Major Biedermann und die westöstlichen Brandstifter
Jeffrey Herfs Buch „Unerklärte Kriege gegen Israel“ beschreibt detailreich, wie seinerzeit sowohl die DDR als auch Teile des westdeutschen radikalen Linken den jüdischen Staat als Todfeind betrachteten. Eine beunruhigende Lektüre – gerade in den jetzigen Zeiten gesamtdeutscher Amnesie.
Sogleich nach dem antisemitisch motivierten Mordanschlag von Halle waren in der deutschen Öffentlichkeit Stimmen zu hören, die schockiert von „etwas seit 1945 nie mehr Dagewesenem“ sprachen. Das war sicherlich gut gemeint als Ausweis einer Erschütterung, die glaubte, in historischen Zusammenhängen zu denken. Doch ist dem wirklich so? In Jeffrey Herfs neuem Buch „Unerklärte Kriege gegen Israel. Die DDR und die westdeutsche radikale Linke 1967–1989“ ist Genaueres nachzulesen: „Am 13. Februar 1970 ereignete sich der tödlichste Anschlag auf Juden in Deutschland seit dem Holocaust. Ein Brandstifter legte Feuer in einem Altenheim, das in einem jüdischen Gemeindezentrum in München untergebracht war. Sieben Bewohner starben, sechs in den Flammen und einer an den Verletzungen nach einem Sprung aus dem Fenster. Niemand bekannte sich zu dem Anschlag, bis heute ist der Fall ungelöst, auch wenn Indizien auf eine Beteiligung westdeutscher linker und oder palästinensischer Terroristen schließen lassen.“ Wenige Tage davor wurden auf dem Flughafen in München-Riem Reisende vor einem Schalter der israelischen Fluggesellschaft El Al mit Handgranaten und automatischen Waffen angegriffen, während kurz darauf ein Flugzeug der Swiss Air, das von Zürich nach Tel Aviv gestartet war, nach einer Bombenexplosion abstürzte. Beide PLO-Terrorakte forderten zahlreiche Tote, doch bereits am 3. April 1970 schrieb der linksextreme Dieter Kunzelmann, seinerzeit eine führende Gestalt der Westberliner „Tupamaros“, seinen „Genossen an der Heimatfront“: „Von Amman aus frage ich mich: Wann endlich beginnt bei Euch der organisierte Kampf gegen die heilige Kuh Israel? Die Granaten auf dem Flughafen lassen doch nur eine Kritik zu: die verzweifelten Todeskommandos durch besser organisierte, zielgerichtetere Kommandos zu ersetzen, die von uns selbst durchgeführt werden.“ Will heißen: Das Judenmorden sollten jene sich als „links“ missverstehenden jungen Deutschen übernehmen, deren Vätergeneration bereits „zielgerichtet“ vorgegangen war.
Obwohl dies und anderes – so etwa Ulrike Meinhofs jubelnde Reaktion auf den tödlichen Anschlag auf die israelischen Athleten der Münchner Olympiade von 1972 – inzwischen bestens dokumentiert ist (Jeffrey Herf bezieht sich u.a. auf die wegweisenden Arbeiten der Historiker Wolfgang Kraushaar und Martin Kloke), scheinen im kollektiven Gedächtnis des selbsternannten „Erinnerungsweltmeisters Deutschland“ hier noch immer blinde Flecke zu existieren. Fällt der Name Dieter Kunzelmann, sind es jedenfalls nicht nur die verbliebenen Veteranen des damaligen Milieus, sondern auch vermeintlich besser informierte Nachgeborene, die ihn, den geradezu pathologischen Antisemiten, vor allem mit einem vermeintlichen „Provokateur und Spaß-Kommunarden“ assoziieren. Sogar die Namen von Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann, die sich 1976 bei der Flugzeugentführung im ugandischen Entebbe – als erste Deutsche seit 1945 – persönlich an der Selektion der Juden unter den Passagieren beteiligt hatten, sind kaum noch bekannt. Auch die Teilnahme von rund 50 Mitgliedern des SDS an einem „Al Fatah-Sommercamp“ in Jordanien scheint ebenso un-erinnert wie die späteren Politreisen von westdeutschen K‑Gruppenfunktionären, von denen einer, der als Pensionär auch heute noch gern (wenn auch inzwischen luzider geworden) die Weltlage erklärt, noch 1977 nassforsch deklamiert hatte: „Ich habe nicht von Juden, sondern von Israelis gesprochen und das macht einen wesentlichen Unterschied…Viele sehen: Genauso gerecht wie die Zerschlagung des Deutschen Reiches gewesen ist, wird auch die Zerschlagung des israelischen Kolonialstaates sein.“ Auch dies etwas, das im Rückblick von den Beteiligten entweder verdrängt oder weg-analysiert wird.
Eine seltsame Amnesie, die umso größer ist, geht es um die DDR, deren Israel-Politik der dezidiert linksliberale, an der Universität von Maryland lehrende Herf in Beziehung setzt zu Rhetorik und Taten der Terroristen. Anders als RAF, Tupamaros und Revolutionäre Zellen, die – ähnlich wie die Studentenvereinigung des SDS – erst in Folge des Sechstagekrieges von 1967 Israel als „faschistischen Aggressor“ bezeichneten, hatte die DDR als treuer Vasall Stalins bereits seit ihrer Gründung 1949 den jüdischen Staat mit einem Vokabular bedacht, das ansonsten nur für die Verbrechen der Nazis vorgesehen war. Dank unzähliger Archivfunde kann nun Jeffrey Herf nachweisen, dass es nicht bei Agitation blieb, sondern der ostdeutsche Staat, der heute noch vielen als „zumindest klar antinazistisch“ gilt, bis 1989 Waffen und militärische Ausrüstung an die PLO und jene arabischen Staaten lieferte, die sich im Kriegszustand mit Israel befanden. Ostdeutsche MIG-Jagdflugzeuge waren auf Befehl Honeckers auf syrischer Seite im Einsatz während des Überfalls 1973 im Jom-Kippur-Krieg, wenngleich die DDR-Piloten dann in Aleppo blieben und dort durch sowjetisches Personal ersetzt wurden. Danach aber gab es sogar ein Ehrenplakat für die Beteiligten, deren Vorgesetzter – Sachen, die sich nicht erfinden lassen – ausgerechnet Major Biedermann hieß.
Die Details, die Jeffrey Herf hier klug strukturiert ausbreitet, machen noch heute schaudern, denn weder im inoffiziellen Schriftverkehr von Stasi, SED und DDR-Verteidigungsministerium noch in den protokollierten Gesprächen mit Assad Senior, Ägyptens Präsident Nasser oder Jassir Arafat wird kaschiert, welchem Zweck diese Waffen dienen – zur Vernichtung des Staates Israel. Freilich schloss ein Abkommen zwischen der DDR und der PLO auch die Klausel ein, keine Anschläge in der Bundesrepublik und in Westeuropa zu begehen, da diese nur ungewollte Aufmerksamkeit auf Ostberlin gezogen hätten. „Im Nachspiel des Münchner Anschlags vom 5. September 1972 tat die Regierung der DDR etwas, was sie nie wieder tun sollte: Sie verurteilte öffentlich einen Terroranschlag, dem Israelis zum Opfer gefallen waren. Allerdings verurteilte sie ihn, ohne auf die Tatsache hinzuweisen, dass die Opfer Israelis und Juden waren.“ Das noch heute existente Parteiorgan Neues Deutschland nannte weder die Namen der israelischen Athleten noch die Namen ihrer terroristischen Mörder, titelte aber bereits am 10. September: „Moshe Dayans Luftgangster ermordeten wehrlose Frauen und Kinder.“
Jeffrey Herf, weder eifernd-didaktisch noch ein Freund suggestiver Fragen, überlässt es dem Leser, eigene Schlüsse zu ziehen. Eine Frage jedenfalls erledigt sich nach der Lektüre dieses beklemmenden Buchs: Hätte man es wissen können? Durchaus, wurde doch in Ostberlin Jassir Arafat permanent mit militärischen Ehren empfangen, prangten die Fotos von Honeckers Besuchen in Damaskus und Tripoli auf den ersten Seiten der staatlichen Zeitungen. Auch in der UNO taten sich DDR-Diplomaten bei ihrer Denunziation des Zionismus als „rassistisch-faschistische Ideologie“ keinen Zwang an, was den Botschafter Israels (das seinerzeit von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei unter Golda Meir regiert wurde) 1973 in New York zu einer Einschätzung des angeblich „besseren deutschen Staates“ brachte, die gerade heute – in Zeiten erneuerter DDR-Weißwäsche – erinnert werden sollte: „Israel stellt mit Bedauern und Abscheu fest, dass der andere deutsche Staat die historische Verantwortung für den Holocaust und die sich daraus ergebenden moralischen Verpflichtungen ignoriert hat und weiterhin ignoriert. Diese Haltung wiegt umso schwerer, als die DDR der Gewalt- und Mordkampagne, die von arabischen Terrororganisationen gegen Israel und das jüdische Volk geführt wird, Unterstützung und praktischen Beistand zukommen lässt. Somit steht die Welt heute vor der Situation, dass einer der deutschen Staaten abermals mit der Negation der grundlegenden Rechte des jüdischen Volkes in Verbindung gebracht wird.“
Allerdings waren es damals nicht die publizistischen Großkaliber der Bundesrepublik, sondern die Vertreter der kleinen Jüdischen Gemeinde, die geradezu verzweifelt auf die Tatsache hinwiesen, dass die DDR nicht nur in ihren Massenmedien inflationär die Begriffe Faschismus, Nazismus und Völkermord verwendete, wann immer es um Israel ging, sondern auch deutsche Waffen produzierte und verkaufte, mit denen Juden getötet wurden. Heinz Galinski, Auschwitz-Überlebender und seinerzeit Vorsitzender des Zentralrates der Juden, schrieb nach dem Jom-Kippur-Krieg sogar einen von emotionaler Erschütterung grundierten öffentlichen Brief an Erich Honecker, in dem dieser an seine Vergangenheit als Antifaschist erinnert und gefragt wird, weshalb die DDR-Berichterstattung derart infam und voller Hass klassische Motive des Antisemitismus aufnehme. Honecker hat nie auf diesen Brief geantwortet, der es freilich auch bis heute nicht in die Schulbücher des wiedervereinigten Landes geschafft hat. So bleibt schockierend aktuell, was bereits 1970 der (von der damaligen Linken als „reaktionär“ geschmähte) westdeutsche Publizist Matthias Walden seine Landsleute gefragt hatte: „Ist es noch oder schon wieder soweit, haben die Söhne nicht aus der Schuld der Väter gelernt, haben die Väter versäumt, ihre Söhne anders zu erziehen, als sie selbst erzogen worden waren? Schießen im Abstand von weniger als einer Generation im abgeholzten Sumpf des Antisemitismus in unserem Vaterlande neue wilde Triebe?“
Jeffrey Herf hat mit geradezu bewundernswerter Ruhe und Detailgenauigkeit ein Buch geschrieben, das uns gerade heute zutiefst beunruhigen müsste.
Jeffrey Herf: Unerklärte Kriege gegen Israel. Die DDR und die westdeutsche radikale Linke. Aus dem Englischen von Nobert Juraschitz. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 518 S., geb. Euro 39,-