Linker Anti­se­mi­tis­mus: Schuld­ab­wehr und Anti­im­pe­ria­lis­mus als Motiv

In Entebbe befreite Geiseln bei ihrer Heim­kehr am 4. Juli 1976 nach Israel, Foto: Govern­ment Press Office (Israel), CC BY-SA 3.0, via Wiki­me­dia Commons

Der Sam­mel­band “Gesich­ter der Anti­mo­derne” unter­sucht Gefähr­dun­gen der demo­kra­ti­schen Kultur in der Bun­des­re­pu­blik, die von Rechten, Linken und Isla­mis­ten ausgeht. Er beschreibt unter anderem, wie die DDR Rechts­ter­ro­ris­ten in der Bun­des­re­pu­blik unter­stützte oder Links­ter­ro­ris­ten ihre Isra­el­feind­schaft zu recht­fer­ti­gen ver­such­ten, indem sie ihn als Kampf gegen Impe­ria­lis­mus und Faschis­mus dar­stell­ten. Eine Rezen­sion des von Martin Jander und Anetta Kahane her­aus­ge­ge­be­nen Sammelbands.

Anti­se­mi­tis­mus exis­tiert in nahezu allen sozia­len Kon­tex­ten. Das ist eigent­lich eine Bin­sen­weis­heit. Ange­kom­men ist sie jedoch vie­ler­orts noch lange nicht. Der Hass auf Juden und ‚das Jüdi­sche‘ wird nach wie vor häufig exter­na­li­siert. Antisemit*innen, das sind dann aus­schließ­lich die Anderen: Rechts­extreme, Muslime, Geflüch­tete, Linke oder auch die so genannnte Mitte. Es ist ein Ver­dienst der Buch­reihe „Inter­dis­zi­pli­näre Anti­se­mi­tis­mus­for­schung“, das Phä­no­men nicht durch der­ar­tige ideo­lo­gi­sche Filter getrübt in den Blick zu nehmen.

Die Reihe ver­steht sich als Auf­klä­rung über his­to­ri­schen und aktu­el­len Anti­se­mi­tis­mus, seine Struk­tu­ren, Kon­texte und Dyna­mi­ken. Die ana­ly­ti­sche Per­spek­tive ist dabei nicht auf ein­zelne Fach­dis­zi­pli­nen, ein spe­zi­fi­sches Theo­rie­kon­zept oder einen bestimm­ten Metho­den­an­satz beschränkt. So behan­delt etwa Monika Schwarz-Frie­sels Sam­mel­band den Anti­se­mi­tis­mus der Gebil­de­ten in Deutsch­land, Karin Stö­g­ners Mono­gra­phie die Ver­schrän­kun­gen von Anti­se­mi­tis­mus und Sexis­mus. Das von Stephan Grigat her­aus­ge­ge­bene Buch widmet sich – als eine der ersten wis­sen­schaft­li­chen Publi­ka­tio­nen zu diesem Thema – dem Anti­se­mi­tis­mus der AfD.

Der neueste Sam­mel­band trägt den Titel „Gesich­ter der Anti­mo­derne“ und wird her­aus­ge­ge­ben vom His­to­ri­ker Martin Jander und von Anetta Kahane, Vor­sit­zende der Amadeu-Antonio-Stif­tung. Die ins­ge­samt 16 Bei­träge beschäf­ti­gen sich mit Gefähr­dun­gen der demo­kra­ti­schen Kultur in der Bun­des­re­pu­blik, die von links, rechts sowie von Isla­mis­ten aus­ge­hen. Neben den Auf­sät­zen zur langen Geschichte des Rechts­ter­ro­ris­mus in der Bun­des­re­pu­blik, zu links­ra­di­ka­ler Gewalt sowie zum tür­ki­schem Natio­na­lis­mus als anti­plu­ra­lis­ti­scher Ideo­lo­gie stechen vor allem die Bei­träge zu linken Anti­se­mi­tis­mus heraus.

Geteil­tes Weltbild

Samuel Salz­born spürt in seinem Beitrag dem Ver­hält­nis des Minis­te­ri­ums für Staats­si­cher­heit (MfS) zu rechts­ter­ro­ris­ti­schen Akteu­ren in der BRD nach. Über Akten aus dem MfS zeigt der Sozi­al­wis­sen­schaft­ler, dass die Ent­wick­lung des rechten Terrors von Seiten der DDR genau beob­ach­tet, gleich­zei­tig aber teils auch unter­stützt wurde. Salz­borns Per­so­nen­por­traits von drei wich­ti­gen Rechts­ter­ro­ris­ten machen deut­lich: das MfS instru­men­ta­li­sierte diese für eigene Zwecke. Die DDR trage deshalb für einen Teil der Geschichte des Rechts­ter­ro­ris­mus in der BRD eine poli­ti­sche und mora­li­sche Verantwortung.

Als Motive für das Agieren des MfS iden­ti­fi­ziert Salz­born den Wunsch, die BRD über den Verweis auf dortige rechts­extreme Struk­tu­ren zu dis­kre­di­tie­ren. Dazu kam die nicht unbe­rech­tigte Sorge vor einem gewalt­tä­ti­gen Vor­ge­hen von anti­kom­mu­nis­ti­schen Rechts­extre­men gegen die DDR selbst. Es wurden aber auch 42 Inof­fi­zi­elle Mit­ar­bei­ter (IM) oder IM-Vor­läu­fer aus der rechts­extre­men Szene ange­wor­ben. Dies diente Salz­born zufolge nicht nur der Beschaf­fung von Infor­ma­tio­nen, sondern lag auch an dem mit vielen Rechts­ter­ro­ris­ten geteil­ten anti­zio­nis­ti­schen und anti­ame­ri­ka­ni­schen Weltbild.

Beson­ders inter­es­sant ist der Fall von Odfried Hepp, der, so Salz­born, „das ganze Ausmaß der ideo­lo­gi­schen Kor­rupt­heit des DDR-Regimes“ doku­men­tiere. Denn das MfS achtete Hepp hoch, obwohl – oder besser: weil – er mit der soge­nann­ten Hepp-Kexel-Gruppe zahl­rei­che Anschläge auf US-ame­ri­ka­ni­sche Ein­rich­tun­gen in Mit­tel­hes­sen verübt hatte. Während Hepp in der BRD poli­zei­lich gesucht wurde, ver­schaffte ihm das MfS gefälschte Aus­weis­do­ku­mente und verhalf ihm 1983 als ein­zi­gem Mit­glied der Hepp-Kexel-Gruppe über die DDR zur Flucht nach Syrien. Wie die MfS-Akten zeigen, war das Minis­te­rium über Hepps Rechts­extre­mis­mus bestens informiert.

Zudem unter­stützte das MfS anfäng­lich Hepps Kon­takte zu den paläs­ti­nen­si­schen Ter­ror­or­ga­ni­sa­tio­nen PLO und PLF. Bereits 1980 hatte Hepp zusam­men mit der rechts­ter­ro­ris­ti­schen Wehr­sport­gruppe Hoff­mann eine mili­tä­ri­sche Aus­bil­dung durch die PLO im Libanon erhal­ten. Nach seiner Flucht aus der BRD war er als PLF-Mit­glied damit beauf­tragt, Struk­tu­ren in Europa auf­bauen. Unmit­tel­bar vor einem Treffen mit einem hoch­ran­gi­gen PLF-Funk­tio­när 1985 in Paris wurde Hepp jedoch von der fran­zö­si­schen Polizei verhaftet.

Anti­im­pe­ria­lis­ti­sche Kooperationen

Mit der ideo­lo­gisch moti­vier­ten Zusam­men­ar­beit zwi­schen deut­schen Links­extre­men und paläs­ti­nen­si­schen Ter­ro­ris­ten beschäf­tigt sich auch der Tobias Ebbrecht-Hart­mann in seinem Beitrag. Der Kul­tur­his­to­ri­ker ana­ly­siert die Reak­tio­nen der israe­li­schen Öffent­lich­keit auf die Ent­füh­rung eines Pas­sa­gier­flug­zeugs aus Tel Aviv und dessen anschlie­ßende Befrei­ung durch israe­li­sche Sicher­heits­kräfte im ugan­di­schen Entebbe 1976. Mit der Gei­sel­nahme wollte das deutsch-paläs­ti­nen­si­sche Ter­ror­kom­mando den welt­wei­ten anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Kampf unter­stüt­zen und Mit­kämp­fer aus der Haft freipressen.

In den israe­li­schen Medien, bei hoch­ran­gi­gen israe­li­schen Poli­ti­kern sowie bei den jüdi­schen Geiseln diente die Shoah als deut­li­cher Refe­renz­rah­men für die Ein­ord­nung der Ter­ror­ak­tion. Die Erin­ne­rung an den Holo­caust wurde ins­be­son­dere her­auf­be­schwo­ren, weil die Gei­sel­neh­mer die 248 Pas­sa­giere in zwei Gruppen auf­teil­ten: Israe­lis, Dop­pel­staats­bür­ger, die nicht­jü­di­sche Ehefrau eines israe­li­schen Pas­sa­giers, zwei jüdisch-ortho­doxe Ehe­paare ohne israe­li­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit und die fran­zö­si­sche Crew wurden bis zur Befrei­ung fest­ge­hal­ten. Der Rest hin­ge­gen, dar­un­ter auch zwei nicht-israe­li­sche Juden, wurde freigelassen.

Auch zwi­schen Gei­sel­neh­mern und ihren Opfern waren die offen­sicht­li­chen Bezüge zwi­schen der Ent­füh­rung und der NS-Ver­gan­gen­heit immer wieder Thema, was Ebbrecht-Hart­mann anhand von Auf­zeich­nun­gen einiger Geiseln zeigt. Dass die deut­schen Ter­ro­ris­ten den Anteil des Anti­se­mi­tis­mus an ihren eigenen Hand­lun­gen erken­nen, war für Ebbrecht-Hart­mann nahezu unmög­lich. Denn dies hätte „ihr gesam­tes auf Ver­leug­nung, Abspal­tung und fal­scher Pro­jek­tion basie­ren­des Selbst­bild“ erschüttert.

Das Handeln der beiden deut­schen Gei­sel­neh­mer Wil­fried Böse und Bri­gitte Kuhl­mann sei bestimmt gewesen durch eine den Natio­nal­so­zia­lis­mus rela­ti­vie­rende Opfer­sehn­sucht sowie man­gelnde Empa­thie mit Über­le­ben­den der Shoah und ihren Nach­kom­men. Dazu kam, dass die Paläs­ti­nen­ser als Iden­ti­fi­ka­ti­ons­ob­jekt obses­siv idea­li­siert wurden. Solche Ein­stel­lun­gen waren im dama­li­gen links­extre­men Milieu keine Sel­ten­heit. Spuren dieser Pro­jek­tio­nen lassen sich, so Ebbrecht-Hart­mann, noch im heu­ti­gen Israel-Diskurs finden.

Ver­meint­li­cher Antifaschismus

Anti­ame­ri­ka­ni­sche und anti­is­rae­li­sche Feind­bil­der waren auch für die Rote-Armee-Frak­tion (RAF) zentral. Wie Susanne Bressan in ihrem Beitrag zeigt, war deren ver­meint­lich anti­fa­schis­ti­sche Ideo­lo­gie und Stra­te­gie von wider­sprüch­li­chen und eklek­ti­zis­ti­schen Anlei­hen aus dem Mar­xis­mus-Leni­nis­mus, Mao­is­mus, Exis­ten­tia­lis­mus, Post­ko­lo­nia­lis­mus und anderer Theo­rie­tra­di­tio­nen geprägt. Gleich­zei­tig dienten die per­ma­nen­ten Ana­lo­gie­set­zung der Bun­des­re­pu­blik und USA mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus und der gegen sie gerich­tete Faschis­mus-Vorwurf als zen­trale Recht­fer­ti­gungs­stra­te­gie für den eigenen Terror und den der Waf­fen­brü­der und ‑schwes­tern in Nahost.

Anhand der Reak­tion von Ulrike Meinhof auf das Atten­tat auf die israe­li­sche Olympia-Mann­schaft 1972 in München zeigt Bressan unter anderem, wie sich die Faschis­mus-Pro­jek­tion mit einem anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Anti­se­mi­tis­mus ver­ban­den. Meinhof ver­stand die Gei­sel­nahme durch die paläs­ti­nen­si­sche Ter­ror­gruppe „Schwar­zer Sep­tem­ber“ als „anti­fa­schis­tisch“. Die Ter­ro­ris­ten hätten „Geiseln genom­men von einem Volk, das ihnen gegen­über Aus­rot­tungs­po­li­tik betreibt“. Israel hätte „seine Sport­ler ver­heizt wie die Nazis die Juden – Brenn­ma­te­rial für die impe­ria­lis­ti­sche Aus­rot­tungs­po­li­tik“. Zio­nis­mus, also die Exis­tenz eines jüdi­schen Staates, war für Meinhof per se faschistisch.

Als Haupt­mo­tiv für den selbst­ge­rech­ten Hass der RAF iden­ti­fi­ziert Bressan den Wunsch, die nach außen nie kon­se­quent ein­ge­stan­de­nen fami­liäre Ver­stri­ckung in den Natio­nal­so­zia­lis­mus abzu­strei­fen und sich selbst nicht in ähn­li­cher Weise schul­dig zu machen. Para­do­xer­weise über­nah­men die RAF-Kämpfer mit der ver­meint­lich anti­fa­schis­ti­schen Ideo­lo­gie und der Gewalt, die sie anwand­ten oder unter­stütz­ten, zen­trale Ele­mente der faschis­ti­schen Volks­ge­mein­schaft ihrer Eltern­ge­nera­tion. Bressan zufolge war das ins­be­son­dere der töd­li­che Hass auf Libe­ra­lis­mus, par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie, Amerika sowie Jüdin­nen und Juden.

Bereits die vor­ge­stell­ten Auf­sätze zu linkem Anti­se­mi­tis­mus zeigen: In „Gesich­ter der Anti­mo­derne“ werden enorm viele Fra­ge­stel­lun­gen und The­men­fel­der bear­bei­tet. Dass manche Bei­träge nicht so recht zum Thema das Sam­mel­ban­des passen, ist schade, tut seiner Qua­li­tät aber keinen Abbruch. „Gesich­ter der Anti­mo­derne“ leistet in vielen Auf­sät­zen einen guten und dif­fe­ren­zier­ten Beitrag zum Ver­ständ­nis ver­gan­ge­ner und aktu­el­ler Bedro­hun­gen der demo­kra­ti­schen Kultur in Deutsch­land – egal aus welchem poli­ti­schen Milieu sie kommen.


Der Sam­mel­band „Gesich­ter der Anti­mo­derne, Gefähr­dun­gen demo­kra­ti­scher Kultur in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land“, her­aus­ge­ge­ben von Dr. Martin Jander und Anetta Kahane, ist 2020 im Nomos-Verlag erschie­nen. 347 Seiten kosten 69 Euro.

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