Den Osten gibt es nicht
Vor den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen richten sich die Blicke von Politik und Medien auf Ostdeutschland. Bei den zurückliegenden Kommunal- und Europawahlen wurde die AfD mancherorts stärkste politische Kraft. Was geschieht da? Der Versuch einer Einordnung.
Parteien und Gesellschaft im Osten
Ein wiederkehrendes Motiv der Medienberichte über den Wahlkampf im Osten ist die Wahrnehmung, in einigen Regionen übernähmen die etablierten Volksparteien gar nicht einmal mehr den Versuch, die Wähler zu erreichen. Die AfD hingegen sei mit ihren Botschaften omnipräsent. Die Ursachen für die mangelnde Präsenz der Parteien sind jedoch komplex. In Ostdeutschland entstanden nach der Wiedervereinigung für keine Partei stabile Wählermilieus. Lediglich die PDS, die heutige Linkspartei, konnte sich in den 90er Jahren auf das Milieu ehemals staatsnaher Funktionseliten der DDR stützen. Feste bürgerlich-konservative Wählermilieus bildeten sich ebenso wenig, wie sozialdemokratisch-gewerkschaftlich geprägte Milieus. Nach der Zeit der DDR und ihrer repressiven Überorganisation der Gesellschaft war die Skepsis gegenüber Parteien und gesellschaftlichen Großorganisationen weit verbreitet. Die Bereitschaft, sich jenseits der eigenen unmittelbaren Lebensbelange zu engagieren, war gering. Daraus speist sich – neben der bis vor kurzem ungeminderten Abwanderung junger und gut ausgebildeter Leute – die Schwäche großer gesellschaftlicher Akteure wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen.
Es ist also nicht das Desinteresse oder das Unvermögen von Parteien und gesellschaftlichen Gruppen die Ursache für die mangelnde Präsenz in den Regionen. Es fehlen schlicht die Menschen und die Strukturen, um politische Deutungsangebote auch tatsächlich vor Ort zu kommunizieren.
Die Wählerschaft der AfD
Wer die AfD wählt, dürfte inzwischen wissen, um was für eine Partei es sich handelt und welche Ziele sie vertritt. Dennoch gilt es, die Motivlagen für die Wahl der AfD als Partei der rechten Sammlung zu differenzieren. Dazu zählt, in der Analyse Protestverhalten unter Inkaufnahme rassistischer Positionen von der latenten oder gar manifesten Zustimmung zu diesen Positionen zu unterscheiden. Bei den zurückliegenden Wahlen seit 2016 hat die AfD nicht nur in großem Umfang Stimmen von bisherigen Wählern anderer Parteien erhalten, sondern vor allem Nicht-Wähler für sich mobilisiert. In absoluten Zahlen gemessen hat die AfD bei den Europawahlen im Osten sogar Wähler verloren. Seitdem stagniert sie, wenn auch auf hohem Niveau. „Den“ Osten gibt es nicht. Auch in Bezug auf die Wahl der AfD gibt es erhebliche regionale Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen dem Süden Ostdeutschlands und dem Norden der neuen Bundesländer.
Entgegen der landläufigen Meinung, bei einem Großteil der ostdeutschen AfD-Wähler handle es sich um Menschen, die sozial und ökonomisch abgehängt seien, zeichnet ein genauer Blick ein differenziertes Bild. Der Anteil an gut ausgebildeten Menschen aus der mittleren Generation der heute zwischen Mitte 40- und Anfang 60-Jährigen ist hoch. Es handelt sich eher um die Arbeitsmarktinsider, die den sozialen Abstieg fürchten, eine kulturelle Fremdheit gegenüber der politischen Kultur der alten Bundesrepublik artikulieren und ihrer Selbstwahrnehmung nach politisch nicht repräsentiert werden.
Die AfD braucht zur Mobilisierung ihrer heterogenen Wählerschaft Themen und Kampagnenformate, die ihre Anhängerschaft und deren Umfeld in einem permanenten Zustand der emotionalen Erregung, der Polarisierung halten. Dazu bedient sie sich in Ostdeutschland sehr erfolgreich und reichweitestark einer fragmentierten Öffentlichkeit in sozialen Netzwerken wie Facebook. Dort appellieren Nutzer an das „Zwischen den Zeilen lesen“, was in der DDR eine geübte Praxis in der Bevölkerung war, offizielle Nachrichten und Propaganda auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen. Wo, wie in einigen Regionen Sachsens und Brandenburgs, die Lokalpresse nicht mehr die Ressourcen hat, eine umfassende und überparteiliche Berichterstattung zu gewährleisten, gewinnen fragmentierte Öffentlichkeiten an Reichweite.
Der Osten als Sehnsuchtsort
Dem rechten Flügel der AfD gilt Ostdeutschland als politischer Sehnsuchtsort, als das deutschere Deutschland, in dem es einen historischen Resonanzraum für Rebellion gebe. Weniger Migranten und weit zurückreichende autoritäre Traditionen sind es, die aus Sicht der AfD Ostdeutschland zu einem idealen Terrain machen. Man sollte also genau hinhören, wenn etwa Alexander Gauland die DDR-Pädagogik lobt, Höcke mutmaßt, Eltern könnten ohne Angst vor sozialer Sanktion kein offenes Wort mehr mit ihren Kindern sprechen, oder der sächsische AfD-Spitzenkandidat Jörg Urban Assoziationen zum systematischen Wahlbetrug in der DDR weckt. Immer geht es darum, den Osten als einen ganz besonderen Ort zeitgeschichtlicher Auseinandersetzungen zu markieren, und sich selbst als Ostdeutschland-Versteher und Kümmerer ins Licht zu setzen.
„Vollende die Wende“ – Die ‚89-Rhetorik und der Systemumbruch
Mit ihrer gegenwärtigen Rhetorik zur Friedlichen Revolution von 1989 adressiert die AfD die ostdeutsche Erfahrung und das Narrativ eines Systemumbruchs. Die AfD agiert scheinbar paradox. Einerseits rekurriert sie auf Elemente der DDR-Nostalgie, wo es um deren nationalistische und autoritäre Praxis geht. Andererseits beschwört sie die Erfahrung der Friedlichen Revolution 1989 und setzt sich selbst als deren legitime Erbin ein, die die „Wende vollenden“ wolle. Die Erfahrung, dass und wie der real existierende Sozialismus in der DDR binnen Wochen zusammenbrach, ist im Osten sehr präsent. Daran knüpft die AfD mit ihrer Rhetorik an, wobei der genaue Charakter des erwünschten Systemumbruchs offenbleibt und von den Adressaten der AfD selbst inhaltlich gefüllt werden kann. Dass die AfD eine antiliberale Agenda verfolgt, ist dabei offenkundig und wird von ihrer Kernanhängerschaft im Osten politisch goutiert.
Die Parallelisierung der Agonie und Endphase der DDR mit der heutigen politischen Kultur der Bundesrepublik, die in den gegenwärtigen Wahlkampfreden von AfD-Funktionären anklingt, mag auf Beobachter absurd wirken. Dabei geht es nicht um biografische Authentizität. Bekanntlich hat Höcke den Umbruch in der DDR im Fernsehen gesehen. Dennoch fällt diese Form der Ansprache auf fruchtbaren Boden, gerade weil das Thema Friedliche Revolution zeitgeschichtlich im Osten oben auf liegt und politisch weithin nicht besetzt ist. Es handelt sich um weit mehr, als um eine Wahlkampf-Kampagne. Vor dem Hintergrund des im Herbst anstehenden Jubiläums der Friedlichen Revolution stellt diese Vorgehensweise durchaus eine erinnerungspolitische Intervention dar, die auf spezifisch ostdeutsche Identitätsdiskurse abhebt und einen kulturellen Erfahrungsraum anspielt, den andere Parteien lange nicht hinreichend beachteten.