Wir sind die zweite Welle“

20.000 Men­schen mar­schier­ten durch Berlin und riefen das „Ende der Pan­de­mie“ aus – ohne Abstand, ohne Masken. Wer demons­trierte da? Und warum? 

Die Auf­re­gung war groß: Bun­des­po­li­ti­ker mel­de­ten sich zu Wort, die Medien berich­te­ten inter­na­tio­nal. Zehn­tau­sende Men­schen sind am ver­gan­ge­nen Samstag durch Berlin gezogen, um gegen die Maß­nah­men zur Ein­däm­mung der Corona-Pan­de­mie zu demons­trie­ren. Dass die Teil­neh­men­den dabei bewusst die Abstände miss­ach­te­ten und keine Masken trugen, macht aller­dings deut­lich: Es geht ihnen nicht nur um eine Dis­kus­sion über Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen und die Kritik an der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit der Maß­nah­men. Die aller­meis­ten halten Corona für eine Lüge und sehen die Bun­des­re­pu­blik auf dem Weg in eine „Hygiene-Dik­ta­tur“.

Auf­ge­ru­fen hatten die bekann­te­ren Akteure der Corona-Leugner, etwa die „Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stelle Demo­kra­ti­scher Wider­stand“ aus Berlin, die bereits Ende März zu den ersten „Hygie­ne­de­mos“ am Rosa-Luxem­burg-Platz mobi­li­siert hatten, oder die Gruppe „Quer­den­ken 711“, welche kurze Zeit später mehrere tausend Men­schen in Stutt­gart hinter sich ver­sam­meln konnte. Die Mobi­li­sie­rung lief vor allem über das Inter­net, aber auch auf den dut­zen­den lokalen Able­gern der „Corona-Rebel­len“ wurde schon vor Wochen zur Demons­tra­tion auf­ge­ru­fen, was von den Zuhö­rern mit „Berlin, Berlin – wir fahren nach Berlin“-Rufen gou­tiert wurde.

Es wirkte, als hätte sich am Samstag das Pro­test­mi­lieu der Pegida-Wut­bür­ger mit dem von Stuttgart21 zusam­men­ge­fun­den, daneben liefen Impf­geg­ner, Hippies, Anthro­po­so­phen, Eso­te­ri­ker und Neo­na­zis von der NPD. Aber auch eine Flagge der linken Quer­front-Abspal­tung „Auf­ste­hen“ und Slogans wie „No Border, No Nation“ waren zu sehen. Einige Teil­neh­mer trugen T‑Shirts der Alter­na­tive für Deutsch­land oder der Iden­ti­tä­ren Bewe­gung. Auch Simon Kaupert von der neu­rech­ten NGO Ein­pro­zent war vor Ort. Später schwärmte er auf Twitter, es habe sich um die „größte regie­rungs­kri­ti­sche Ver­samm­lung im wie­der­ver­ei­nig­ten Deutsch­land“ gehandelt.

Die Teil­neh­men­den riefen Parolen wie „Wir sind die zweite Welle“, „Frei­heit“ und „Wir sind das Volk“. Jour­na­lis­ten, Poli­zis­ten und Pas­san­ten, die einen Mund-Nasen-Schutz trugen, wurden belei­digt und unter Parolen wie „Masken weg“ dazu auf­ge­for­dert, diesen abzu­le­gen. Auch „Lügen­presse“ wurde mehr­fach skan­diert. Mehrere Jour­na­lis­tin­nen und Jour­na­lis­ten berich­te­ten, von Teil­neh­mern bedrängt, bespuckt und belei­digt worden zu sein. Ein ZDF-Team um Dunja Hayali musste die Dreh­ar­bei­ten wegen Sicher­heits­be­den­ken abbre­chen. Es ist mitt­ler­weile gängige Praxis, dass größere Fern­seh­teams sich nicht ohne pri­va­ten Sicher­heits­dienst auf solche Demons­tra­tio­nen begeben.

Auf Pla­ka­ten ver­brei­te­ten die Demons­tran­ten diverse Ver­schwö­rungs­theo­rien: Bill Gates stecke hinter dem Virus, Spahn wolle eine Zwangs­imp­fung ein­füh­ren, das 5G-Netz diene der Steue­rung der Men­schen. Auch Anhän­ger der Q‑Anon-Bewe­gung gaben sich zu erken­nen. Der Glaube an Ver­schwö­rungs­theo­rien war dabei nicht nur bei einer kleinen Gruppen der Teil­neh­men­den vor­han­den, sondern domi­nierte den Cha­rak­ter der Ver­samm­lung. Von einer „Fake-Pan­de­mie“ sprach etwa ein Redner auf der Abschluss­kund­ge­bung. „Die Polit­dar­stel­ler“, hieß es in einer anderen Rede, seien nichts anderes als „die zeich­nungs­be­rech­tig­ten Schrift­füh­rer der Phar­ma­in­dus­trie und der Hoch­fi­nanz“. Auch anti­se­mi­ti­sche Codes und Aus­sa­gen waren auf der Demons­tra­tion präsent. Ein Teil­neh­mer trug ein Shirt mit der Auf­schrift „Fuck Zion“ und „Lies die Protokolle“.

Die Demons­tran­ten wähnten sich in der Tra­di­tion des Volks­auf­stands in der DDR. „Diese Straße des 17. Juni steht für den Arbei­ter­auf­stand 1953“, rief Heiko Schrang von der Bühne. „Und ich garan­tiere euch, so wie ich hier stehe, in spä­tes­tens 10 Jahren heißt sie Straße des 1. August 2020!“ Heiko Schrang war einer der pro­mi­nen­te­ren Redner auf der Abschluss­kund­ge­bung. Sein Youtube-Kanal „SchrangTV“ wird von 175.000 Men­schen abon­niert, seine Videos ins­ge­samt rund 37 Mil­lio­nen Mal geklickt. Er ist einer der ein­fluss­reichs­ten Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker im deutsch­spra­chi­gen Raum. Hun­derte Men­schen trugen am Samstag T‑Shirts mit seinem Logo.

Die Pro­tes­tie­ren­den waren über­zeugt, His­to­ri­sches geleis­tet zu haben. Teil­neh­mer­zah­len von 800.000 oder gar 1 Million geis­ter­ten herum. Zu diesem Zeit­punkt ging die Polizei von 17.000 Teil­neh­men­den aus, später kor­ri­gierte sie die Zahl auf 20.000. Am Ende setzen die Ver­an­stal­ter noch einen drauf: Es seien 1,3 Mil­lio­nen Men­schen zur Demo gekom­men. Dass die über­große Mehr­heit der Deut­schen nach wie vor hinter der Corona-Politik der Bun­des­re­gie­rung steht, muss diesen Men­schen folg­lich als Lüge vor­kom­men, weil es weder mit den Ver­laut­ba­run­gen der „alter­na­ti­ven Medien“ noch mit der Rea­li­tät ihrer Fil­ter­bla­sen korrespondiert.

Der Demons­tra­ti­ons­zug führte von Unter den Linden quer durch Berlin-Mitte bis zur Straße des 17. Juni. Dort war eine riesige Bühne auf­ge­baut, ein pro­fes­sio­nel­les Sound­sys­tem, zudem mehrere Video­lein­wände. Wie die Ver­an­stal­ter all dies finan­zier­ten, bleibt unklar.

Gegen 16.30 Uhr wurde die Ver­samm­lung von der Polizei auf­ge­löst. Die Stim­mung war auf­ge­bracht, die Men­schen skan­dier­ten „Wider­stand“. Die Auf­lö­sung der Ver­samm­lung sei unver­hält­nis­mä­ßig, hieß es von der Bühne, es hätte mildere Mittel zur Ver­fü­gung gestan­den. Richtig ist: Bevor eine Demons­tra­tion wegen Sicher­heits­be­den­ken ver­bo­ten werden kann, muss geprüft werden, ob es zur Gefah­ren­ab­wehr nicht aus­rei­chend ist, Auf­la­gen zu erlas­sen. Doch genau das ist vorab pas­siert: Die Ver­samm­lungs­be­hörde hatte den Teil­neh­men­den vor­ge­schrie­ben, Mund und Nase zu bede­cken. Wie­der­holt wurde diese Auflage den Teil­neh­men­den von der Bühne aus bekannt gegeben, was aber stets nur mit Buh-Rufen quit­tiert wurde. Erst nach über 6 Stunden – und damit reich­lich spät – haben die mas­sen­haf­ten Auf­la­gen­ver­stöße zu Kon­se­quen­zen geführt hat. Ein Ver­an­stal­ter rief die Poli­zis­ten zur Remons­tra­tion auf, sie sollten sich nicht zum „Steig­bü­gel­hal­ter des Faschis­mus“ machen.

Auf­fäl­lig war die nahezu voll­stän­dige Abwe­sen­heit von kon­kre­ten poli­ti­schen For­de­run­gen. Es war eine diffuse Anti-Estab­lish­ment-Haltung, welche die Leute auf die Straße trieb. Was Samuel Salz­born über das Pro­test­mi­lieu von Pegida schrieb, behält auch hier seine Gül­tig­keit: Er bezeich­nete die Kli­en­tel als „demo­kra­tie­fern“, da es in einer par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie gerade darauf ankomme, über Inter­es­sen­kon­flikte zu strei­ten und Mehr­hei­ten zu erlan­gen: „Mit Meckern und Nörgeln kommt man nicht weit, das ewige Lamento von „denen da oben“, die sowieso nur machten, was sie wollen, ist zugleich auch das Lamento einer extrem poli­tik­fau­len Kli­en­tel, die sich bequem darin ein­ge­rich­tet hat, selbst nicht poli­tisch aktiv werden zu müssen, in Par­teien, Gewerk­schaf­ten oder anderen Interessenorganisationen.“

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