„Die AfD ist sehr geschickt darin, das ostdeutsche Binnenkollektiv neu zu beatmen“
Woher kommt die große Wut im Osten? Die Schriftstellerin Ines Geipel über Gewaltlust, verdrängte Diktaturerfahrungen und den Erfolg der AfD.
Ines Geipel ist Schriftstellerin, studierte Literaturwissenschaftlerin und Philosophin. Sie unterrichtet an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Im Frühjahr 1989 floh sie über Ungarn aus der DDR in den Westen. Ihr 2019 erschienenes Buch „Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass“ vereint Familiengeschichte, Gesellschaftsdiagnose, Zeitgeschichte und kollektive Psychologie. Ralf Fücks sprach mit ihr vor den Landtagswahlen über die Ursachen für die spezifische Anfälligkeit des Ostens für Nationalismus, Rechtsextremismus und Gewalt.
Ralf Fücks: Frau Geipel, Sie sprechen in Ihrem Buch von der besonderen „Gewaltlust“ des Ostens. Im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße gab es dort seit der Einheit dreimal mehr neonazistische und rassistische Straftaten als im Westen. Kann man deshalb von einer besonderen Anfälligkeit sprechen?
Ines Geipel: Die Fakten sprechen zumindest für sich. Mir ging es in dem Buch vor allen Dingen darum, die lange historische Linie von Gewalt und Verdrängung anzuschauen und auf einer tiefen Ebene bis in die Familie hinein zu befragen. Es gab nach ‚89 verschiedenste Entlastungserzählungen. Mir scheint, dass sich dieses Massiv der Unaufgelöstheiten zu etwas zusammengeschoben hat, was jetzt im Moment wie ein Eiterpickel aufgeht. Mein Buch sucht nach der Tiefenvergletscherung des Ostens und seinem Schlingern zwischen Trauma und Mythisierung.
Ralf Fücks: Das Buch liefert eine Kontrasterzählung zu dem, was en vogue ist. Wir erleben gerade eine Art Ostalgie, eine posthume Verklärung der DDR als große Wärmestube, als ein Ort intensiver menschlicher Beziehungen, von Solidarität und Authentizität. Und Sie entwerfen ein ganz anderes, ziemlich düsteres Bild von Gewalt, Angst, Anpassung, Denunziantentum bis hin zu einer Kontinuität autoritärer Denkformen und Rituale, die aus dem Nationalsozialismus adaptiert wurden. Woher kommt diese Diskrepanz in der Sicht auf den Osten?
Ines Geipel: Es geht mir nicht um Düsternisse, sondern um die Annäherung an eine Erfahrungswelt. Ich spreche jemandem, der mit zwölf, dreizehn Jahren DDR-Geschichte ‚89 dann in eine offene Gesellschaft gehen konnte, gar nicht ab, dass er eine glückliche Kindheit hatte. Aber das ist für mich nicht der Punkt. Für mich war die eigentliche Frage, warum wir uns so einrichten in diesen halben Erzählungen, also in den Märchenfilm-Varianten des Ostens. Denn wenn diese Erzählungen stimmen würden, hätten wir das AfD-Problem heute nicht. Das hat keine Logik. Und ich habe versucht, diese Alogik und damit ja auch unsere historische und emotionale Schizophrenie zu befragen. Wenn eine Generation wie die Einheitskinder, in den 70er-Jahren geboren, ‚89 das Ende der Kindheit erlebt, kommen wir doch nicht weiter, wenn jetzt vornehmlich diese Generation uns die DDR erklärt. Klar gibt es auch für diese Generation einen harschen Bruch, aber es braucht doch die beiden Generationen vor ihr, um die reale Diktaturerfahrung zu verstehen. Wir wissen doch, dass eine Gesellschaft immer auch eine transgenerationelle Erzählung ist und die Kriegskind-Generation etwa die Mauerkinder und die Einheitskinder ungemein geprägt hat. Mein Versuch war es, das ein Stück weit zusammenzubekommen, um den schnellen Oberflächenerzählungen zu entkommen und einen vollständigeren Blick zu erhalten.
Ralf Fücks: Es geht in Ihrem Buch auch um Ihre eigene Familiengeschichte. Sie hatten zwei Großväter, beide in der SS, und einen Vater, von dem sich später herausstellte, dass er 15 Jahre als Agent mit Spezialaufträgen im Westen eingesetzt war. Und darüber wurde nicht gesprochen. Das Schweigen über die Schuld im Nationalsozialismus und das Schweigen über die Beteiligung an der Repression in der DDR – was macht dieses doppelte Beschweigen mit einer Gesellschaft?
Ines Geipel: Schweigen ist Macht. Wir sind immer noch sehr befasst mit der historischen Auswertung der Doppeldiktatur im Osten. Es geht mir ausdrücklich nicht darum, eine Auslöschungsdiktatur wie den Nationalsozialismus mit etwas gleichzusetzen, sondern für den Osten festzuhalten: Wenn der Nationalsozialismus in dieser Weise unter die DDR-Gesellschaft wie in einen Eisschrank gelegt wurde, die Geschichten in den Familien nicht geklärt werden konnten, dann hat das ganz zwangsläufig Folgen. Ich nehme den Osten aktuell als eine einzige Suchstation wahr, was Geschichte, Familiengeschichte, Generationsgeschichte angeht. Warum das so lange dauert? In meinen Augen spricht die Dauer für die Wucht der Erfahrungen. Wenn es einfach gewesen wäre, wäre das Schwiegen aufgebrochen. Das Gegenteil passiert: Der Osten rutscht in die Regression. Familien etwa sind Sanktuarien. Da geht es ums Eingemachte. Wie oft ich das bei der Einheitskindergeneration erlebt habe: Der Vater war ZK-Mitglied, und die Tochter sagt: Ja, das kläre ich alles mal, wenn der gestorben ist. Also diese Angst, die Eltern zu befragen du damit auch die Zeit ernsthaft zu befragen, die zieht sich im Osten durch alle Generationen. Nun erliegen wir dem Kasper-Hauser-Syndrom.
Ralf Fücks: Diese Angst gab es im Westen in den 50er- und 60er-Jahren auch, als diese Geschichten subkutan in den Familien präsent waren. Es gab zwar den politischen Antifaschismus der Studentenbewegung, das „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“. Aber das hieß nicht unbedingt, dass diese Auseinandersetzung auch in den Familien ausgetragen wurde. Sie wurde vornehmlich auf der Straße oder im Hörsaal ausgetragen, also abstrakt. Dennoch gab es eine Ungleichzeitigkeit zwischen Ost und West: Die DDR war ja offiziell der Hort des Antifaschismus und hatte sich damit dieser Geschichte entledigt, während im Westen spätestens seit dem Auschwitz-Prozess Schritt für Schritt eine Konfrontation mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Schuldfrage stattgefunden hat.
Ines Geipel: Genau. Und das ist doch absolut relevant. Der Schulddruck im Westen war ab einem bestimmten Zeitpunkt so stark, dass er die Gesellschaft verändert hat. Ich gebe Ihnen völlig Recht, wenn man sich in die Familien im Westen hineinfragt ist das meist auch nicht so dolle mit der Klärung. Trotzdem ist der Umgang mit den Opfern ab einem bestimmten Zeitpunkt zur gesellschaftlichen Nenngröße geworden. Es gab eine Art von Konsens: Das geht, und das geht hier nicht mehr. Und das haben wir bisher im Osten nicht geschafft, das ist nicht da. Man kann in Plauen in einem Einfamilienhaus beim Grillen sitzen und da schreit der Nachbar rüber: „Ich hau dir ‚nen Holzscheit ins Hirn, du Scheißjude.“ Diesen integrierten Nazi, den wir im Osten haben, und zwar bis in den Alltag hinein, und in einer Massivität und als Mainstream – der ist nicht hinzunehmen. Das sickert in die Schulen, in den Alltag, in die gesellschaftlichen Poren. Und das, was da über Jahrzehnte unter der Decke vor sich hinmoderte, wird nun offensiv, öffentlich. Die widerlichen Dinge werden nicht nur gesagt, sie wollen sich in Aktionen entladen. Da braucht es dringend eine andere politische Kultur.
Ralf Fücks: Ich komme noch mal auf das Paradox zurück zwischen offiziellem Antifaschismus und den gleichzeitig fortwirkenden autoritären, kollektivistischen, fremdenfeindlichen Einstellungen bis hin zum offenen Rassismus. Sie beschreiben sehr eindrücklich, dass der Rechtsradikalismus nicht erst nach dem Fall der Mauer in den Osten kam. Er war bereits da: 5.000 organisierte rechtsradikale Skinheads in 1980er Jahren.
Ines Geipel: Er war da, er wurde geduldet und sogar befördert. Er ist Teil dieser instrumentellen Geschichtspolitik im Osten. Es waren häufig die Kinder der Stasi-Leute, die sich derartig radikalisiert haben.
Ralf Fücks: Aber woher kommt das, dass die sich nach rechts radikalisiert haben? Weil das die maximale Provokation war?
Ines Geipel: Das spielt auch eine Rolle. Ich glaube schon, dass die Jungs in den End-Achtzigerjahren, die in den Stasi-Familien sozialisiert wurden, sich in der Skinhead-Kultur finden wollten. Diese Verlogenheit, das ist doch etwas, mit der ich und viele andere groß geworden sind. Ich wusste als Mädchen, dass der Kommunismus im Kern eine Lüge ist, weil ich es jeden Tag zu Hause erlebt habe. Und ich glaube, das ist bei diesen Jungs genauso gewesen. Und das Dramatische ist eben, dass mit denen nicht darüber gesprochen wurde. Jeder blieb mit der Kälte und Brutalität der Herkunft allein. Wir unterschätzen die Binnenkultur oder den Binnenkosmos, den Einschlusscharakter der DDR-Gesellschaft.
Ralf Fücks: Was da unterschwellig los war, das brach ja zum ersten Mal richtig sichtbar auf schon kurz nach der Einheit, 1991 Hoyerswerda und dann 1992 in Rostock-Lichtenhagen ...
Ines Geipel: ... und hörte nie mehr auf.
Ralf Fücks: Die Stoßtrupps, die da das Flüchtlingsheim angegriffen haben, waren ja keineswegs isoliert, sondern wurden getragen von der johlenden Zustimmung zumindest eines relevanten Teils der Bevölkerung.
Ines Geipel: Deswegen das Ding mit den Grillen. Daraus spricht ja nicht nur das Autoritäre, sondern Entwertung, Verachtung, Hass. Es geht um Auslöschung des Anderen. Der andere muss weg. Das ist der Gewaltkern, der da drinsteckt.
Ralf Fücks: Kommt diese Gewaltlust aus der Traumatisierung, aus der eigenen Gewalterfahrung?
Ines Geipel: Vielfach. Aber es ist nicht nur die Gewalt in den Familien. Ich denke, wir sollten endlich unbedingt über die strukturelle Gewalt im Osten sprechen. Was ist in den Kinderheimen passiert, was in den Kindergärten und Schulen, was im Sport? Ich sitze momentan im Militärarchiv in Freiburg, mit der Frage, in welcher Weise sich das Militär in die Gesellschaft hineingefräst hat. Man nannte das ja den militärisch-industriellen Komplex. Was da alles geforscht auf kriminelle Weise wurde. Es ist, als würde man in den Kern des Systems schauen. Es hat etwas Unvordenkliches, Grauenvolles. Und diesen Teil des Systems haben wir in dieser Entlastungsfreude nach ‚89 nicht in den Blick genommen. Da gibt es noch sehr Grundsätzliches zu heben.
Ralf Fücks: Ich springe am Schluss noch mal in die Gegenwart. Wieso gelingt es der AfD, sich als Erbin der Bürgerrevolution von 1989 zu inszenieren? So treten die ja auf: „Wir vollenden die Wende“. Was ist das?
Ines Geipel: Der Treppenwitz der Geschichte. Aber interessant daran ist: Der Osten wird erstmals nicht als Opferkollektiv angesprochen. Das ist vielleicht auch der Grund, warum es funktioniert. Die perfide Nummer soll zur Emanzipationsgeschichte umgeschrieben werden. Die Idee soll heißen: Wir machen jetzt hier die Revolution. Eine Revolution ist halt auch biografisch gesehen eine Rarität.
Ralf Fücks: Inwieweit knüpft denn die AfD auch an bestimmte mentale Kontinuitäten an? Zum Beispiel „das Kollektiv der Gleichen als fortwirkendes Ideal“ – das ist ein Zitat aus Ihrem Buch. Man kann zugespitzt sagen: von der Volksgemeinschaft zur Volkssolidarität und zurück. Und das wird heute wiederbelebt, die Idee der homogenen Gemeinschaft, der nationalen Solidarität.
Ines Geipel: Wenn Sie sich die AfD-Programme in Sachsen und in Brandenburg anschauen, steckt da unwahrscheinlich viel DDR-Kollektiv drin. Die AfD ist sehr geschickt darin, das ostdeutsche Binnenkollektiv neu zu beatmen. Und das funktioniert auch über die Generationen. Die absolute Konstante besagt: „Wir sind die besseren Deutschen“. Das ist die ganz lange Linie aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die schweißt zusammen und hält wie Stahlseile. Damit schafft sich die AfD ihre Mainstream-Geschichte. Und das ist schief und komplett gaga, aber wer will nicht mal eine Revolution gemacht haben?
Ralf Fücks: Und was ist zu tun?
Ines Geipel: Gegenhalten, konfrontieren, versuchen, den Mist aufzubrechen. Es geht doch nicht anders. Reingehen und Dresche kriegen. Klar gibt es unwahrscheinlich viel Dresche. Aber es ist wichtig zu sagen: Nein, das geht nicht, es funktioniert so nicht. Hier wird eine komplette politische Kultur an die Wand gefahren und nicht nur das.
Ralf Fücks: Vielen Dank für das Gespräch!
Ines Geipel: „Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass“. Klett-Cotta, 277 Seiten, 20 Euro