Die Geschichts­klit­te­rung der Neuen Rechten

Das Denkmal für die ermor­de­ten Juden Europas. Foto: Noppasin-Wongchum/shutterstock.com

In dem Sam­mel­band „Schlei­chend an die Macht“ beleuch­ten Autor*innen die Stra­te­gien der Neuen Rechten. Der Über­nahme der Geschichts­wis­sen­schaf­ten durch Revisionist*innen setzen sie Kennt­nis­reich­tum, Ana­ly­se­fä­hig­keit und Hand­lungs­emp­feh­lun­gen entgegen. 

Da wäre zum Bei­spiel die Geschlech­ter­po­li­tik. Im Bun­des­tags­wahl­kampf 2017 pla­ka­tierte die AfD drei junge Frauen am Strand. Der Text: „Burkas? Wir steh‘n auf Bikinis“. Dar­un­ter stand: „Trau dich, Deutsch­land!“ Es war der Sommer des Miss­ver­gnü­gens. Die Politik hatte alle Hände voll damit zu tun, die zuvor nach Deutsch­land gekom­me­nen Geflüch­te­ten zu inte­grie­ren. Die jahr­zehn­te­lang schlank gesparte Ver­wal­tung zeigte sich immer wieder aufs Neue über­for­dert. Europa war zer­strit­ten und Angela Merkel wurde auf Markt­plät­zen nie­der­ge­brüllt. Da kam die Offerte der Rechten, im Wahl­kampf die Neu­an­kömm­linge als Bedro­hung der „deut­schen Frau“ zu mar­kie­ren, gerade recht.

Das schein­bar launige AfD-Plakat war natür­lich eine Pro­vo­ka­tion. Das inhalt­li­che Angebot: „Unsere“ Frauen können sich wegen der „Fremden“ nicht mehr frei bewegen. „Wir“ beschüt­zen sie. Das hat System. Mit dem Erstar­ken der Neuen Rechten in Europa folgen rechte Par­teien zuneh­mend „dem gän­gi­gen Muster von Rechtspopulist*innen“, schreib­ten Claudia C. Gatzka und Andreas Aud­retsch im Vorwort des Sam­mel­ban­des „Schlei­chend an die Macht“. „So wie diese vor­ge­ben, das ‚wahre‘ Volk zu reprä­sen­tie­ren, insze­nie­ren sich jene als die ‚wahren‘ Feminist*innen.“ Frau­en­rechte werden „völ­kisch auf­ge­la­den und die Geschichte weib­li­cher Eman­zi­pa­tion für das ‚weiße‘ Europa reserviert.“

Aber wie verhält es sich im Detail mit den geschichts­po­li­ti­schen Stra­te­gien der Neuen Rechten? Welche Werk­zeuge nutzen deren Ideo­lo­gen, welche Erzäh­lun­gen? Und was sparen sie aus, was fügen sie unzu­läs­sig hinzu? Gatzka ist gemein­sam mit Andreas Aud­retsch Her­aus­ge­be­rin dieses sehr lesens­wer­ten Sam­mel­ban­des. Gemein­sam mit anderen Expert*innen unter­neh­men die beiden Herausgeber*innen den Versuch, zu erhel­len, „Wie die Neue Rechte Geschichte instru­men­ta­li­siert, um Deu­tungs­ho­heit über unsere Zukunft zu erlan­gen“. Ver­schie­dene Aspekte werden hier näher beleuchtet.

Zum ersten ana­ly­siert der Poli­to­loge Andreas Aud­retsch die geschichts­po­li­ti­sche Stra­te­gie der Neuen Rechten am Bei­spiel der AfD. Deren Vertreter*innen ver­su­chen immer wieder aufs Neue, mit Tabu­brü­chen und Geschichts­klit­te­rung den Konsens der his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung der Bun­des­re­pu­blik zu brechen. Im zweiten Text widmet sich Claudia C. Gatzka dem Bei­spiel Italien, wo bereits offen mit faschis­ti­scher Sym­bo­lik ope­riert wird, um aus his­to­ri­schen Anlei­hen legi­time Begrün­dun­gen für die Politik der Gegen­wart abzu­lei­ten. Der Jour­na­list Stephan Ozsvath wie­derum beleuch­tet die geschichts­po­li­ti­sche Umwäl­zung durch Rechts in Ungarn. Dort geht Viktor Orbans Politik mit einer Neu­schrei­bung der unga­ri­schen Geschichte einher, einer Art Hel­den­ge­schichte, als deren zen­trale Erlö­ser­fi­gur er sich selbst inszeniert.

Im zweiten Teil des Bandes werden vier The­men­be­rei­che genauer unter­sucht: Demo­kra­tie, Frau­en­rechte, Reli­gion und die aktu­elle Corona-Pan­de­mie. Gerade beim letzten Thema ist erfreu­lich, wie aktuell das Buch ist. Die gut les­ba­ren Texte ver­kla­ren Zusam­men­hänge und Denk­mus­ter. Beim Lesen stellt sich immer wieder die Erkennt­nis ein, wie weit rechts­in­tel­lek­tu­el­les Denken im Laufe der letzten Jahre sagbar und druck­bar gewor­den ist, wie weit letzt­lich der Diskurs bereits nach rechts ver­scho­ben ist. Etwa wenn es um Min­der­hei­ten­rechte und Teil­habe geht, um Medi­en­kri­tik und Gerechtigkeitsdiskurs.

Die Analyse der Frei­bur­ger His­to­ri­ke­rin Claudia C. Gatzka ist ernüch­ternd. Die gut ver­netzte Neue Rechte beschwört eine schein­bar heroi­sche Ver­gan­gen­heit mit behaup­te­ten Tra­di­tio­nen. Auf diese Weise deutet sie Geschichte um und macht sie so zum Kampf­platz. Das, schreibt Gatzka in ihrem pro­gram­ma­ti­schen Vorwort, ist gefähr­lich für die Demo­kra­tie. Sie fordert deshalb, diesem Revi­sio­nis­mus nicht nachzugeben.

Ihr Mittel der Wahl ist die viel­stim­mige Analyse von Struk­tu­ren und his­to­ri­schen Fakten. In ihrem Essay über den Versuch der Rechten, sich die Geschlech­ter­po­li­tik im Sinne einer behaup­te­ten unhin­ter­frag­ten „Tra­di­tion“ anzu­eig­nen und sich auf diese Weise nutzbar zu machen, pusselt sie gut ver­ständ­lich die zugrunde lie­gen­den Denk­fi­gu­ren aus­ein­an­der. Das AfD-Plakat mit den Biki­nif­rauen ist dabei nur eine unter meh­re­ren Vari­an­ten, das Thema Gleich­stel­lung zu okku­pie­ren und umzu­deu­ten. Der Einsatz von Rechts für Frau­en­rechte sei ledig­lich Mittel zum Zweck, schreibt Gatzka: „Er soll den Ras­sis­mus salon­fä­hig machen und benutzt Opfer sexua­li­sier­ter Gewalt für ras­sis­ti­sche Agitation.“

Nach Denkart der Rechten setze die weit­ge­hende Offen­heit der Mehr­heits­ge­sell­schaft für Ein­wan­de­rung und für Diver­si­tät die Gleich­stel­lung der Geschlech­ter aufs Spiel. Zugleich tabui­siere sie die Unter­drü­ckung von Frauen in mus­li­mi­schen Gesell­schaf­ten. Die ver­meint­li­che Schutz­be­dürf­tig­keit von Frauen gegen „Ein­dring­linge“ akti­viere unter anderem einen behaup­te­ten „Ehr­be­griff“, ein uraltes Männchen-Weibchen-Schema.

Gatzka beleuch­tet kennt­nis­reich die Wurzeln dieser Denk­fi­gur. Bereits Ende des 19. Jahr­hun­dert gab es einen Anti­fe­mi­nis­mus von Rechts, der eng ver­knüpft war mit Ras­sis­mus und Anti­se­mi­tis­mus. Dabei war die bür­ger­li­che Frau als zu beschüt­zen­des Weib schon damals eher die Aus­nahme. Schon immer sind deren Ver­tre­te­rin­nen Ange­hö­rige einer aller­meist aka­de­mi­schen Schicht, die sich argu­men­ta­tiv ein­ge­rich­tet hat in der Pola­ri­tät von „emo­tio­na­ler“ Frau und „ratio­na­lem“ Mann. Heute heißen sie Caro­line Som­mer­feld oder Ellen Kositza, die Ehe­frauen des Links­in­tel­lek­tu­el­len Helmut Lethen und des rechten Vor­den­kers und Götz Kubitschek.

Anti­fe­mi­nis­mus muss man sich leisten können“, schreibt Gatzka sehr ein­leuch­tend. Heute sei der Anti­fe­mi­nis­mus im Umfeld der Neuen Rechten „eine radi­kale Abwehr­re­ak­tion auf das Gender Main­strea­ming“. Das geht soweit, dass sich die neu­rechte Autorin Caro­line Som­mer­feld – selbst gut aus­ge­bil­det und sozial abge­si­chert – in dem Bewe­gungs­blatt Sezes­sion für die Abschaf­fung des Frau­en­wahl­rechts ausspricht.

Schlei­chend an die Macht“ ver­deut­licht, wie wichtig es ist, die großen Linien rechts­po­pu­lis­ti­scher Erzäh­lun­gen zu ver­ste­hen und ihnen his­to­risch gesi­cher­tes Wissen ent­ge­gen­zu­set­zen. Umso hilf­rei­cher ist es, dass die Autor*innen des Bandes sehr unter­schied­li­che Hin­ter­gründe und Her­an­ge­hesn­wei­sen haben. Sie sind Praktiker*innen der poli­ti­schen Bildung und For­schung, Medienarbeiter*innen, Politikwissenschaftler*innen, natür­lich Historiker*innen. Gerade das Aus­schwei­fende, Viel­fäl­tige, die Unter­schiede in Erfah­rung, Her­kunft und Per­spek­tive machen das Buch so lesenswert.

Diese geballte Kom­pe­tenz macht den am Ende des Buches zu fin­den­den „Aufruf“ der beiden Historiker*innen Hedwig Richter und Paul Jür­gen­sen so lesens­wert. Analyse ist wichtig – doch was ist konkret zu tun? Richter und Jür­gen­sen kon­sta­tie­ren wie auch die anderen Autor*innen den „Angriff auf die grund­le­gen­den Werte der libe­ra­len Demo­kra­tie auf allen Ebenen“; er betrifft die Wis­sen­schaft genauso wie den poli­ti­schen Raum und die Zivil­ge­sell­schaft. Daher muss, so ihre Emp­feh­lung, „die Antwort ebenso breit auf­ge­stellt sein wie der Angriff der Neuen Rechten. Ent­zie­hen kann sich niemand, die Ver­ant­wor­tung tragen alle.“

Diese Ver­ant­wor­tung ver­or­ten sie natür­lich zum einen für ihren eigenen Bereich, die Geschichts­wis­sen­schaft. Not­wen­dig sei eine inten­sive und kon­krete Aus­ein­an­der­set­zung mit der Geschichts­klit­te­rung, die Rechtspopulist*inne in ganz Europa betrei­ben. „Wir brau­chen Historiker*innen, die bereit sind, auch öffent­lich in die Aus­ein­an­der­set­zung zu gehen – fun­diert in der Analyse und klar in der Haltung“.

Eben­falls in der Ver­ant­wor­tung sehen sie die demo­kra­ti­schen Politiker*innen. Gerade Kon­ser­va­tive seien gefragt, „eine klare und gut begrün­dete Haltung ein­zu­neh­men, da sie am ehesten als mög­li­che Koali­ti­ons­part­ner für Rechtspopulist*innen wahr­ge­nom­men werden“. Als Nega­tiv­bei­spiel nennen sie den CSU-Poli­ti­ker Alex­an­der Dob­rindt, der – sich bei rechtem Wording groß­zü­gig bedie­nend – 2018 in der Tages­zei­tung Die Welt eine „kon­ser­va­tive Wende“ gefor­dert hat. In seinem „Mani­fest“ macht sich der Lan­des­grup­pen­chef der CSU im Bun­des­tag die neu­rechte geschicht­li­che Deutung zu eigen, eine linke Elite der 68er-Gene­ra­tion habe sich gesell­schaft­li­che Schlüs­sel­po­si­tio­nen gesi­chert. Die adäquate Gegen­be­we­gung sei eine wie auch immer gear­tete kon­ser­va­tive Revo­lu­tion des Bürgertums.

Als weitere Hand­lungs­op­tion sehen Richter und Jür­gen­sen die poli­ti­sche Bildung. „Die libe­rale Demo­kra­tie kann nicht ver­tei­digt werden, wenn es nicht gelingt, sie in der Breite der Gesell­schaft fest zu ver­an­kern.“ Eine beson­dere Aufgabe hätten Gedenk­stät­ten und Museen. Dabei gehe es aus­drück­lich nicht um Par­tei­po­li­tik, sondern „um Par­tei­nahme im Sinne der Werte der libe­ra­len Demo­kra­tie“. Ins­be­son­dere die poli­ti­sche Bildung sei gefragt, mit der Zeit zu gehen, auch was die sozia­len Medien angeht. Lehrer*innen müssten auf dem Lau­fen­den bleiben, wo und wie sich ihre Schüler*innen infor­mie­ren. Dafür müsse die Politik den nötigen Rahmen organisieren.

Eben­falls in der Pflicht sehen sie die Außen­po­li­tik. Rechtes Gedan­ken­gut macht nicht Halt an inner­eu­ro­päi­schen Grenzen. Not­wen­dig sei die Ver­net­zung und gegen­sei­tige Unter­stüt­zung der Demokrat*innen. Die Zivil­ge­sell­schaft in Europa, schrei­ben sie, müsse auf schrump­fende zivil­ge­sell­schaft­li­che Hand­lungs- und Denk­räume, so genannte shrin­king spaces, „mit trans­na­tio­na­ler Soli­da­ri­tät, Aus­tausch und Ver­net­zung reagie­ren“. Anders als es vor kurzem beim Euro­päi­schen Rat in Brüssel zu beob­ach­ten war, fordern Richter und Jür­gen­sen Kon­se­quen­zen für Länder, die Rechts­staats­prin­zi­pien unter­lau­fen. „Solche finan­zi­el­len Sank­tio­nen müssen mit qua­li­fi­zier­ter Mehr­heit ver­hängt werden können, um zu ver­hin­dern, dass sich rechts­po­pu­lis­ti­sche Regie­run­gen gegen­sei­tig schützen.“

Fast mit das Wich­tigste jedoch sind gut ver­ständ­li­che und loh­nens­werte Zukunfts­bil­der. Libe­rale Demo­kra­tien müssten „Halt und Ori­en­tie­rung stiften und der anti­auf­klä­re­ri­schen Vision der Rechtspopulist*innen ein Deu­tungs­an­ge­bot ent­ge­gen­stel­len, das auf dem For­schungs­stand der aka­de­mi­schen Geschichts­wis­sen­schaft beruht“. Aus­drück­lich dem idea­li­sier­ten Gestern ein erstre­bens­wer­tes Morgen ent­ge­gen­zu­set­zen, das ist das Ver­dienst dieses lesens­wer­ten Bandes.

 

Andreas Audretsch/​Claudia C. Gatzka (Hg.): „Schlei­chend an die Macht. Wie die Neue Rechte Geschichte instru­men­ta­li­siert, um Deu­tungs­ho­heit über unsere Zukunft zu erlan­gen“. Dietz 2020, 136 S., 14,90 Euro.

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