„Das Internet hat uns dümmer gemacht“
In seinem Vortrag machte Timothy Snyder liberale Demokratien selbst für die antiliberale Revolte verantwortlich. Politik der Alternativlosigkeit und naiver Technik-Optimismus hätten den Aufstieg der Populisten ermöglicht. Das Internet habe einen wesentlichen Anteil daran. Und: den europäischen Nationalstaat gibt es eigentlich nicht. Hedwig Richter und Ralf Fücks wollten nicht allen Thesen Snyders folgen. Ein Veranstaltungsbericht.
„The Future is gone…“: Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurde nicht mehr derart hoffnungslos in die Zukunft geblickt wie heute. Wir leben in einer Zeit, die von der Vergangenheit bestimmt ist. Und: Die Digitalisierung hat uns dümmer gemacht. Diese deprimierende Gegenwartsbeschreibung präsentierte Timothy Snyder in seinem Vortrag zur dritten Veranstaltung im Rahmen des Projekts „Gegneranalyse – Die liberale Demokratie und ihre Gegner“ am 15. Mai 2019 in Berlin.
Aber wie ist es dazu gekommen, dass der Zukunftsoptimismus seine Strahlkraft eingebüßt hat? Der an der Yale University lehrende Historiker und Autor viel beachteter Bücher wie „Bloodlands“, „Über Tyrannei“ und „Der Weg in die Unfreiheit“ macht für die vergangenen Jahren eine historische Periode aus, in der ein grundlegender Wandel stattgefunden habe. Wir erleben den Vormarsch der antiliberalen Populisten, in Russland hat sich ein autoritäres politisches System als Alternative zur westlichen Demokratie etabliert und in der Auseinandersetzung um den Krieg in der Ukraine hat sich der Westen erstmals verletzbar gezeigt.
Für den Aufstieg des antiliberalen Denkens seien die liberalen Demokraten aber selbst verantwortlich. Die Fehler der Demokratien ermöglichen erst die Fehler, die nun von Populisten begangen werden. Timothy Snyder beschreibt zwei unterschiedliche politische Konzepte, wie sich liberale Demokraten von Populisten unterscheiden. Während liberale Politik dem Prinzip der Unausweichlichkeit verhaftet ist, kreisen Populisten um die Idee der Ewigkeit. Und in der liberalen Politik der Unausweichlichkeit besteht für Snyder das entscheidende Problem.
Dieser Glauben an die Unausweichlichkeit war in der Vergangenheit die dominante Haltung. Hier gibt es nur eine Zukunft. Es gibt keine Alternativen. Andere Ideen oder Details zählen nicht. Und Probleme, die dem entgegenstehen, gelten als überwindbar und im Sinne der einen Zukunft auflösbar. Auch der Techno-Optimismus – der Glaube an die Segnungen des technologischen Fortschritts – ist Teil dieser Haltung. Jedoch wird im Glauben an die Unausweichlichkeit nicht mehr die Frage nach dem gestellt, was eigentlich gut und was schlecht ist. Denn die Zukunft ist ja bereits bekannt.
Die Überzeugung von der Unausweichlichkeit macht angreifbar und bereitet den Weg für Populisten. Wenn die persönliche Wahrnehmung der Menschen nicht mehr dem Glauben an eine gute Zukunft entspricht und gesellschaftliche Probleme heruntergespielt werden, können Populisten erfolgreich sein. Sie bieten die Nation als Schutzraum und das Konzept der Ewigkeit an, in der es weder Zukunft noch Vergangenheit gibt. Hier ist kein Platz für das, was Geschichte ausmacht: Fakten, unterschiedliche Perspektiven, das Unerwartete und das Wissen darum, dass sich Geschichte vorwärts bewegt.
Das heutige Russland steht exemplarisch für diese Politik der Ewigkeit. Die russische Führung will nicht, dass die Bevölkerung über die Zukunft nachdenkt. Denn die auf Ölausbeutung basierende Wirtschaft steht Zukunftsfragen wie dem Klimawandel entgegen. Wenn das System stark von einem charismatischen Despoten abhängt, darf nicht über eine ungeklärte Nachfolge nachgedacht werden. Der Kreml muss der Bevölkerung weismachen, dass es keine besseren Alternativen gibt. Weil das russische System mit den westlichen Demokratien nicht konkurrenzfähig ist, muss der Kreml den Westen schwächen, um Augenhöhe zu erreichen. Dies ist das Motiv für die Einflussnahme des Kreml zur Diskreditierung demokratischer Prozesse und Institutionen des Westens. Deshalb versucht er, die gesellschaftliche Spaltung zu vertiefen. Russland hat die Schwachpunkte des Westens identifiziert und nutzt sie aus.
Ein Schwachpunkt des Westens ist unregulierter Kapitalismus, wie er sich in der Digitalisierung zeigt. Algorithmen, wie sie von Facebook und Twitter eingesetzt werden, funktionieren besser für Populisten wie Trump, als für differenzierte politische Positionen. Die Algorithmen kennen die politischen Neigungen ihrer Nutzer. Sie können den Bestätigungsfehler (Confirmation Bias) der Menschen – die Neigung, bestimmte Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass sie den eigenen Erwartungen entsprechen – immer wieder bedienen. Und da mit der Digitalisierung die politische Debatte nicht mehr im öffentlichen, sondern im personalisierten Raum stattfindet, können Algorithmen unterschiedlichen Wählergruppen widersprüchliche Botschaften präsentieren, ohne dass diese Widersprüche bemerkt werden. Im amerikanischen Präsidentschafts-Wahlkampf 2016 wurde farbigen Amerikanern weisgemacht, Hillary Clinton sei Rassistin, während weißen Rassisten erklärt wurde, Clinton vertrete die Interessen farbiger Wählerinnen und Wähler. Die Menschen bemerken die Manipulationen nicht. Es wird auch kaum jemand eingestehen wollen, politische Entscheidungen aufgrund von Manipulationen getroffen zu haben.
Der Glaube an den Fortschritt durch das Internet ist deshalb naiv. Das Internet macht dumm. Wir merken es nur nicht. Facebook macht Psychologie und nicht Geschichte. Algorithmen versuchen, das Denken vorhersagbar zu machen. Sie versuchen, das Unerwartete auszuschließen. Das Unerwartete aber zeichnet Demokratie und Geschichte aus. Algorithmen entsprechen vielmehr den Populisten, die um eine unveränderbare Ewigkeit kreisen. Es ist kein Wunder, dass populistische Parteien ihre Erfolge stets mithilfe digitaler Kampagnen erzielen.
Amerika glaubt mehr noch als Europa an das Heil der Redefreiheit. Die Demokratie wird reduziert auf die Möglichkeit, alles sagen zu dürfen, auch wenn es sich um Lügen handelt. Es gibt geradezu eine Obsession für die Redefreiheit. Aber soll die Redefreiheit auch für Algorithmen gelten? Algorithmen lügen personalisiert, ohne dass die Lüge durch Widerspruch entlarvt werden kann.
Schließlich wies Snyder auf einen Denkfehler der Europäer hin. Die Populisten bedienen diesen Denkfehler mit ihrem Bezug auf altehrwürdige Nationen und deren stolze Geschichte. Die europäischen Staaten seien aber keine Nationen, sondern nahezu durchgängig ehemalige Imperien mit kolonialer Vergangenheit. Und die Europäische Union sei mitnichten der Zusammenschluss kleiner Nationalstaaten, die sich als Lehre aus den Verheerungen des 20. Jahrhunderts zusammengeschlossen haben. Europa mache sich dadurch kleiner, als es ist. Vielmehr müsse man die EU als Ersatz für die verlorenen Imperien verstehen. Die europäischen Imperien sind die einzigen in der Geschichte, dir ihren eigenen Zusammenbruch überlebt und zu einer nachkolonialen Ordnung gefunden haben. Europa hat über 500 Jahre die Welt dominiert und nach dem Zusammenbruch der Imperien einen größeren ökonomischen Einflussbereich als zuvor. Es ist die einzige Macht, die weiß, was nach dem Imperium kommt. Europa kann deshalb auch die entscheidenden Zukunftsfragen angehen: Digitalisierung, Klimawandel, Oligarchie. Europa ist die einzige Antwort auf das Problem der Imperien.
Hedwig Richter, Historikerin am Hamburger Institut für Sozialforschung, forscht über Demokratisierungsgeschichte und war eingeladen, die Thesen von Timothy Snyder zu kommentieren. Sie setzte der eher pessimistischen Gegenwartsbeschreibung Snyders eine positive Sicht entgegen. Zwar teilte sie seine Sicht, dass wir heute verstärkt in die Vergangenheit blicken. Auch die Linke glorifiziert die Vergangenheit als eine Zeit, in der Demokratie noch funktioniert habe. Aber Krisen und Probleme der Demokratie seien kein neues Phänomen. Die Demokratie ist heute gefestigter, als manche befürchten. Fake News gab es auch früher in Form von Lug und Trug. Deshalb haben die demokratischen Systeme seit 1800 ein komplexes System aus Checks and Balances entwickelt. Deshalb ist es heute nicht möglich, dass die Mehrheit Entscheidungen gegen eine Minderheit einseitig durch- oder sich über Menschenrechtsstandards hinwegsetzen kann. Demokratie ist komplex und institutionell eingebunden. Deshalb ist Bildung so wichtig. Deshalb ist es falsch, komplexe politische Fragen wie den Brexit in Plebisziten mit Ja-Nein-Entscheidungen lösen zu wollen. Es besteht aber keine Notwendigkeit, die Gegenwart als Dystopie zu beschreiben.
Die Nation habe im Gegensatz zu Snyder sehr wohl eine wichtige und auch positive Rolle gespielt. Für die Herausbildung der Demokratien sind Nationen wichtig gewesen, weil sie Gemeinsinn stifteten. Auch wenn der erstarkte Nationalismus in den ersten Weltkrieg führte, ist die Nation kein grundsätzliches Problem. Länder mit weniger zentralistischer Staatlichkeit wie Deutschland kennen das Nebeneinander mehrerer Identitäten – zum Beispiel als Bayer oder Württemberger, als Deutscher und Europäer. Deshalb fällt es wohl Deutschen leichter als Franzosen, sich mit der EU zu identifizieren.
Gastgeber Ralf Fücks vom Zentrum Liberale Moderne bezweifelte zumindest für Europa die von Snyder behauptete Fortschrittsgläubigkeit. Hier müsse man eher von Techno-Skeptizismus sprechen. Aber Snyders Beschreibung, dass das Zukunftsversprechen zerbrochen ist, sei nachvollziehbar. Bemerkenswert sei Snyders Technikkritik. Die entscheidende Frage sei jedoch nicht, ob wir für oder gegen Technik sind. Denn die Digitalisierung ist nicht aufzuhalten. Vielmehr müssen wir fragen, wie wir auf die totalitäre Tendenz der Digitalisierung, die damit verbundene Ausschaltung von Zufällen und der individuellen Persönlichkeit antworten können. Auch fragte Ralf Fücks, ob Snyder die Rolle Russlands nicht überbewerte. Sicher nutzt Russland die Schwächen westlicher Demokratien aus. Aber gibt es nicht auch innere Probleme und Spannungen, die die Einflussnahme Russlands erst ermöglichen? Zudem sei China strategisch die viel größere Herausforderung. Denn China schafft es, die Moderne, technische Innovation und ökonomischen Fortschritt mit einem autoritären Modell zu verbinden, das fast totale Kontrolle ausübt.
Timothy Snyder stellte abschließend klar, dass er nicht grundsätzlich gegen Technik sei. Das Internet sei eine ähnliche gesellschaftliche Revolution wie die Erfindung des Buchdrucks. Nur haben wir nicht wie damals 150 Jahre Zeit, uns an die Auswirkungen anzupassen. Das Internet ist nicht selbstregulierend. Es geht nicht um ein Für oder Wider, sondern um ein besseres Internet.
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