Vom Dilemma der Moderne-Hasser

Im Jahre 1934 ver­öf­fent­lichte der ita­lie­ni­sche Kul­tur­pes­si­mist Julius Evola sein Werk „Erhe­bung wider die moderne Welt“. Quelle: aenea­stu­dio, CC BY 2.0.

Mark J. Sedgwicks Buch „Gegen die moderne Welt“ beschreibt Strö­mun­gen und Unter­strö­mun­gen jenes anti­auf­klä­re­ri­schen Denkens, das gerade heute in Russ­land sowie in hie­si­gen salon­rech­ten Kreisen wieder en vogue ist.

Die Pointe springt aus nahezu jeder Seite dieses volu­mi­nö­sen Buchs, das den Titel „Gegen die moderne Welt“ trägt. Denn all die hier in ihrem Tun und Denken ver­sam­mel­ten Anti­mo­der­nis­ten, Tra­di­tio­na­lis­ten, eura­si­schen Ideo­lo­gen, Theo­so­phen, Alt-Katho­li­ken und Neu-Heiden, Islam-Hasser oder Islam-Kon­ver­ti­ten waren ja doch Kinder ihrer Zeit geblie­ben und selbst die besten Bei­spiele für jene Kri­sen­dia­gno­sen, die sie in ihren pole­mi­schen Schrif­ten pau­sen­los erstellten.

Mark Sedgwick, 1960 in Groß­bri­tan­nien gebo­re­ner Ideen­his­to­ri­ker, der inzwi­schen an der Uni­ver­si­tät im däni­schen Aarhus lehrt, prä­sen­tiert uns nar­ziss­ti­sche und/​oder selbst­has­se­ri­sche Indi­vi­duen, die mit dem Indi­vi­dua­lis­mus hadern, oft gera­dezu ver­zwei­felt (oder auch selbst­ge­recht hoch­fah­rend) Ver­ein­samte, die immer wieder publi­zie­rend anren­nen gegen die ver­meint­li­che „Ana­to­mi­sie­rung durch die moderne Welt“. Der als ungut frag­men­tiert emp­fun­de­nen Gegen­wart setzten inzwi­schen beinahe ver­ges­sene Intel­lek­tu­elle wie der fran­zö­si­sche Tra­di­tio­na­list René Guénon (1886–1951) oder der Faschis­mus-affine Julius Evola (1898–1974) ganz­heit­lich inten­dierte Alter­na­tiv-Ent­würfe ent­ge­gen, die frei­lich bereits beim gerings­ten Wirk­lich­keits­kon­takt zer­fa­ser­ten und von mit­ein­an­der heillos ver­strit­te­nen Jüngern zusätz­lich gerupft wurden.

Der katho­lisch sozia­li­sierte Guénon, der das Chris­ten­tum neu denken wollte und schließ­lich von der Theo­so­phie zum Sufis­mus kam, blieb in seiner Wahl­hei­mat Ägypten dann ebenso ein Außen­sei­ter wie Julius Evola in Italien, der sein Land vor jener „Händ­ler­kaste“ erret­ten wollte, die nach seiner Ansicht die kul­tur­not­wen­dige „Krie­ger­kaste“ ersetzt hatte – und zwar bereits im 12. Jahr­hun­dert, als sich Guelfen und Ghi­bel­li­nen einen erbit­ter­ten Kampf in Ober- und Mit­tel­ita­lien gelie­fert hatten. Kein Wunder, dass dann selbst Mus­so­lini und Himm­lers SS mit den ver­stie­ge­nen Ideen des selbst­er­klär­ten Libe­ra­lis­mus-Ver­äch­ters nichts anzu­fan­gen wussten – als Tech­ni­ker der Macht und des Terrors benö­tig­ten sie keine Schüt­zen­hilfe dieser Art. Anders Wla­di­mir Putin, der in der mitt­ler­weile fast voll­stän­dig gleich­ge­schal­te­ten Medi­en­land­schaft Russ­lands die Ideen des eura­si­schen Ideo­lo­gen Alex­an­der Dugin ver­brei­ten lässt, die dem Westen sein nahes Ende pro­phe­zeien und ein Gesell­schafts- und Herr­schafts­sys­tem pro­pa­gie­ren, in dem nicht etwa zivile Indi­vi­duen prägend sind, sondern Staat, Nation und Reli­gion – ver­kör­pert durch „ent­schei­dungs­starke Männer“.

Inter­es­san­ter­weise tritt der „Abend­land­ret­ter“ Dugin jedoch durch­aus für reli­giöse Diver­si­tät ein – zumin­dest, wenn es sich um den von ihm bewun­der­ten Islam handelt, dessen auto­ri­tä­res Poten­tial er schätzt und vor allem in den einst vom Zaren­reich kolo­ni­sier­ten rus­si­schen Peri­phe­rien zu fördern versucht.

Die Leser dieser fluid geschrie­be­nen Studie lernen also viel über jene intel­lek­tu­el­len Anti­mo­der­nis­ten, die es frei­lich nur in Ein­zel­fäl­len wie Dugin zu wirk­li­chen Stich­wort­ge­bern der Macht gebracht haben. Mark Sedgwicks fas­zi­nie­ren­dem Wim­mel­bild hätte indes­sen etwas mehr Struk­tu­rie­rung und ana­ly­ti­sche Tiefe gut­ge­tan. Denn so span­nend sich die Nach­zeich­nung längst ver­ges­se­ner und in obsku­ren Klein-Publi­ka­tio­nen geführ­ten Debat­ten auch liest – gerade heute, in dem ein nach­voll­zieh­bar „besorg­ter Kon­ser­va­tis­mus“ allzu oft in die Nähe eines nihi­lis­ti­schen Wut­bür­ger­tums gerät, wäre die Frage zu dis­ku­tie­ren, wo der legi­time Schutz des Tra­dier­ten aufhört und purer Tabula-rasa-Wahn beginnt.

Der Tra­di­tio­na­lis­mus“, schreibt Sedgwick, „war der berau­schende Versuch, eine gött­li­che Ordnung wie­der­her­zu­stel­len“, doch just da liegt die Crux: Gerade eine trag­fä­hige, nach­hal­tige Tra­di­tion muss schon im Eigen­in­ter­esse etwas derart Vages wie „das Gött­li­che“ ein­he­gen – vom anar­chi­schen Poten­tial des „Rauschs“ ganz zu schwei­gen. Die Prot­ago­nis­ten dieses Buches – im Übrigen aus­nahms­los Männer mit einem offen­sicht­li­chen Mangel an jeg­li­cher (Selbst-)Ironie – haben sich solchen Ver­zwickt­hei­ten ebenso wenig gestellt wie in heu­ti­gen Tagen ein Botho Strauß oder der „Thymos“-Schwär­mer und selbst­er­klärte AfD-Phi­lo­soph Marc Jongen. In diesem Zusam­men­hang hätte auch ein kit­schi­ger Ganz­heit­lich­keits-Begriff und dessen gera­dezu unver­meid­li­che Nähe zu einem homo­ge­nen, ja tota­li­tä­ren Men­schen­bild eine Pro­ble­ma­ti­sie­rung ver­dient. Umso mehr die Kritik ja bereits ganz früh laut gewor­den war: Als 1935 Julius Evolas Haupt­werk „Erhe­bung wider die moderne Welt“ in deut­scher Über­set­zung erschien, warnte ein derart fein­sin­ni­ger Moderne-Skep­ti­ker und Huma­nist wie Hermann Hesse augen­blick­lich vor diesem Werk. Heute sind es nicht zuletzt fried­wil­lige Sufis, die von Isla­mis­ten als Haupt­feinde mar­kiert werden. Ein biss­chen mehr Mut zum aktu­el­len Resümee hätte somit diesem Buch, das sich im Unter­ti­tel allzu keck als „Die geheime Geis­tes­ge­schichte des 20. Jahr­hun­derts“ bezeich­net, mit Sicher­heit nicht gescha­det. Immer­hin regt Sedgwicks Unter­su­chung dazu an, den Wahr­neh­mungs­raum zu weiten – und dann wieder einmal zu Fritz Sterns bereits 1961 erschie­ne­nem Meis­ter­werk „Kul­tur­pes­si­mis­mus als poli­ti­sche Gefahr“ zu greifen oder auch zu Stefan Breuers aktuell geblie­be­ner „Ana­to­mie der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­tion“, das all jene hyper-moder­nen deut­schen Moderne-Feinde ver­sam­melt, die man bei Mark Sedgwick ver­geb­lich sucht.

 

Mark J. Sedgwick: Gegen die moderne Welt. Die geheime Geis­tes­ge­schichte des 20. Jahr­hun­derts. Aus dem Eng­li­schen von Nadine Miller. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019, 549 S., geb. Euro 38,-

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