Linker Antisemitismus: Schuldabwehr und Antiimperialismus als Motiv
Der Sammelband “Gesichter der Antimoderne” untersucht Gefährdungen der demokratischen Kultur in der Bundesrepublik, die von Rechten, Linken und Islamisten ausgeht. Er beschreibt unter anderem, wie die DDR Rechtsterroristen in der Bundesrepublik unterstützte oder Linksterroristen ihre Israelfeindschaft zu rechtfertigen versuchten, indem sie ihn als Kampf gegen Imperialismus und Faschismus darstellten. Eine Rezension des von Martin Jander und Anetta Kahane herausgegebenen Sammelbands.
Antisemitismus existiert in nahezu allen sozialen Kontexten. Das ist eigentlich eine Binsenweisheit. Angekommen ist sie jedoch vielerorts noch lange nicht. Der Hass auf Juden und ‚das Jüdische‘ wird nach wie vor häufig externalisiert. Antisemit*innen, das sind dann ausschließlich die Anderen: Rechtsextreme, Muslime, Geflüchtete, Linke oder auch die so genannnte Mitte. Es ist ein Verdienst der Buchreihe „Interdisziplinäre Antisemitismusforschung“, das Phänomen nicht durch derartige ideologische Filter getrübt in den Blick zu nehmen.
Die Reihe versteht sich als Aufklärung über historischen und aktuellen Antisemitismus, seine Strukturen, Kontexte und Dynamiken. Die analytische Perspektive ist dabei nicht auf einzelne Fachdisziplinen, ein spezifisches Theoriekonzept oder einen bestimmten Methodenansatz beschränkt. So behandelt etwa Monika Schwarz-Friesels Sammelband den Antisemitismus der Gebildeten in Deutschland, Karin Stögners Monographie die Verschränkungen von Antisemitismus und Sexismus. Das von Stephan Grigat herausgegebene Buch widmet sich – als eine der ersten wissenschaftlichen Publikationen zu diesem Thema – dem Antisemitismus der AfD.
Der neueste Sammelband trägt den Titel „Gesichter der Antimoderne“ und wird herausgegeben vom Historiker Martin Jander und von Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung. Die insgesamt 16 Beiträge beschäftigen sich mit Gefährdungen der demokratischen Kultur in der Bundesrepublik, die von links, rechts sowie von Islamisten ausgehen. Neben den Aufsätzen zur langen Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik, zu linksradikaler Gewalt sowie zum türkischem Nationalismus als antipluralistischer Ideologie stechen vor allem die Beiträge zu linken Antisemitismus heraus.
Geteiltes Weltbild
Samuel Salzborn spürt in seinem Beitrag dem Verhältnis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu rechtsterroristischen Akteuren in der BRD nach. Über Akten aus dem MfS zeigt der Sozialwissenschaftler, dass die Entwicklung des rechten Terrors von Seiten der DDR genau beobachtet, gleichzeitig aber teils auch unterstützt wurde. Salzborns Personenportraits von drei wichtigen Rechtsterroristen machen deutlich: das MfS instrumentalisierte diese für eigene Zwecke. Die DDR trage deshalb für einen Teil der Geschichte des Rechtsterrorismus in der BRD eine politische und moralische Verantwortung.
Als Motive für das Agieren des MfS identifiziert Salzborn den Wunsch, die BRD über den Verweis auf dortige rechtsextreme Strukturen zu diskreditieren. Dazu kam die nicht unberechtigte Sorge vor einem gewalttätigen Vorgehen von antikommunistischen Rechtsextremen gegen die DDR selbst. Es wurden aber auch 42 Inoffizielle Mitarbeiter (IM) oder IM-Vorläufer aus der rechtsextremen Szene angeworben. Dies diente Salzborn zufolge nicht nur der Beschaffung von Informationen, sondern lag auch an dem mit vielen Rechtsterroristen geteilten antizionistischen und antiamerikanischen Weltbild.
Besonders interessant ist der Fall von Odfried Hepp, der, so Salzborn, „das ganze Ausmaß der ideologischen Korruptheit des DDR-Regimes“ dokumentiere. Denn das MfS achtete Hepp hoch, obwohl – oder besser: weil – er mit der sogenannten Hepp-Kexel-Gruppe zahlreiche Anschläge auf US-amerikanische Einrichtungen in Mittelhessen verübt hatte. Während Hepp in der BRD polizeilich gesucht wurde, verschaffte ihm das MfS gefälschte Ausweisdokumente und verhalf ihm 1983 als einzigem Mitglied der Hepp-Kexel-Gruppe über die DDR zur Flucht nach Syrien. Wie die MfS-Akten zeigen, war das Ministerium über Hepps Rechtsextremismus bestens informiert.
Zudem unterstützte das MfS anfänglich Hepps Kontakte zu den palästinensischen Terrororganisationen PLO und PLF. Bereits 1980 hatte Hepp zusammen mit der rechtsterroristischen Wehrsportgruppe Hoffmann eine militärische Ausbildung durch die PLO im Libanon erhalten. Nach seiner Flucht aus der BRD war er als PLF-Mitglied damit beauftragt, Strukturen in Europa aufbauen. Unmittelbar vor einem Treffen mit einem hochrangigen PLF-Funktionär 1985 in Paris wurde Hepp jedoch von der französischen Polizei verhaftet.
Antiimperialistische Kooperationen
Mit der ideologisch motivierten Zusammenarbeit zwischen deutschen Linksextremen und palästinensischen Terroristen beschäftigt sich auch der Tobias Ebbrecht-Hartmann in seinem Beitrag. Der Kulturhistoriker analysiert die Reaktionen der israelischen Öffentlichkeit auf die Entführung eines Passagierflugzeugs aus Tel Aviv und dessen anschließende Befreiung durch israelische Sicherheitskräfte im ugandischen Entebbe 1976. Mit der Geiselnahme wollte das deutsch-palästinensische Terrorkommando den weltweiten antiimperialistischen Kampf unterstützen und Mitkämpfer aus der Haft freipressen.
In den israelischen Medien, bei hochrangigen israelischen Politikern sowie bei den jüdischen Geiseln diente die Shoah als deutlicher Referenzrahmen für die Einordnung der Terroraktion. Die Erinnerung an den Holocaust wurde insbesondere heraufbeschworen, weil die Geiselnehmer die 248 Passagiere in zwei Gruppen aufteilten: Israelis, Doppelstaatsbürger, die nichtjüdische Ehefrau eines israelischen Passagiers, zwei jüdisch-orthodoxe Ehepaare ohne israelische Staatsangehörigkeit und die französische Crew wurden bis zur Befreiung festgehalten. Der Rest hingegen, darunter auch zwei nicht-israelische Juden, wurde freigelassen.
Auch zwischen Geiselnehmern und ihren Opfern waren die offensichtlichen Bezüge zwischen der Entführung und der NS-Vergangenheit immer wieder Thema, was Ebbrecht-Hartmann anhand von Aufzeichnungen einiger Geiseln zeigt. Dass die deutschen Terroristen den Anteil des Antisemitismus an ihren eigenen Handlungen erkennen, war für Ebbrecht-Hartmann nahezu unmöglich. Denn dies hätte „ihr gesamtes auf Verleugnung, Abspaltung und falscher Projektion basierendes Selbstbild“ erschüttert.
Das Handeln der beiden deutschen Geiselnehmer Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann sei bestimmt gewesen durch eine den Nationalsozialismus relativierende Opfersehnsucht sowie mangelnde Empathie mit Überlebenden der Shoah und ihren Nachkommen. Dazu kam, dass die Palästinenser als Identifikationsobjekt obsessiv idealisiert wurden. Solche Einstellungen waren im damaligen linksextremen Milieu keine Seltenheit. Spuren dieser Projektionen lassen sich, so Ebbrecht-Hartmann, noch im heutigen Israel-Diskurs finden.
Vermeintlicher Antifaschismus
Antiamerikanische und antiisraelische Feindbilder waren auch für die Rote-Armee-Fraktion (RAF) zentral. Wie Susanne Bressan in ihrem Beitrag zeigt, war deren vermeintlich antifaschistische Ideologie und Strategie von widersprüchlichen und eklektizistischen Anleihen aus dem Marxismus-Leninismus, Maoismus, Existentialismus, Postkolonialismus und anderer Theorietraditionen geprägt. Gleichzeitig dienten die permanenten Analogiesetzung der Bundesrepublik und USA mit dem Nationalsozialismus und der gegen sie gerichtete Faschismus-Vorwurf als zentrale Rechtfertigungsstrategie für den eigenen Terror und den der Waffenbrüder und ‑schwestern in Nahost.
Anhand der Reaktion von Ulrike Meinhof auf das Attentat auf die israelische Olympia-Mannschaft 1972 in München zeigt Bressan unter anderem, wie sich die Faschismus-Projektion mit einem antiimperialistischen Antisemitismus verbanden. Meinhof verstand die Geiselnahme durch die palästinensische Terrorgruppe „Schwarzer September“ als „antifaschistisch“. Die Terroristen hätten „Geiseln genommen von einem Volk, das ihnen gegenüber Ausrottungspolitik betreibt“. Israel hätte „seine Sportler verheizt wie die Nazis die Juden – Brennmaterial für die imperialistische Ausrottungspolitik“. Zionismus, also die Existenz eines jüdischen Staates, war für Meinhof per se faschistisch.
Als Hauptmotiv für den selbstgerechten Hass der RAF identifiziert Bressan den Wunsch, die nach außen nie konsequent eingestandenen familiäre Verstrickung in den Nationalsozialismus abzustreifen und sich selbst nicht in ähnlicher Weise schuldig zu machen. Paradoxerweise übernahmen die RAF-Kämpfer mit der vermeintlich antifaschistischen Ideologie und der Gewalt, die sie anwandten oder unterstützten, zentrale Elemente der faschistischen Volksgemeinschaft ihrer Elterngeneration. Bressan zufolge war das insbesondere der tödliche Hass auf Liberalismus, parlamentarische Demokratie, Amerika sowie Jüdinnen und Juden.
Bereits die vorgestellten Aufsätze zu linkem Antisemitismus zeigen: In „Gesichter der Antimoderne“ werden enorm viele Fragestellungen und Themenfelder bearbeitet. Dass manche Beiträge nicht so recht zum Thema das Sammelbandes passen, ist schade, tut seiner Qualität aber keinen Abbruch. „Gesichter der Antimoderne“ leistet in vielen Aufsätzen einen guten und differenzierten Beitrag zum Verständnis vergangener und aktueller Bedrohungen der demokratischen Kultur in Deutschland – egal aus welchem politischen Milieu sie kommen.
Der Sammelband „Gesichter der Antimoderne, Gefährdungen demokratischer Kultur in der Bundesrepublik Deutschland“, herausgegeben von Dr. Martin Jander und Anetta Kahane, ist 2020 im Nomos-Verlag erschienen. 347 Seiten kosten 69 Euro.