Die eigenen Leute
Der Meißner Theologe und einstige Bürgerrechtler Frank Richter befragt sich und seine Sachsen zu den Gründen wachsender Demokratieferne. Ideen, was zu tun ist, liefert er gleich mit. Eine Rezension.
Gehört Sachsen noch zu Deutschland? Aber ja, lautet die Antwort auf diese Frage, klar gehört das Land Sachsen, gehören die Sächsinnen und Sachsen zu diesem Land. Die Frage jedoch, die Frank Richter mit dem Titel seines bei Ullstein erschienenen Essays über seine Heimat aufwirft, kann auch anders verstanden werden. Verstehen sich die Sachsen selbst noch als Bürger dieses Landes? Oder sind sie längst auf dem Weg hinaus aus der Demokratie und hinein in den Obrigkeitsstaat? Und: Wie geht es Leuten wie Richter, die ihr Land lieben und politisch für es eintreten – und dennoch erleben müssen, wie ihnen das Vertrauen in ihre eigenen Leute abhandenkommt?
Frank Richter weiß, wovon er schreibt. Der 59 Jahre alte Theologe kommt aus der so schönen wie mittlerweile arg rechten Stadt Meißen. In der Wendezeit gehörte er als Jugendseelsorger zu einem Kreis mutiger Bürgerrechtler, im wiedervereinigten Deutschland war er Pfarrer, ab 2009 leitete er die Landeszentrale für politische Bildung. Als sich 2014 in Dresden Pegida bildete, suchte er das Gespräch, damals war noch von unzufriedenen Bürgern die Rede, von mangelnder Bildung im abgehängten Osten. Richter, dem Dünkel fremd ist, versuchte zu vermitteln. Die Welt nannte ihn seinerzeit „Pegida-Versteher“; Richter weigerte sich, dies als Herabsetzung zu verstehen. Dem Theologen ging es stets um Versöhnung.
In seinem nun erschienen Buch ist nicht mehr viel zu spüren von Richters einstigem Vertrauen in die Kraft des Dialogs. Mittlerweile zweifelt er ernsthaft an seinen Leuten. „Woher kommt die Verachtung der Politik, der offenen Grenzen, der Meinungs- und der Pressefreiheit?“, fragt er eingangs. „Tickt der Osten anders? Wenn ja, warum?“ Es ist ein Tasten dorthin, wo es weh tut in diesem Land. Man spürt: Die Veränderungen im Osten, sie schmerzen ihn auch persönlich. Richters Buch ist ein kluges Nachdenken über den Heimatbegriff in stürmischen Zeiten.
„Gehört Sachsen noch zu Deutschland?“ kommt zur rechten Zeit. Im Herbst wählen die Sachsen ihren neuen Landtag. Nach Lage der Dinge könnte die rechtspopulistische Alternative für Deutschland stärkste politische Kraft werden. Jeder vierte Wahlberechtigte zeigt sich in Umfragen bereit, der Partei die Stimme zu geben. Das bedeutet nicht, dass die AfD dann den Ministerpräsidenten stellt. Was aber passieren könnte, ist der politische Tabubruch. Teilen der sächsischen CDU wird durchaus zugetraut, für den eigenen Machterhalt mit den Rechten gemeinsame Sache zu machen. Ein Putsch gegen den Landesvorsitzenden Michael Kretschmer – und der Weg wäre frei. „Bedroht sind die Demokratie, die Humanität und die Freiheit“, mahnt Frank Richter. Er selbst, das sei der guten Ordnung halber erwähnt, war bis 2017 Mitglied der sächsischen CDU; zur Landtagswahl tritt er für die SPD an.
Dass eine Allianz von CDU und AfD überhaupt denkbar ist in Sachsen – dem einstigen Musterland der deutschen Wiedervereinigung – hat natürlich Gründe. Richter versucht, sie auf 128 Seiten herauszuarbeiten. Er macht es sich und seinen Landsleuten nicht leicht. Richter negiert nicht die bis heute nachwirkenden sozialökonomischen Umwälzungen der Wendezeit, aber er lässt den Ostdeutschen ihren Fremdenhass und das Einrichten im Opferstatus nicht durchgehen. Er kitzelt seine Sachsen bei ihrer Obrigkeitshörigkeit, verbunden mit dem Hang zum Privatisieren in der gemütlichen Opferecke.
Eindrücklich beschreibt er Begegnungen mit Bürgerinnen und Bürgern, schildert deren „Verbitterungsstörung“. Eine treffende Beschreibung jener Verfassung, die bei immer mehr, meist älteren Ostdeutschen zu konstatieren ist. Aus Erschütterung folgten Verletzungen, aus Verletzungen Kränkungen, aus diesen wiederum jene umfassende Verbitterung, gekleidet in Hass, den die Abendnachrichten aus Dresden, Chemnitz oder Meißen zeigen. Die Resignation der abgehängten Alten findet ihren Widerhall in der besorgniserregend ins Antidemokratische, mitunter Extremistische kippenden Nachwendegeneration, die für ihre Eltern und Großeltern die „Wende“ zu vollenden meinen.
„Der Osten tickt anders“, reklamiert Richter für seine Leute und benennt Ursachen. „In bestimmten Dörfern und peripheren Gebieten sollte man die staatliche Daseinsfürsorge ehrlicherweise als politische Sterbehilfe bezeichnen.“ Es ist dies jener Zustand, den flüchtig Durchreisende nicht zu erkennen vermögen. Der Osten ist in manchen Landstrichen ein milliardenteuer durchsaniertes Idyll, dem die Zukunft abhandengekommen ist. Frank Richter bleibt die Zahlen nicht schuldig, er erklärt, wie der millionenfache Wegzug zu Überalterung und ökonomischer Schmalbrüstigkeit führen, zu miesen Gefühlen aus der Kategorie Unterlegenheit und Zweitklassigkeit.
Alles in allem ist „Gehört Sachsen noch zu Deutschland?“ die niederdrückende Zustandsbeschreibung eines Herzens-Sachsen. Frank Richter, der Theologe, Pädagoge, Welterklärer, bietet aber auch Ideen für einen Neustart an. Seine sieben Thesen machen dieses Buch zu einer Ideenmaschine für verzagte Demokraten. Als guter Prediger führt er seine Leserinnen und Leser aus dem Analytischen ins Konkrete. Er kitzelt die Politik bei ihrer Ehre und ermutigt sie, auch irreale Ängste der BürgerInnen ernst zu nehmen, um sie nicht mit den Rechten allein zu lassen. Er fordert einen starken Staat auf der Basis geltenden Rechts und nachhaltige Wirtschaftshilfe auch für abgelegene Gegenden. Nur so kann der Osten wieder jünger und progressiver werden. Er ermutigt zu regionalen Wirtschaftskreisläufen und Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements.
Es sind gute Wünsche für ein Land, zusammengetragen von einem, der Sachsen und seine Menschen kennt und liebt. Frank Richter ist einer von ihnen; ganz offenbar möchte er weiter zu Deutschland gehören.
Frank Richter: „Gehört Sachsen noch zu Deutschland? Meine Erfahrungen in einer fragilen Demokratie“. Ullstein, 128 Seiten, 15 Euro