit ab. Sie stellen alte Sicherheiten in Frage und werden von Teilen der Bevölkerung als Bedrohung empfunden.
Wie in früheren historischen Phasen ist die Rückwendung zur „nationalen Volksgemeinschaft“ und zu „traditionellen Werten“ eine Reaktion auf eine Periode beschleunigter Modernisierung. Die aktuell verwendeten Denkfiguren und Argumente stehen in der Kontinuität der langen Linien der Antimoderne: Gemeinschaft gegen seelenlosen Individualismus, nationale Identität gegen liberalen Universalismus, Tradition gegen zerstörerischen Fortschritt, autoritäre Führung gegen parlamentarisches Palaver, Kulturpessimismus gegen Fortschrittsdenken, nationale Selbstbehauptung gegen Fremdbestimmung durch kosmopolitische Eliten.
Eine vertiefte, historisch aufgeklärte Auseinandersetzung mit den ideologischen Fundamenten antidemokratischer Bewegungen findet bisher nur vereinzelt statt. Besondere Bedeutung kommt der historisch-politischen Bildung für junge Menschen zu. Sie befinden sich auf der Suche nach Orientierung und sind empfänglich für emotionale Botschaften, vermeintlich schlüssige Erklärungsmuster und radikale Identifikationsangebote. Insofern ist dieses Vorhaben auch ein Beitrag zur Extremismus-Prävention.
Ziele des Projekts
Das Vorhaben versteht sich als Beitrag zur Stärkung demokratischer Werte und demokratischen Engagements. Konkret geht es darum, die aktuelle Auseinandersetzung mit den Gegnern der offenen Gesellschaft in einen größeren historischen Kontext zu stellen, die langen Linien antiliberalen Denkens herauszuarbeiten und die Kritik an diesen Denkmustern auf eine informierte Grundlage zu stellen.
Die Ergebnisse der historischen Aufarbeitung sollen in Form von Veranstaltungen, Publikationen, einer informativen Website und multimedialen Formaten an eine breite Öffentlichkeit vermittelt werden. Podiumsdiskussionen, ein Fachkongress und eine öffentliche Abschlussveranstaltung dienen der vertieften Diskussion und der Vermittlung der Projektergebnisse an Medien und Multiplikator/innen.
Ein praktisches Ziel des Vorhabens ist es, fachliche Unterstützung für andere Akteure des Bundesprogramms „Demokratie Leben!“ zu leisten. Bildungsträgern und zivilgesellschaftlichen Initiativen vor Ort sollen Angebote zur inhaltlichen Weiterentwicklung ihrer Projekte, für eine bessere historische Orientierung und fachliche Vernetzung vermittelt werden. Die Erkenntnisse des Projekts sollen so aufbereitet werden, dass sie von lokalen Akteuren in ihrer Praxis angewandt werden können. Nicht zuletzt soll das Projekt auch Grundlagenwissen für Journalist/innen und Lehrkräfte bereitstellen. Ein weiteres Anliegen ist der Aufbau eines Expert/innen-Netzwerks, auf das Akteure vor Ort bei Bedarf zurückgreifen können.