Corona-Pro­­tes­t­­be­­we­­gung: Die neue Querfront?

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Wer geht hier mit wem auf die Straße? Diese Frage beschäf­tigt spä­tes­tens seit den Corona-Pro­tes­ten im August 2020 viele. Dahin­ter steckt auch das Befrem­den über die augen­schein­li­che Mischung schein­bar unver­ein­ba­rer Gruppen – von frie­dens­be­wegt bis rechtsradikal.

Die Ende 2020 ver­öf­fent­lichte Studie einer For­schungs­gruppe des sozio­lo­gi­schen Insti­tuts der Uni­ver­si­tät Basel zu Motiven und poli­ti­schen Ein­stel­lun­gen der „Coronaskeptiker/​Querdenker“ liefert inter­es­sante Ein­bli­cke in die Denk­weise dieses Milieus.[1] Sie basiert auf einer Online-Umfrage, die in Tele­gram-Gruppen gepos­tet wurde, qua­li­ta­ti­ven Inter­views und einer Aus­wer­tung ein­schlä­gi­ger Doku­mente der Bewe­gung. Die Mehr­heit der 1150 Corona-Akti­vis­tin­nen und ‑Akti­vis­ten, die sich an der Online-Befra­gung betei­lig­ten, war weiblich.

Auch wenn die Studie keine Reprä­sen­ta­ti­vi­tät bean­sprucht, decken sich ihre Ergeb­nisse mit dem Erschei­nungs­bild der Mas­sen­pro­teste im August und Novem­ber 2020 in Berlin und andern­orts. Reichs­bür­ger, Putin-Fans mit Russ­land­fah­nen, AfD-Anhän­ge­rin­nen und Anhän­ger waren ebenso unüber­seh­bar wie Neo­na­zis – die vielen Regen­bo­gen­fah­nen und Frie­dens­zei­chen, die Reg­gae­mu­sik („Stand Up For Your Rights“), Sprech­chöre „Liebe, Frieden“, Parolen für Kin­der­rechte, Trans­pa­rente „Sommer der Demo­kra­tie“ und der Habitus vieler Demons­tran­ten erin­ner­ten aber eher an die Frie­dens- und Anti-AKW-Bewe­gung der 1980er Jahre als an einen mili­tant-rechten Aufmarsch.

Auch wenn es schmerzt: die Corona-Pro­teste, die bun­des­weit Hun­dert­tau­sende auf die Straße brach­ten, gehör­ten zu den größten Pro­test­be­we­gun­gen des ver­gan­ge­nen Jahres. Als Beob­ach­ter irri­tiert mich am stärks­ten das umstands­lose Neben- und Inein­an­der einer alter­na­ti­ven Pro­test­kul­tur und rechts­po­pu­lis­ti­scher bis rechts­extre­mer Kräfte. Sind „rechts“ und „alter­na­tiv“ doch nicht so mes­ser­scharf getrennte Welten, gibt es Über­gänge und Über­schnei­dun­gen, von denen die Freunde klarer Welt­bil­der lieber nichts wissen wollen?

Schauen wir uns die Ergeb­nisse der Baseler Studie etwas genauer an: Auf­fäl­lig ist der hohe Anteil von Selb­stän­di­gen (mit 25 Prozent mehr als doppelt so hoch wie im gesell­schaft­li­chen Durch­schnitt) sowie von Aka­de­mi­kern und Per­so­nen mit Fach­hoch­schul­ab­schluss an den Corona-Pro­tes­tan­ten. Offen­sicht­lich schützt ein geho­be­ner for­ma­ler Bil­dungs­grad nicht vor Obsku­ran­tis­mus. Die große Mehr­heit ordnet sich der Mit­tel­schicht zu. 60 Prozent geben an, dass die „Corona-Maß­nah­men“ ihre wirt­schaft­li­che Exis­tenz stark oder teil­weise bedro­hen – ein nicht zu unter­schät­zen­des Protestmotiv.

Auf­schluss­reich auch die Par­tei­prä­fe­renz bei der letzten Bun­des­tags­wahl: 23 Prozent Grüne, 18 Prozent Linke, ledig­lich 15 Prozent AfD – bei der kom­men­den Bun­des­tags­wahl wollen indes­sen 27 Prozent  AfD wählen, nur noch 1 Prozent die Grünen. Es gibt einen aus­ge­präg­ten Hang zu „alter­na­ti­ven“ Split­ter­par­teien („Wir 2020“, Die Partei, ÖDP etc.) – ein Groß­teil der Corona-Pro­tes­tan­ten hat mit den eta­blier­ten Par­teien – zu denen sie auch die Grünen zählen – nichts mehr im Sinn.

Auch mit den eta­blier­ten Medien liegt die Pro­test­be­we­gung über Kreuz: 95 Prozent sehen die Corona-Oppo­si­tion ver­zerrt wie­der­ge­ge­ben und abge­wer­tet. Mehr als drei Viertel sind über­zeugt, dass „Politik und Medien unter einer Decke stecken.“ 80 Prozent stimmen der Aussage zu, dass man „in Deutsch­land nicht mehr seine Meinung frei äußern kann, ohne Ärger zu bekom­men.“ Auf­fäl­lig ist auch ein starker liber­tä­rer Grund­zug: Beinah 95 Prozent stimmen überein, dass „uns der Staat immer mehr bevor­mun­det.“ Das klingt nicht nach dem alt-rechten Ruf nach dem starken Staat.

Das Grund­miss­trauen in die Insti­tu­tio­nen trifft auch die Wis­sen­schaft: Nach Meinung der Corona-Pro­test­szene hören Medien und Politik auf „die fal­schen Exper­ten“. Die Regie­rung über­dra­ma­ti­siere die Corona-Gefah­ren und schüre unnö­tige Ängste als Recht­fer­ti­gung für die Ein­schrän­kung von Bür­ger­rech­ten. Fast 80 Prozent der Respon­den­ten teilten die Behaup­tung, eine Corona-Infek­tion sei nicht gefähr­li­cher als eine schwere Grippe. Dagegen sind nur gut 10 Prozent über­zeugt, dass wis­sen­schaft­li­che Studien zum Kli­ma­wan­del gefälscht seien – aller­dings ist hier die Dun­kel­zif­fer der­je­ni­gen, die keine Aus­sa­gen treffen, mit fast 25 Prozent der Teil­neh­men­den hoch. Die Umfrage bestä­tigt aber den Augen­schein, dass rele­vante Teile der Demons­trie­ren­den der Umwelt­be­we­gung nicht fern­ste­hen. „Coro­na­leug­ner“ sind mehr­heit­lich nicht zugleich „Kli­ma­leug­ner“.

Ins­be­son­dere Kinder werden als Opfer der Corona-Restrik­tio­nen wahr­ge­nom­men. Sage und schreibe 70 Prozent der Teil­neh­men­den an der Baseler Umfrage stimmen dem Diktum „Mas­ken­pflicht ist Kin­des­miss­brauch“ zu. Auch der inner­fa­mi­liäre Stress infolge des Lock­downs spielt eine Rolle: die über­wie­gende Mehr­heit kann der These nichts abge­win­nen, dass die Corona-Beschrän­kun­gen die fami­liä­ren Bin­dun­gen ver­bes­sert hätten.

Inter­es­sant – und in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung zumeist igno­riert – ist der anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Grund­zug der „Quer­den­ker“: 78 Prozent sind der Auf­fas­sung, dass „Banken und Kon­zerne die großen Pro­fi­teure der Corona-Krise sein werden.“ Weitere 18 Prozent stimmen dem zumin­dest par­ti­ell zu. 55 Prozent stimmen der Aussage zu, Poli­ti­ker und andere Füh­rungs­per­sön­lich­kei­ten seien nur Mario­net­ten der „dahin­ter­ste­hen­den Mächte“, fast ebenso viele glauben an „geheime Orga­ni­sa­tio­nen“, die großen Ein­fluss auf poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen ausüben. Satte 80 Prozent stimmen der Aussage zu, dass „die regie­ren­den Par­teien das Volk hintergehen.“

Dieses dunkle Raunen ist ebenso anschluss­fä­hig an die anti­se­mi­ti­sche Mär einer jüdi­schen Welt­ver­schwö­rung wie an pseudo-linke Vor­stel­lun­gen von einem all­mäch­ti­gen Finanz­ka­pi­tal, das die Politik steuert. Ver­schwö­rungs­theo­rien dieser Machart haben seit dem Flug­zeug­at­ten­tat auf das World Trade Center im Sep­tem­ber 2001 Hoch­kon­junk­tur. So hat der in der linken Szene beliebte 2001-Verlag kein Problem damit, die sen­sa­ti­ons­hei­schen­den „Geheim­nisse des 11. Sep­tem­ber“ des ehe­ma­li­gen taz-Redak­teurs und Can­na­bis-Akti­vis­ten Mathias Brö­ckers in hohen Auf­la­gen zu ver­brei­ten. Für Brö­ckers führen die Spuren des 11. Sep­tem­ber 2001 zu George W. Bush und Ariel Scharon.

Wer mit den Anfän­gen der deut­schen Alter­na­tiv­be­we­gung ver­traut ist, wird vom Welt­bild der Corona-Pro­test­ler nicht über­rascht sein. Zur Ökopax-Bewe­gung gehörte auch eine krude Mischung aus Wis­sen­schafts­skep­sis, Anti­ka­pi­ta­lis­mus, Eso­te­rik, Anti­ame­ri­ka­nis­mus und Natur­schwär­me­rei – mit dem Unter­schied, dass sie damals als fort­schritt­lich galt. Dass man den „herr­schen­den Eliten“ kein Wort glauben darf und das große Geld die Strip­pen hinter der demo­kra­ti­schen Fassade zieht, ist bis heute ein fester Bestand­teil der Welt­an­schau­ung gegen­kul­tu­rel­ler Milieus.

Auch die Selbst­in­sze­nie­rung als wahre Ver­tei­di­ger der Demo­kra­tie hat eine lange Tra­di­tion. Sagen­hafte 95 Prozent der­je­ni­gen, die sich an der Umfrage betei­lig­ten, sind über­zeugt, dass „die Corona-Maß­nah­men Frei­heit und Demo­kra­tie bedro­hen.“ Sie sehen sich im Wider­stand gegen eine her­auf­zie­hende „Corona-Dik­ta­tur“. Der über­stei­gerte Alar­mis­mus erin­nert an die Pro­teste gegen die Not­stands­ge­setze, gegen den „Atom­staat“ und gegen die Volks­zäh­lung, alle­samt Mei­len­steine der links-alter­na­ti­ven Bewe­gungs­ge­schichte. Wer hätte gedacht, dass das gute alte „Wehrt euch, leistet Wider­stand“ jetzt mit dem Refrain „Gegen die Corona-Dik­ta­tur im Land“ wiederkehrt?

Der Gene­ral­vor­be­halt gegen die „volks­ferne“ und „abge­ho­bene“ par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie ist keine Spe­zia­li­tät der Neuen Rechten. Deshalb schwim­men in der trüben Suppe der Corona-Pro­teste auch Frie­dens­tau­ben, Anhän­ger direk­ter Demo­kra­tie, Gesund­heits­apos­tel und Eso­te­ri­ke­rin­nen Seite an Seite mit Neo­na­zis, Putin-Fans und AfD-Kadern. Daraus folgt aber noch keine ideo­lo­gi­sche Über­ein­stim­mung.

Es ist allzu bequem, die Mehr­heit der Corona-Pro­test­be­we­gung in die rechts­extrem-auto­ri­täre Ecke zu schie­ben. So stimmen nur rund 15 Prozent der Respon­den­ten mit der Aussage „Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manch­mal wie ein Fremder im eigenen Land“ überein. Nicht mehr Zustim­mung erhält die These „Es wird zu viel Rück­sicht auf Min­der­hei­ten genom­men.“ Dass man Aus­län­der in Zeiten hoher Arbeits­lo­sig­keit in ihre Her­kunfts­län­der zurück­schi­cken soll, befür­wor­ten unein­ge­schränkt nur rund 8 Prozent – deut­lich weniger als im Bevöl­ke­rungs­durch­schnitt. 9 von 10 Befrag­ten lehnen die Unter­schei­dung zwi­schen „lebens­wer­tem“ und „lebens­un­wer­tem“ Leben ab. In den Ruf nach einem „starken Führer wie Putin, der zum Wohl aller regiert“ stimmen ledig­lich vier Prozent ein; knapp 10 Prozent stimmen dem teils-teils zu. Die Aussage „Auch heute ist der Ein­fluss von Juden auf die Politik noch zu groß“ befür­wor­ten 6 Prozent (teils-teils 10 Prozent) – wie­derum weniger als bei Umfra­gen in der Gesamt­be­völ­ke­rung. Ein­falls­tor für anti­se­mi­ti­sches Denken ist vor allem die Anfäl­lig­keit für anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Verschwörungstheorien.

Dass 40 Prozent der Teil­neh­me­rin­nen an der Befra­gung die AfD für „eine Partei wie jede andere“ halten und weitere 25 Prozent zumin­dest teil­weise zustim­men, muss nicht bedeu­ten, dass sie auch ein rechts­extre­mes Welt­bild teilen. Gleich­zei­tig hat eine Mehr­heit der Corona-Pro­test­ler offen­bar keine Berüh­rungs­ängste gegen­über der AfD.

Nicht zu unter­schät­zen ist der eso­te­ri­sche Ein­schlag der Bewe­gung. Zwei Drittel der Befrag­ten ist der Auf­fas­sung, dass „mehr spi­ri­tu­el­les und ganz­heit­li­ches Denken unserer Gesell­schaft guttun würde“, weitere 20 Prozent teilt diese Meinung zumin­dest teil­weise. Ähnlich stark ist die Über­zeu­gung, dass die „Alter­na­tiv­me­di­zin“ der Schul­me­di­zin gleich­ge­stellt werden sollte. Dazu passt die aus­ge­prägte Impf­skep­sis unter den Corona-Akti­vis­ten. Auch die Über­zeu­gung, dass die Corona-Epi­de­mie eine Art Rache der Natur für die öko­lo­gi­schen Sünden der Moderne dar­stellt, ist weit ver­brei­tet: Für mehr als 70 Prozent ist das Über­sprin­gen von Covid-19 auf den Men­schen ein Beleg, dass „wir uns zu weit von der Natur ent­fernt“ haben.

Der Baseler Sozio­loge Oliver Nachtwey fasst die Ergeb­nisse der Studie so zusam­men: „Viele (Teil­neh­mer an den Pro­tes­ten) sind eher anti­au­to­ri­tär und staats­kri­tisch ein­ge­stellt, hängen alter­na­ti­ven Formen der Medizin an und stehen der indus­tri­el­len Moderne kri­tisch gegen­über.“ „Auch wenn ich die Ein­schät­zun­gen dieser Leute nicht teile: Im Grunde üben sie eine Art Sozial- und Herr­schafts­kri­tik“, so Nachtwey. Die Bewe­gung sei „nach rechts offen“, die Pro­tes­tie­ren­den seien indes „keine typi­schen Rechten“, würden kaum ras­sis­tisch oder sozi­al­chau­vi­nis­tisch argu­men­tie­ren.[2]

Es ist vor allem das Gene­ral­miss­trauen in die demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen, die Offen­heit für Ver­schwö­rungs­theo­rien und das anti­mo­derne Res­sen­ti­ment, das die Corona-Pro­test­be­we­gung anfäl­lig für poli­ti­sche Radi­ka­li­sie­rung macht. Hier ver­bin­den sich ideo­lo­gi­sche Ver­satz­stü­cke der deut­schen Alter­na­tiv­be­we­gung mit der Offen­heit für Bünd­nisse mit Rechts­po­pu­lis­ten und Rechts­extreme. Inso­fern ist diese Bewe­gung die aktu­elle Erschei­nungs­form einer sys­tem­op­po­si­tio­nel­len Quer­front, die schein­bare Gegen­sätze ver­ei­nigt. Offen und drän­gend bleibt die Frage, wie mit der zuneh­men­den Ent­frem­dung von Teilen der Bevöl­ke­rung von der reprä­sen­ta­ti­ven Demo­kra­tie und ihren Insti­tu­tio­nen umzu­ge­hen ist.

Fuß­no­ten

[1] Prof. Dr. Oliver Nachtwey, Dr. Robert Schäfer, Dr. des. Nadine Frei „Poli­ti­sche Sozio­lo­gie der Corona-Pro­teste“, Uni­ver­si­tät Basel, Dezem­ber 2020, https://osf.io/preprints/socarxiv/zyp3f/
Zusam­men­fas­sung für eilige Lese­rin­nen und Leser: https://www.unibas.ch/de/Aktuell/News/Uni-Research/Corona-Protestbewegung-steht-dem-etablierten-politischen-System-fern.html

[2] Zitiert nach Anna Jik­har­eva, „Kritik als Gene­ral­ver­dacht“, WOZ – Die Wochen­zei­tung, 52/​2020.


Der Text ist im Sam­mel­band „Feh­len­der Min­dest­ab­stand“ (Hrsg. Heike Kleff­ner und Mat­thias Meisner, Herder Verlag 2021) erschienen.

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