Wieviel roman­ti­sches Res­sen­ti­ment steckt in Hannah Arendts Büchern?

Foto: Bernd Schwabe, bear­bei­tet, CC BY-SA 3.0

Die 1992 ver­stor­bene jüdisch-ame­ri­ka­ni­sche Phi­lo­so­phin Judith Shklar blickte zeit­le­bens mit Respekt und Skepsis auf das Werk ihrer großen Vor­gän­ge­rin. Jetzt sind ihre Texte endlich auch auf Deutsch erschienen. 

Seit einigen Jahren wird in Deutsch­land die 1992 ver­stor­bene jüdisch-ame­ri­ka­ni­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin und Phi­lo­so­phin Judith Shklar ent­deckt, die dem Nach­den­ken über eine offene, libe­rale Gesell­schaft neue, unver­brauchte Impulse ver­lie­hen hatte. Erin­nert sei etwa an ihr im Umbruchs­jahr 1989 erschie­ne­nes Buch „Libe­ra­lis­mus der Furcht“, das statt hehrer Utopien ein prak­ti­ka­bles Mini­mal­pro­gramm phy­si­scher Leid­ver­mei­dung beschrieb, ein durch Insti­tu­tio­nen geför­der­tes und geschütz­tes Respekt­ver­hal­ten. Nun sind ihre im Lauf von drei Jahr­zehn­ten ver­öf­fent­li­chen Essays zum Leben und Werk von Hannah Arendt erschie­nen, erneut über­setzt und geis­tes­ge­schicht­lich kundig kom­men­tiert von Hannes Bajohr.

Auch sie bergen Über­ra­schen­des und Unkon­ven­tio­nel­les, denn Shklar, geboren 1928 in Riga und mit ihrer Familie Sta­li­nis­mus und Holo­caust nur knapp ent­ron­nen, wirft ihrer berühm­ten älteren Kol­le­gin nichts weniger als „Roman­ti­zis­mus“ vor. Shklar war seit den fünf­zi­ger Jahren immer wieder auf Hannah Arendt getrof­fen, deren Werk sie bestens kannte. Ihr Respekt für die drei Jahr­zehnte ältere Kol­le­gin blieb unge­bro­chen, doch bei aller Zunei­gung stellte sich irgend­wann die Frage, ob Arendts Haupt­werk „Ele­mente und Ursprünge totaler Herr­schaft“ wirk­lich als Augen­öff­ner über den Tota­li­ta­ris­mus des 20. Jahr­hun­derts gelten konnte. Wenn Hannah Arendt zum Bei­spiel von „Massen“ schreibt, die sich Hitler oder Stalin unter­ord­ne­ten, wittert Judith Shklar eine höchst frag­wür­dige, da apo­li­ti­sche Denk­fi­gur. „Im roman­ti­schen Denken sind der Durch­schnitts­mensch und der Phi­lis­ter immer mehr oder weniger iden­tisch gewesen. Heute werden die Massen als die neuen Phi­lis­ter iden­ti­fi­ziert. Daher spricht Hannah Arendt von der tota­li­tä­ren Gesell­schaft als ‚Massen koor­di­nier­ter Spießer´, die aus allen Ecken der Gesell­schaft zusam­men­ge­kom­men seien…Was aber ist die soziale Bedeu­tung dieser Massen, einmal abge­se­hen von ihrer ‚Durch­schnitt­lich­keit‚ und dem Mangel an ästhe­ti­schem Emp­fin­den? Sie gibt keine annä­hernd abschlie­ßen­den Ant­wor­ten. Das ist frei­lich völlig natür­lich, weil die Situa­tion des Men­schen für den Roman­ti­ker nie primär sozial ist.“

Ein harter Vorwurf, der aller­dings ernst genom­men werden sollte – nicht zuletzt mit Blick auf eine beun­ru­hi­gende Gegen­wart, in der es nun die soge­nannte „moderne Mas­sen­de­mo­kra­tie“ ist, die für aller­lei Übel ver­ant­wort­lich gemacht wird. Es ist deshalb mehr als nur eine Ironie der Geis­tes­ge­schichte, dass aus­ge­rech­net Hannah Arendt, die Phi­lo­so­phin der indi­vi­du­el­len Ver­ant­wort­lich­keit, bei ihrer Kritik des Tota­li­ta­ris­mus in die bedenk­li­che Nähe eines eli­tä­ren Nase­rümp­fens gekom­men war, für das womög­lich ihr eins­ti­ger Lehrer Martin Heid­eg­ger Pate gestan­den hat. Ohne jeg­li­che Häme arbei­tet Judith Shklar die Unter­strö­mun­gen zwi­schen Heid­eg­gers Moderne-Ver­dam­mung (die nicht zuletzt eine Rela­ti­vie­rung der NS-Ver­bre­chen bedeu­tete) und Arendts her­ab­las­sen­den Blick auf die „Massen“ heraus. Ein Denken, das sowohl von deut­scher Roman­tik wie auch vom Mar­xis­mus geprägt war: „Hannah Arendt ist der Meinung, die Zer­stö­rung der Natio­nal­ge­mein­schaf­ten sei eine wesent­li­che Vor­aus­set­zung für den tota­li­tä­ren Mas­sen­staat gewesen. Im Ganzen gesehen ist das aber ledig­lich eine Wie­der­ho­lung jenes Rufs nach den ‚Wurzeln‚, den schon die Roman­ti­ker des 19. Jahr­hun­derts ausstießen…Die Iden­ti­fi­ka­tion der Massen mit Irra­tio­na­li­tät ist dabei vor allem bei jenen beliebt, die dar­un­ter leiden, dass Marx tot ist. Für sie ist die Schlech­tig­keit der Massen zumin­dest eine Erklä­rung für den Erfolg des Tota­li­ta­ris­mus und das Ver­sa­gen des Sozia­lis­mus. Alles, was dem unglück­li­chen Bewusst­sein dann bleibt, ist, die eigene Inte­gri­tät gegen die Über­griffe einer feind­li­chen Welt zu bewahren.“

Klingt dies nicht ver­blüf­fend aktuell in einer Zeit, da ganze Wäh­ler­schich­ten resi­gna­tiv abge­schrie­ben werden und statt eman­zi­pa­to­ri­schem Über­zeu­gungs-Élan eine anti­glo­bal getrimmte, post-bie­der­mei­er­li­che „Acht­sam­keit“ (zuvör­derst gegen­über einem selbst) das fragil gewor­dene Gemein­we­sen bewah­ren soll? Man reibt sich die Augen, denn Judith Shklar hatte diese Zeilen bereits 1957 geschrie­ben, da war sie gerade einmal 29 Jahre alt. Gerade auf­grund ihrer Wert­schät­zung für Leben und Werk Hannah Arendts fühlte sich Shklar über die Jahr­zehnte hinweg immer wieder von jener Haltung pro­vo­ziert, die sie als „Roman­tik der Nie­der­lage“ bezeich­nete und in schar­fen Kon­trast setzte zu einem kon­kre­ten, all­tags­taug­li­che­ren libe­ra­len Denken und Handeln: „Das Grund­pro­blem des Libe­ra­lis­mus ist die Schaf­fung einer auf­ge­klär­ten öffent­li­chen Meinung, um die Bür­ger­rechte Ein­zel­ner zu schüt­zen und die spon­ta­nen ord­nen­den Kräfte in der Gesell­schaft zu ermu­ti­gen. Wäh­rend­des­sen machen die Roman­ti­ker aus der Selbst­dar­stel­lung eine Tugend und halten Indi­vi­dua­li­tät ledig­lich für not­wen­dig in Oppo­si­tion zu vor­herr­schen­den Gesellschaftsstandards.“

Eine ver­gleich­bar roman­ti­sie­rende Sicht dia­gnos­ti­ziert Shklar übri­gens auch in Hannah Arendts gera­dezu schwär­me­ri­schem Schrei­ben über die athe­ni­sche Demo­kra­tie und die ame­ri­ka­ni­sche Revo­lu­tion von 1776. In beiden Fällen würde die Exis­tenz der Skla­ve­rei genauso igno­riert wie die Tat­sa­che him­mel­schrei­en­der sozia­ler Unter­schiede und poli­ti­scher Inter­es­sen­kämpfe. Woher aber kam diese Distan­ziert­heit, diese blinden Flecke in der Wahr­neh­mung? Mit feinem Gespür arbei­tet Shklar ein bislang kaum the­ma­ti­sier­tes Dilemma heraus: Arendt, so ihre plau­si­ble These, stand nicht etwa aus Sno­bis­mus (oder gar Ras­sis­mus) sozia­len Themen eher fern, sondern aus einer bio­gra­phisch erklär­ba­ren Scheu vor Grup­pen­struk­tu­ren. Exi­lan­tin in den USA, hatte sie dort sogar zu den Orga­ni­sa­tio­nen der ame­ri­ka­ni­schen Juden beträcht­li­che Distanz gehal­ten. Über­dies hatte sie in ihrem höchst kon­tro­vers auf­ge­nom­me­nen Buch über den Jeru­sa­le­mer Prozess gegen den Holo­caust-Orga­ni­sa­tor Adolf Eich­mann jeg­li­che Ein­füh­lung in die kom­plexe Lebens­welt des ost­eu­ro­päi­schen Juden­tums ver­mis­sen lassen.

„In Arendts har­schen Urtei­len steckte ein gehö­ri­ges Maß an Stolz. Es war die bewusste Ableh­nung, das passive, bedau­erns­werte Opfer zu spielen. Als Aus­druck poli­ti­scher Strenge und eines andau­ern­den Hasses auf das Mitleid geschah das ganz im Rahmen preu­ßi­scher Sitten. Arendt kam auf dieses Motiv wieder und wieder zurück, oft zu ihrem eigenen Schaden oder zum Schaden anderer.“

Ergo eine im preu­ßi­schen Zwangs­kor­sett ste­ckende, moder­ne­feind­li­che und vom Mar­xis­mus ent­täuschte Roman­ti­ke­rin, die mit ihrem frag­wür­di­gen Mentor Martin Heid­eg­ger auch nach dem Zweiten Welt­krieg noch so manches Ste­reo­typ teilte? Nein, so weit geht Judith Shklar nicht. Denn keine aus Kon­kur­renz­grün­den geschrie­be­nen Abrech­nun­gen und Pole­mi­ken sind ihre Texte, sondern kon­krete Nach­fra­gen, die sich glei­cher­ma­ßen aus der Sorge um das Schick­sal der Demo­kra­tie und aus Sym­pa­thie für Arendts Lebens­werk speisen. Und deshalb gera­dezu lie­be­voll ihre per­sön­li­che Erin­ne­rung an eine Den­ke­rin, der sie selbst Maß­geb­li­ches ver­dankt: „Ihre Strenge war für die nach Auto­ri­tät hun­gern­den ame­ri­ka­ni­schen Stu­den­ten von großem Reiz. Darüber hinaus ver­stan­den sie, dass Arendts Bildung eine Tiefe besaß wie es der edu­ca­tion der Ame­ri­ka­ner niemals möglich sein würde. Niemand, der ihre Vor­le­sun­gen in jenem kräch­zen­den, gut­tu­ral ost­preu­ßi­schen und deutsch beton­ten Eng­lisch gehört hat, wird je diese Stimme ver­ges­sen können. Stets war sie eine über­ra­gende Erschei­nung.“ Selten wurde mit grö­ße­rer Fair­ness und begrün­de­ter Skepsis über eine Phi­lo­so­phin geschrie­ben, die – nach Jahr­zehn­ten der Miss­ach­tung durch Ver­tre­ter der Frank­fur­ter Schule – in den letzten Jahren beinahe in den Rang einer säku­la­ren Hei­li­gen gehoben worden war. Judith Shklars luzide Texte stellen jedoch nicht nur die Ver­hält­nis­mä­ßig­keit im Fall Hannah Arendt wieder her, sondern schär­fen auch den Blick für jene heu­ti­gen Poli­tik­ana­ly­sen, in denen mit­un­ter eben­falls eine ganze Menge ent­täusch­ter Roman­tik wabert.

Judith Shklar: Über Hannah Arendt. Aus dem Ame­ri­ka­ni­schen über­setzt, her­aus­ge­ge­ben und mit einem Nach­wort ver­se­hen von Hannes Bajohr. Matthes & Seitz, Berlin 2020. 189 S., brosch., Euro 14,-
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