Jörg Meuthen unterschätzt den langen Atem der Völkischen
Der Rauswurf von Andreas Kalbitz spaltet die Neue Rechte. Während die „Junge Freiheit“ den Vorstoß begrüßt, ist Götz Kubitschek empört. Tatsächlich erscheint das Vorgehen von Jörg Meuthen jedoch als so zaghaft, dass er die Völkischen in der AfD kaum ausbremsen können wird.
Lange Zeit war die Janusköpfigkeit der AfD eines ihrer Erfolgsgeheimnisse. Sie stellte sich als eine Partei dar, die vor allem im Westen über – gemessen an AfD-Verhältnissen – gemäßigte, eher parlamentarisch orientierte Kräfte verfügt, während im Osten die von dem Brandenburger Vorsitzenden Andreas Kalbitz und dem Thüringer AfD-Chef Björn Höcke gesteuerte völkisch-rechtsradikale Strömung überwiegt. Auf diese Weise gelang es der AfD einerseits, in bürgerliche Wählerschichten einzudringen. Bei der Bundestagswahl 2017 etwa zog sie rund eine Million Wähler von der CDU ab. Andererseits konnte sie zugleich ein sich zunehmend gen rechts orientierendes und in völkische Ideenwelten abgleitendes Protestpotential im Osten abgreifen. Die Ergebnisse der Landtagswahlen im letzten Spätsommer bzw. Frühherbst sprechen insoweit für sich: 23,5 % in Brandenburg, 23,4 % in Thüringen und sogar 27,5 Prozent in Sachsen.
Diese doppelte Ausrichtung war, da erfolgsversprechend, gewollt, was man nicht zuletzt daran sehen konnte, dass sowohl der Co-Parteivorsitzende Jörg Meuthen als auch Alexander Gauland, damals ebenfalls Co-Parteichef und heute Ehrenvorsitzender, mehrfach als Redner beim jährlichen „Kyffhäusertreffen“, dem Sommerfest der Völkischen, aufgetreten sind.
Der Unterschied zwischen „Gemäßigten“ und Radikalen ist nur graduell
Schaut man genauer hin, handelt es sich allerdings nicht um eine echte Janusköpfigkeit. Auch in westlichen Landesverbänden verfügen die Völkischen schon lange über einen signifikanten Einfluss. Inhaltlich gibt es, wie Volker Weiß hier jüngst ausgeführt hat, ohnehin „Brücken zwischen beiden Lagern“, die er zutreffend als die „konkrete Abwehr von Einwanderung“, die „Forderung nach Renationalisierung“, das „Projekt einer Revision von »1968« in Form eines politischen Elitenwechsels und der vergangenheitspolitischen Kehrtwende“ identifiziert. Die Unterschiede zwischen beiden Milieus sind somit eher habitueller und, was die Inhalte angeht, gradueller Art, aber, sieht man mal von sozialpolitischen Vorstellungen ab, kein aliud. So hat etwa die stellvertretende Parteivorsitzende Beatrix von Storch, die neben Jörg Meuthen nun maßgeblich das Verfahren initiiert hat, mit dem die Mitgliedschaft von Andreas Kalbitz annulliert werden soll, schon 2016 den Hashtag „#Bevölkerungsaustausch“ auf Twitter verwendet und damit das zentrale Phantasma der radikalen Rechten affirmiert.
Wahrscheinlich hätte die AfD an dieser doppelten Ausrichtung weiter festgehalten, wäre nicht massiver Druck durch das Bundesamt für Verfassungsschutz entstanden. Nachdem dieses den „Flügel“ im Januar 2019 bereits als „Verdachtsfall“ hinsichtlich Rechtsextremismus eingestuft hatte, gab es im März 2020 bekannt, die seither erfolgte Beobachtung habe ergeben, dass der „Flügel“ eine „gesichert rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ sei. Zugleich wurden auch Björn Höcke und Andreas Kalbitz als „rechtsextremistische Führungspersonen“ identifiziert.
Das Eingreifen des Verfassungsschutzes ist eine Zäsur
Seither ist nichts mehr in der AfD, wie es war, jedenfalls nicht bei den sogenannten Gemäßigten rund um Jörg Meuthen. Vor genau dieser Folie ist das juristische Tauziehen rund um Andreas Kalbitz zu sehen. Viel spricht dafür, dass Meuthen, wie Matthias Kamann in der „WELT“ schreibt, gegen Kalbitz vorgeht, um so „die Partei den Beobachtungsaktivitäten des Verfassungsschutzes zu entziehen“. Denn dieser sitzt der Partei im Nacken. Möglicherweise droht gar eine Ausweitung der Beobachtung auf die AfD als Ganze, zumal inzwischen auch die Landesverbände in Thüringen (März 2020) und Brandenburg (Juni 2020) als Verdachtsfälle durch die jeweiligen Landesämter für Verfassungsschutz eingestuft worden sind.
Meuthen, als Professor an der Fachhochschule Kehl immerhin selbst Beamter, ist bereits 2019 nicht mehr beim „Kyffhäusertreffen“ aufgetreten. Und er hat in den letzten Wochen eine auf den ersten Blick harte Gangart gegenüber den Völkischen eingelegt. Zunächst sorgte er Ende März dafür, dass sich der „Flügel“ selbst auflösen würde. Kurz darauf sprach er von zwei „grundlegend verschiedenen Politik- und Gesellschaftsverständnissen“, die „in einen letztlich unauflösbaren Konflikt zueinander geraten“ würden und die man „nicht ständig mit diplomatischer Einheitsrhetorik übertünchen“ könne.
Sodann setzte Meuthen Mitte Mai im Bundesvorstand mit knapper Mehrheit die Annullierung der Mitgliedschaft von Kalbitz durch, da dieser, als er 2013 die Aufnahme in die AfD beantragt hatte, eine frühere Mitgliedschaft in der rechtsextremistischen und seit 2009 verbotenen „Heimattreuen Deutschen Jugend“ (HDJ) nicht offengelegt haben soll. Meuthen berief sich hierzu auf das Gutachten, mit dem das Bundesamt für Verfassungsschutz Mitte März die Einstufung von Kalbitz als rechtsextremistisch begründet hatte. Nach „SPIEGEL“-Informationen steht darin, dass eine „Familie Andreas Kalbitz“ unter der Mitgliedsnummer „01330“ bei der HDJ geführt worden sei. Kalbitz räumt zwar ein, 2007 bei einem Pfingstlager der HDJ anwesend gewesen zu sein, bestreitet aber eine formelle HDJ-Mitgliedschaft.
Der Lagerstreit zwischen der „Jungen Freiheit“ und Götz Kubitschek
Wie groß die Sorge um die Zukunft der AfD unter den sogenannten „Gemäßigten“ inzwischen ist, zeigt sich vor allem in der medialen Begleitung der derzeitigen Vorgänge durch die rechte Wochenzeitschrift „Junge Freiheit“, die traditionell dem gemäßigten Flügel der AfD nahesteht, während der völkisch-radikale Teil vor allem in dem neurechten Verleger Götz Kubitschek sein publizistisches Sprachrohr hat. Wie schon bei diversen früheren innerparteilichen Konflikten in der AfD spiegelt sich auch der jetzige Streit um Andreas Kalbitz im Dissens zwischen „Junger Freiheit“ einer- und der Online-Seite von Götz Kubitscheks Zeitschrift „Sezession“ andererseits wider.
Dieter Stein, der Chefredakteur der „Jungen Freiheit“, sprach Mitte März zwar milieutypisch von dem „scharf zu kritisierenden Missbrauch des Verfassungsschutzes, der einseitig von verantwortlichen Innenpolitikern instrumentalisiert“ werde, „um eine konkurrierende, unbequeme oppositionelle Partei in ein trübes Licht zu rücken“. Zugleich aber befand er ausdrücklich, dass dieser Aspekt von „dem fahrlässigen Agieren von Vertretern einer radikalen Strömung in der AfD“ zu trennen sei, „der es gleichgültig scheint, ob durch eine Beobachtung der Partei durch den Verfassungsschutz Beamte, Mittelständler, beruflich erfolgreiche Menschen aus der Partei gedrängt werden und sich dadurch die Gewichte in der Partei noch weiter verschieben – und zwar praktischerweise zu Gunsten dieses Flügels.“ Die damit, so Stein weiter, einhergehende „zunehmende soziale Isolation der AfD“ sei „ mit Händen zu greifen, ein permanenter Verlust qualifizierter Mitglieder wird mit Sorge registriert“. Auch finde die Partei „insbesondere in den Fraktionen immer weniger geeignete Bewerber für offene Stellen.“
Damit waren Ton und Stoßrichtung der „Gemäßigten“ in der AfD gesetzt. Dieter Stein hat seinen Kurs seither weiter forciert. Ende März sprach er von einem „unausweichlichen Konflikt“, im Mai von einem „überfälligen Befreiungsschlag“ und Ende Juni gar von einem „Schicksalsjahr für die Partei“, da „eine AfD, die sich weiter mutwillig in eine Lage manövriert, in der sie bundesweit vom Verfassungsschutz beobachtet“ werde, „am Ende“ sei. Das habe, „wie das Durchgreifen des Bundesvorstandes im Fall Kalbitz“ zeige, „eine relevante Mehrheit inzwischen begriffen“. Stein warnte bei dieser Gelegenheit abermals vor „radikalen“ Kräften, die „vom Aderlass der Gemäßigten, der beruflich im Leben stehenden, der Beamten profitieren“ würden, „weil sich dann die Mehrheiten zu ihren Gunsten neigen“.
Demgegenüber warf Götz Kubitschek unter dem Titel „Wie man eine Partei anzündet“ Meuthen und von Storch das Ende der Janusköpfigkeit vor und schrieb, „dass in der AfD das Sowohl-als-auch einem Entweder-oder gewichen zu sein scheint“. Er witterte eine „Kampagne, die eine Säuberung der Partei von ihren grundsätzlich und gegen den politisch-medialen Komplex aus Altparteien, öffentlich-rechtlichem Rundfunk, Zivilgesellschaft und instrumentalisierten Behörden aufgestellten Teilen zum Ziel“ habe, weil man „den Anschluss an den Mainstream und die CDU“ suche. Kubitscheks Ärger manifestierte sich nicht zuletzt in Ausdrücken wie „Anpassungs-AfD“ und „Verrat am Kern der AfD“.
Die Deutungsmuster von Stein und Kubitschek greifen zu kurz
Tatsächlich aber greift sowohl das Deutungsmuster von Stein als auch das von Kubitschek zu kurz. Jörg Meuthen geht keineswegs so konsequent gegen die Völkischen vor, wie die beiden meinen. Mit dem Annullierungsverfahren aufgrund der angeblich verschwiegenen HDJ-Mitgliedschaft gegen Kalbitz stützt er sich auf eine Formalie und, was das eigentliche Problem ist, auf ein im Lichte der strengen Anforderungen des Parteiengesetzes höchst wackeliges Prozedere, dem bereits das Landgericht Landgericht Berlin qua einstweiliger Verfügung bis zum Abschluss des Hauptsachverfahrens vor dem Bundesschiedsgericht der AfD vorläufig Einhalt geboten hat, indem es Kalbitz bis dahin seine Parteimitgliedschaftsechte wieder zuerkannte. Kurz darauf hat das Bundesschiedsgericht der AfD zwar – ebenfalls vorläufig –, anderweitig entschieden und überdies angedeutet, es werde im Hauptsacheverfahren wohl ebenfalls zu Lasten von Kalbitz urteilen. Jedoch ist sicher davon auszugehen, dass Kalbitz gegen ein solches Verdikt den staatlichen Gerichtsweg beschreiten wird, der sich nicht nur über Jahre durch die verschiedenen Instanzen ziehen kann, sondern so oder so am Ende nur über eine Formalie final entscheiden wird.
Ginge es Meuthen wirklich um eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung mit den Rechtsextremisten in der Partei und damit um eine blitzblanke Abgrenzung zum Rechtsextremismus, dann hätte er, wie die Verfasserin dieses Beitrag gerade an anderer Stelle ausgeführt hat, ein reguläres Parteiausschlussverfahren gegen Kalbitz anstrengen müssen. Und zwar nicht nur gegen diesen, sondern vor allem auch gegen Björn Höcke, der im März ebenfalls vom Verfassungsschutz als Rechtsextremist eingestuft worden ist. Dazu aber ist Meuthen offenbar zu feige, was sein ganzes Vorgehen als eine Farce erscheinen lässt.
Meuthen dürfte schlechte Karten gegen die Völkischen haben
Damit ist die Frage, wie es nun in der AfD weitergeht, eigentlich schon partiell beantwortet. Die Radikalen und Extremisten haben gar keinen Grund, klein beizugeben. Ihr bürgerlicher Ruf, sollten sie ihn wie der frühere Gymnasiallehrer Höcke je gehabt haben, ist ohnehin schon ruiniert. Der Verfassungsschutz ist für sie ohnehin nur ein „Büttel des Establishments“. Es handelt sich bei ihnen um Leute, die nicht viel zu verlieren, aus ihrer Sicht mit ihren grotesken Machtphantasien aber umso mehr zu gewinnen haben. Man denke an Höckes Buch „Nie zweimal in denselben Fluss“ (2018), in dem er von „einem möglichen Rückzug auf Länderebene“ spricht, von wo aus die „Rückeroberung“ „ihren Ausgang nimmt“.
Kalbitz und Höcke verfügen in Brandenburg und Thüringen jeweils über eine stabile Basis, sind beide bis 2024 gewählt. Und mit Ende vierzig noch relativ jung. Kurz: sie haben Zeit, können abwarten, auf eine neue Krise hoffen, etwa wirtschaftliche Post-Corona-Turbulenzen, die sie zur Agitation nutzen können. Sie haben nicht den geringsten Grund, die AfD von sich aus zu verlassen und mit einer neuen Partei wieder von vorne anzufangen.
Jörg Meuthen aber hat keine Zeit. Ihm sitzt die Bundestagwahl im nächsten Jahr angesichts der derzeit schlechten Umfragewerte im Genick. Ihn treibt die Sorge, bürgerliche Wähler, die gen rechts gedriftet sind, wieder zu verlieren und auch keine neuen mehr zu gewinnen. Und vielleicht auch die Sorge um die eigene Anschlussverwendung, sollte die Partei weiter in Verruf geraten und er innerparteilich abgesägt werden. Mit seinem jetzigen Vorgehen kann er immerhin von sich behaupten, er habe versucht, etwas gegen Rechtsextremisten in der Partei zu unternehmen, so zahnlos all das auch gewesen sein mag. Sollte das Ergebnis der Bundestagswahl für die AfD tatsächlich miserabel ausfallen, werden sich die Völkischen hingegen bestätigt fühlen, denn sie behaupten schon länger, dass ein gemäßigter Kurs keine Wahlerfolge bringe. Dann dürfte die Selbstradikalisierung der AfD neuen Schwung bekommen.
Ob, das soll abschließend nicht unerwähnt bleiben, eine Durchsetzung des gemäßigteren Teils der AfD aber eine Entwarnung für die Gesellschaft wäre, ist keineswegs ausgemacht. Denn die AfD wäre auch dann immer noch eine rechte Partei, die sich nur graduell von radikaleren Strömungen unterscheiden würde. Insofern sollte man es durchaus als Warnung aufnehmen, wenn Dieter Stein davon spricht, dass „eine Partei, deren Repräsentanten sympathisch und gewinnend auftreten, die das Eis brechen, um Unentschlossene zu erreichen und Vorbehalte zu überwinden, die einer Phantasie Raum gibt, die andere politische und gesellschaftliche Mehrheiten vorbereitet, auf einem Weg, der nicht nur anstrengender und intellektuell herausfordernder ist als eine radikale Rhetorik“ für „das Establishment viel gefährlicher“ sei „als eine Formation, die sich durch Auftreten, Wortwahl und Forderungen freiwillig ins Abseits stellt.“
Es gilt also weiterhin wachsam zu bleiben, ganz egal, in welche Richtung sich die AfD nun entwickelt.