Die Geschichtsklitterung der Neuen Rechten
In dem Sammelband „Schleichend an die Macht“ beleuchten Autor*innen die Strategien der Neuen Rechten. Der Übernahme der Geschichtswissenschaften durch Revisionist*innen setzen sie Kenntnisreichtum, Analysefähigkeit und Handlungsempfehlungen entgegen.
Da wäre zum Beispiel die Geschlechterpolitik. Im Bundestagswahlkampf 2017 plakatierte die AfD drei junge Frauen am Strand. Der Text: „Burkas? Wir steh‘n auf Bikinis“. Darunter stand: „Trau dich, Deutschland!“ Es war der Sommer des Missvergnügens. Die Politik hatte alle Hände voll damit zu tun, die zuvor nach Deutschland gekommenen Geflüchteten zu integrieren. Die jahrzehntelang schlank gesparte Verwaltung zeigte sich immer wieder aufs Neue überfordert. Europa war zerstritten und Angela Merkel wurde auf Marktplätzen niedergebrüllt. Da kam die Offerte der Rechten, im Wahlkampf die Neuankömmlinge als Bedrohung der „deutschen Frau“ zu markieren, gerade recht.
Das scheinbar launige AfD-Plakat war natürlich eine Provokation. Das inhaltliche Angebot: „Unsere“ Frauen können sich wegen der „Fremden“ nicht mehr frei bewegen. „Wir“ beschützen sie. Das hat System. Mit dem Erstarken der Neuen Rechten in Europa folgen rechte Parteien zunehmend „dem gängigen Muster von Rechtspopulist*innen“, schreibten Claudia C. Gatzka und Andreas Audretsch im Vorwort des Sammelbandes „Schleichend an die Macht“. „So wie diese vorgeben, das ‚wahre‘ Volk zu repräsentieren, inszenieren sich jene als die ‚wahren‘ Feminist*innen.“ Frauenrechte werden „völkisch aufgeladen und die Geschichte weiblicher Emanzipation für das ‚weiße‘ Europa reserviert.“
Aber wie verhält es sich im Detail mit den geschichtspolitischen Strategien der Neuen Rechten? Welche Werkzeuge nutzen deren Ideologen, welche Erzählungen? Und was sparen sie aus, was fügen sie unzulässig hinzu? Gatzka ist gemeinsam mit Andreas Audretsch Herausgeberin dieses sehr lesenswerten Sammelbandes. Gemeinsam mit anderen Expert*innen unternehmen die beiden Herausgeber*innen den Versuch, zu erhellen, „Wie die Neue Rechte Geschichte instrumentalisiert, um Deutungshoheit über unsere Zukunft zu erlangen“. Verschiedene Aspekte werden hier näher beleuchtet.
Zum ersten analysiert der Politologe Andreas Audretsch die geschichtspolitische Strategie der Neuen Rechten am Beispiel der AfD. Deren Vertreter*innen versuchen immer wieder aufs Neue, mit Tabubrüchen und Geschichtsklitterung den Konsens der historischen Verantwortung der Bundesrepublik zu brechen. Im zweiten Text widmet sich Claudia C. Gatzka dem Beispiel Italien, wo bereits offen mit faschistischer Symbolik operiert wird, um aus historischen Anleihen legitime Begründungen für die Politik der Gegenwart abzuleiten. Der Journalist Stephan Ozsvath wiederum beleuchtet die geschichtspolitische Umwälzung durch Rechts in Ungarn. Dort geht Viktor Orbans Politik mit einer Neuschreibung der ungarischen Geschichte einher, einer Art Heldengeschichte, als deren zentrale Erlöserfigur er sich selbst inszeniert.
Im zweiten Teil des Bandes werden vier Themenbereiche genauer untersucht: Demokratie, Frauenrechte, Religion und die aktuelle Corona-Pandemie. Gerade beim letzten Thema ist erfreulich, wie aktuell das Buch ist. Die gut lesbaren Texte verklaren Zusammenhänge und Denkmuster. Beim Lesen stellt sich immer wieder die Erkenntnis ein, wie weit rechtsintellektuelles Denken im Laufe der letzten Jahre sagbar und druckbar geworden ist, wie weit letztlich der Diskurs bereits nach rechts verschoben ist. Etwa wenn es um Minderheitenrechte und Teilhabe geht, um Medienkritik und Gerechtigkeitsdiskurs.
Die Analyse der Freiburger Historikerin Claudia C. Gatzka ist ernüchternd. Die gut vernetzte Neue Rechte beschwört eine scheinbar heroische Vergangenheit mit behaupteten Traditionen. Auf diese Weise deutet sie Geschichte um und macht sie so zum Kampfplatz. Das, schreibt Gatzka in ihrem programmatischen Vorwort, ist gefährlich für die Demokratie. Sie fordert deshalb, diesem Revisionismus nicht nachzugeben.
Ihr Mittel der Wahl ist die vielstimmige Analyse von Strukturen und historischen Fakten. In ihrem Essay über den Versuch der Rechten, sich die Geschlechterpolitik im Sinne einer behaupteten unhinterfragten „Tradition“ anzueignen und sich auf diese Weise nutzbar zu machen, pusselt sie gut verständlich die zugrunde liegenden Denkfiguren auseinander. Das AfD-Plakat mit den Bikinifrauen ist dabei nur eine unter mehreren Varianten, das Thema Gleichstellung zu okkupieren und umzudeuten. Der Einsatz von Rechts für Frauenrechte sei lediglich Mittel zum Zweck, schreibt Gatzka: „Er soll den Rassismus salonfähig machen und benutzt Opfer sexualisierter Gewalt für rassistische Agitation.“
Nach Denkart der Rechten setze die weitgehende Offenheit der Mehrheitsgesellschaft für Einwanderung und für Diversität die Gleichstellung der Geschlechter aufs Spiel. Zugleich tabuisiere sie die Unterdrückung von Frauen in muslimischen Gesellschaften. Die vermeintliche Schutzbedürftigkeit von Frauen gegen „Eindringlinge“ aktiviere unter anderem einen behaupteten „Ehrbegriff“, ein uraltes Männchen-Weibchen-Schema.
Gatzka beleuchtet kenntnisreich die Wurzeln dieser Denkfigur. Bereits Ende des 19. Jahrhundert gab es einen Antifeminismus von Rechts, der eng verknüpft war mit Rassismus und Antisemitismus. Dabei war die bürgerliche Frau als zu beschützendes Weib schon damals eher die Ausnahme. Schon immer sind deren Vertreterinnen Angehörige einer allermeist akademischen Schicht, die sich argumentativ eingerichtet hat in der Polarität von „emotionaler“ Frau und „rationalem“ Mann. Heute heißen sie Caroline Sommerfeld oder Ellen Kositza, die Ehefrauen des Linksintellektuellen Helmut Lethen und des rechten Vordenkers und Götz Kubitschek.
„Antifeminismus muss man sich leisten können“, schreibt Gatzka sehr einleuchtend. Heute sei der Antifeminismus im Umfeld der Neuen Rechten „eine radikale Abwehrreaktion auf das Gender Mainstreaming“. Das geht soweit, dass sich die neurechte Autorin Caroline Sommerfeld – selbst gut ausgebildet und sozial abgesichert – in dem Bewegungsblatt Sezession für die Abschaffung des Frauenwahlrechts ausspricht.
„Schleichend an die Macht“ verdeutlicht, wie wichtig es ist, die großen Linien rechtspopulistischer Erzählungen zu verstehen und ihnen historisch gesichertes Wissen entgegenzusetzen. Umso hilfreicher ist es, dass die Autor*innen des Bandes sehr unterschiedliche Hintergründe und Herangehesnweisen haben. Sie sind Praktiker*innen der politischen Bildung und Forschung, Medienarbeiter*innen, Politikwissenschaftler*innen, natürlich Historiker*innen. Gerade das Ausschweifende, Vielfältige, die Unterschiede in Erfahrung, Herkunft und Perspektive machen das Buch so lesenswert.
Diese geballte Kompetenz macht den am Ende des Buches zu findenden „Aufruf“ der beiden Historiker*innen Hedwig Richter und Paul Jürgensen so lesenswert. Analyse ist wichtig – doch was ist konkret zu tun? Richter und Jürgensen konstatieren wie auch die anderen Autor*innen den „Angriff auf die grundlegenden Werte der liberalen Demokratie auf allen Ebenen“; er betrifft die Wissenschaft genauso wie den politischen Raum und die Zivilgesellschaft. Daher muss, so ihre Empfehlung, „die Antwort ebenso breit aufgestellt sein wie der Angriff der Neuen Rechten. Entziehen kann sich niemand, die Verantwortung tragen alle.“
Diese Verantwortung verorten sie natürlich zum einen für ihren eigenen Bereich, die Geschichtswissenschaft. Notwendig sei eine intensive und konkrete Auseinandersetzung mit der Geschichtsklitterung, die Rechtspopulist*inne in ganz Europa betreiben. „Wir brauchen Historiker*innen, die bereit sind, auch öffentlich in die Auseinandersetzung zu gehen – fundiert in der Analyse und klar in der Haltung“.
Ebenfalls in der Verantwortung sehen sie die demokratischen Politiker*innen. Gerade Konservative seien gefragt, „eine klare und gut begründete Haltung einzunehmen, da sie am ehesten als mögliche Koalitionspartner für Rechtspopulist*innen wahrgenommen werden“. Als Negativbeispiel nennen sie den CSU-Politiker Alexander Dobrindt, der – sich bei rechtem Wording großzügig bedienend – 2018 in der Tageszeitung Die Welt eine „konservative Wende“ gefordert hat. In seinem „Manifest“ macht sich der Landesgruppenchef der CSU im Bundestag die neurechte geschichtliche Deutung zu eigen, eine linke Elite der 68er-Generation habe sich gesellschaftliche Schlüsselpositionen gesichert. Die adäquate Gegenbewegung sei eine wie auch immer geartete konservative Revolution des Bürgertums.
Als weitere Handlungsoption sehen Richter und Jürgensen die politische Bildung. „Die liberale Demokratie kann nicht verteidigt werden, wenn es nicht gelingt, sie in der Breite der Gesellschaft fest zu verankern.“ Eine besondere Aufgabe hätten Gedenkstätten und Museen. Dabei gehe es ausdrücklich nicht um Parteipolitik, sondern „um Parteinahme im Sinne der Werte der liberalen Demokratie“. Insbesondere die politische Bildung sei gefragt, mit der Zeit zu gehen, auch was die sozialen Medien angeht. Lehrer*innen müssten auf dem Laufenden bleiben, wo und wie sich ihre Schüler*innen informieren. Dafür müsse die Politik den nötigen Rahmen organisieren.
Ebenfalls in der Pflicht sehen sie die Außenpolitik. Rechtes Gedankengut macht nicht Halt an innereuropäischen Grenzen. Notwendig sei die Vernetzung und gegenseitige Unterstützung der Demokrat*innen. Die Zivilgesellschaft in Europa, schreiben sie, müsse auf schrumpfende zivilgesellschaftliche Handlungs- und Denkräume, so genannte shrinking spaces, „mit transnationaler Solidarität, Austausch und Vernetzung reagieren“. Anders als es vor kurzem beim Europäischen Rat in Brüssel zu beobachten war, fordern Richter und Jürgensen Konsequenzen für Länder, die Rechtsstaatsprinzipien unterlaufen. „Solche finanziellen Sanktionen müssen mit qualifizierter Mehrheit verhängt werden können, um zu verhindern, dass sich rechtspopulistische Regierungen gegenseitig schützen.“
Fast mit das Wichtigste jedoch sind gut verständliche und lohnenswerte Zukunftsbilder. Liberale Demokratien müssten „Halt und Orientierung stiften und der antiaufklärerischen Vision der Rechtspopulist*innen ein Deutungsangebot entgegenstellen, das auf dem Forschungsstand der akademischen Geschichtswissenschaft beruht“. Ausdrücklich dem idealisierten Gestern ein erstrebenswertes Morgen entgegenzusetzen, das ist das Verdienst dieses lesenswerten Bandes.
Andreas Audretsch/Claudia C. Gatzka (Hg.): „Schleichend an die Macht. Wie die Neue Rechte Geschichte instrumentalisiert, um Deutungshoheit über unsere Zukunft zu erlangen“. Dietz 2020, 136 S., 14,90 Euro.