Thymos und heroische Männlichkeit: Von Leo Strauss bis zur AfD
Der Begriff „Thymos“ hat in jüngerer Zeit prominenten Einfluss in der Neuen Rechten entfaltet. Grund genug, die Genese des Begriffs zu verfolgen und ihren antiliberalen Kern freizulegen.
Spätestens seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ Anfang der 2010er Jahren platzieren rechtsextreme Bewegungen ihre Themen in der deutschen Öffentlichkeit. Der zunehmend hemmungslose Ausdruck des rassistischen Ressentiments wurde dadurch erleichtert, dass Vertreter des politischen Establishments – wie etwa das SPD-Mitglied Thilo Sarrazin – die politische Agenda der Neuen Rechten übernahmen. (1) Darauf folgten der bundesweite Erfolg rechter Bewegungen wie PEGIDA sowie der Aufstieg der autoritär-populistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD).
In einem im April 2016 für die New York Review of Books veröffentlichten Artikel zeigte sich der an der Princeton University lehrende Politologe Jan-Werner Müller über die politischen Verhältnisse in Deutschland besorgt. Bei seiner Lektüre der Reden und Interviews des AfD-Vordenkers Marc Jongen (2) stieß er auf den der antiken griechischen Philosophie entlehnten Begriff des thymos, eine Denkfigur, die im Gegensatz zu eros und logos ausschließlich militärische Tugenden nobilitiert. (3) Folge man dem AfD-Abgeordneten Jongen, so Müller, wäre PEGIDA keine rassistische, sondern eine „thymotische“ Bewegung, getragen von Tugenden und Affekten, die in Folge der langen Besatzung durch die Siegermächte in Deutschland vergessen worden seien: Tapferkeit, Zorn, Beherztheit, Stolz, Selbstbehauptungswille usw. PEGIDA würde die Öffentlichkeit daran erinnern, dass trotz des Endes des Kalten Krieges die Rückeroberung der vollen Souveränität in der Innen- und Außenpolitik ausgeblieben sei. Deutschland, auch wenn es die Leadership der EU übernommen habe, bleibe weiterhin an multilaterale Verhandlungen und Abkommen gebunden und sei – auch in Bezug auf die Flüchtlingsfrage – nicht „Herr im eigenen Haus“. In Jongens Lesart ist der „Widerstand“ der „Wutbürger“ gegen die Flüchtlinge eine nachvollziehbare Reaktion auf diese miserable Lage und „eine arrogante Politik des Staates“, der den „Bürgern etwas von oben“ aufdrückt. (4) Wenn die Merkel-Regierung ihre sicherheits- und kulturpolitischen Aufgaben nicht mehr erfüllen wolle, könne Jongen gut nachvollziehen, wenn die deutschen Staatsbürger diese Mission selbst übernähmen. Thymos steht in diesem Kontext für die „autoritäre Revolte“ (Volker Weiß) der Neuen Rechten.
Von Deutschland in die USA und zurück
Die bemerkenswerte moderne Karriere des Begriffs begann in Deutschland mit dem Philosophen Leo Strauss (1899–1973), dessen mit und gegen Carl Schmitt gewendete Platon- und Hobbes-Rezeption ihn auf die Spur dieser vergessenen Denkfigur setzte. Strauss, jüdischer Herkunft, 1921 vom Neukantianer Ernst Cassirer promoviert und Schüler Martin Heideggers, ging Anfang der 30er Jahre mit einem Rockefeller-Stipendium (Gutachter waren Cassirer und Carl Schmitt) nach Paris, 1934 mit einem zweiten nach Cambridge in England. 1938 übersiedelte er in die USA und begründete 1948 an der konservativen Universität von Chicago eine eigene Schule. Politischen Einfluss gewannen die sog. Straussians aber erst in den achtziger Jahren mit dem Aufstieg Ronald Reagans.
Zunächst hob der prominente Strauss-Schüler Allan Bloom (1930–1992) den Begriff Thymos bzw. die Spiritedness wieder auf die philosophische und politische Agenda, wobei sich sein Furor insbesondere gegen den Liberalismus, den utopischen Geist der New Left und das Erbe der 1968er-Generation wandte, wie die einschlägigen Veröffentlichungen zeigen. (5)
Während Bloom der liberalismuskritischen Rezeption seines Lehrers treu blieb, machte sein Schüler Francis Fukuyama (geb. 1952) den Thymos-Begriff nach dem Kalten Krieg kompatibel mit der liberalen Demokratie, indem er ihn als „Begehren nach Anerkennung“ (Alexandre Kojève) umdeutete. Dadurch interpretierte Fukuyama den Thymos weniger als egoistisches Prinzip als vielmehr als Solidaritätsstifter. (6) Die liberale Gesellschaft, so Fukuyama, bedürfe des Thymos, um sich vor ihren Selbstzerstörungskräften zu schützen.
Harvey Mansfield (geb. 1932), ebenfalls Strauss-Schüler, nimmt die thymotischen Energien im Kontext von 9/11 wieder auf und versucht sie für den Abwehrkampf gegen die neuen Feinde – den Islamismus und den Feminismus – nutzbar zu machen. In einem 2006 veröffentlichten Pamphlet attackiert der an der Harvard University lehrende Philosoph die sog. „gender neutral society“ und plädiert für eine Revitalisierung der brach liegenden („unemployed“) Männlichkeit, die auch gegen den „islamischen Faschismus“ in Stellung gebracht werden könne.
Etwa gleichzeitig mit Mansfield wird die Thymos-Figur auch in Deutschland mobilisiert, ohne unmittelbar die – hier nur kursorisch referierte (7) – amerikanische Rezeption aufzurufen. Der prominente Einfluss, den sie im Lager der Neuen Rechten entfaltete, sollte aber Grund genug sein, die Genese des Begriffs zu verfolgen und ihren antiliberalen Kern freizulegen.
Thymos bei Platon
„Thymos“ leitet sich von der antiken Trieblehre ab und findet sich mit unterschiedlichen Konnotationen prominent bei Homer, Platon und Aristoteles. (8) Für den hier interessierenden Zusammenhang relevant ist insbesondere Platon. Im Buch II und IV seines Hauptwerkes Der Staat gewinnt der Begriff im Kontext der Erziehung der „Wächter“ im idealen Staat an Bedeutung. Für Sokrates, der im fiktiven Gespräch Platons Idee ausformuliert, gibt es eine Analogie zwischen menschlicher Seele und dem in drei Klassen und mit jeweils spezifischen Tugenden verbundenen gegliederten Staat. Die Handwerker stehen für Besonnenheit, bei den Wächtern gesellt sich zur Besonnenheit die Tapferkeit, die Philosophen sind außerdem weise. Gerecht ist der Staat, wenn alle Teile harmonisch ineinandergreifen. (9) Dabei unterscheidet Sokrates nicht nur zwischen Vernunft (logismos) und Begierde (epithymia), sondern er führt eine dritte, vermittelnde Instanz ein, die eine Art interne und externe Kontrolle über die Begierde ausübt, am besten im Auftrag der Vernunft: den Thymos. (10) Der Thymos rebelliert gegen das, was er als unangemessen und ungerecht empfindet, wobei der Zorn nach außen wie nach innen gerichtet sein kann. Der thymotische Zorn manifestiert sich also nicht nur gegenüber Anderen, sondern auch gegen die eigene Schwäche. Um diesen potentiell zerstörerischen Trieb zu bändigen, muss der Thymos bzw. müssen die Wächter erzogen werden. Sowohl bei Platon als auch bei Homer ist der Thymos mit aristokratisch-kriegerischen Tugenden ausstaffiert und eher männlich kodiert. Im Gegensatz zu Homer warnt Platon jedoch explizit davor, den thymotischen Energien freien Lauf zu lassen.
Der junge Philosoph Leo Strauss (11) übernimmt die Figur des Thymos in einem völlig anderen historisch-politischen Kontext als seine antiken Vorgänger. Doch seine Bewertung ist ähnlich, auch wenn der Begriff selbst bei ihm keine große Rolle spielt (12) und erst später von den genannten Schülern als Thymos, Spiritedness oder Manliness in den Diskurs eingespeist wird.
Leo Strauss, Carl Schmitt und die kastrierte Moderne
In seiner 1935/36 entstandenen Schrift Hobbes‘ politische Wissenschaft in ihrer Genesis versucht Leo Strauss im Rückgriff auf die negative Anthropologie Hobbes’ nachzuweisen, dass die gesamte moderne politische Philosophie aus der radikalen Verdrängung der kriegerisch-aristokratischen Moral hervorgegangen und durch eine neue bürgerliche Moral ersetzt worden sei. Für Strauss ist – ausgehend von Hobbes – die liberale und sozialistische Moderne durch diese Abwertung des Thymos gekennzeichnet, eine Entwicklung, die er bestrebt ist, rückgängig zu machen.
Hobbes, so Strauss, hebe zwei „höchst gewisse Postulate der menschlichen Natur“ hervor: das Postulat der „natürlichen Begierde“ und das der „natürlichen Vernunft“. Die „natürliche Begierde“ werde mit dem „Streben nach Ehre und Ehrenstellungen, nach Vorrang vor den anderen Menschen und nach Anerkennung dieses Vorrangs durch die anderen Menschen“, bzw. mit der „Eitelkeit“ identifiziert. (13) Die „Eitelkeit“ – also Thymos – sei für Hobbes die Quelle aller „Verrücktheit“, aller Unruhen, und führe notwendig zum „Krieg eines jeden gegen jeden“.
Diese Leidenschaft sei nur durch die „natürliche Vernunft“, die auf dem Prinzip der Selbsterhaltung beruht, zu bekämpfen. Diese werde hauptsächlich von der „Furcht vor dem Tod“ gelenkt, welche als „Ursprung allen Rechts und aller Moral“ aufgefasst wird (S.36). Für Strauss organisiert sich Hobbes’ Denken um diesen moralischen Gegensatz von Eitelkeit und Furcht. Während Eitelkeit die Quelle von Krieg, Unrecht und Irrtum sei, könne die Furcht vor dem qualvollen Tod Frieden, Recht und Erkenntnis stiften (vgl. S. 19).
Daraus leitet sich die Maxime des Staates ab, die Eitelkeit durch eine Politik der Angst bekämpfen zu müssen. Stolz, Ehre, Ehrgeiz, Heroismus, Tapferkeit und Hochsinnigkeit würden auf das Eitelkeitsprinzip zurückgeführt und daher nicht mehr als Tugenden anerkannt, sondern als zu zähmende Leidenschaften. An deren Stelle trete „die viel farblosere ‚justa sui aestimatio‘“ [das gerechte Selbstwertgefühl], die sich von den Adelstugenden dadurch unterscheide, dass „sie nicht wesentlich Überlegenheitsbewusstsein ist“ (S.74).
Hobbes Welt sei also, so die Schlussfolgerung des jungen Philosophen, eine Welt der Bourgeoisie, der er die philosophische Rechtfertigung liefere (vgl. S. 138). Sie ziele auf sozialen Frieden und betrachte „privates Eigentum und privaten Gewinn“, „Handel und Industrie“, „Arbeit und Sparsamkeit“ als „unerlässliche Bedingung für alles friedliche Zusammenleben“ (S. 138f.) Materialistische, „sinnliche“ Güter würden privilegiert, selbst die Wissenschaft sei dazu da, den Wohlstand zu mehren. Da der Krieg für Hobbes aber „kein sicherer Weg zu Wohlstand“ sei, dürfe er „nur zur Verteidigung geführt werden“ (S. 139f.) So stellt sich die Staatsgewalt im Hobbes’schen Leviathan ausschließlich in den Dienst der Bürger und des Friedens, und der Thymos wird radikal abgewertet. Das von Carl Schmitt denunzierte liberale Zeitalter der „Entpolitisierung“, die einer symbolischen Kastrierung gleichkommt, beginnt.
Damit ist der Fluchtpunkt jener entscheidenden „Umwertung aller Werte“ gesetzt, die den Bruch zwischen antiker und moderner Philosophie markiert. (14) Hobbes führt in die politische Philosophie eine „Klugheitsmoral“ ein, die nicht durch die Einhaltung moralischer Prinzipien verwirklicht wird, sondern in den Vorteilen und Profiten, die aus deren Einhaltung resultieren. Die Norm, die Hobbes begründe, sei keine „Norm im strengen Sinne“, kein „Gesetz“, sondern „ein Recht, ein Anspruch“ des Individuums. (15) Dieses „Menschenrecht“, das auf dem Anspruch auf „Selbsterhaltung“ beruhe, sei unveräußerlich.
Die Konsequenzen dieser wichtigen philosophiehistorischen Wende hat Leo Strauss in seiner Rezension zu Carl Schmitts Der Begriff des Politischen hervorgehoben: Gegen die Hobbes-Lektüre des deutschen Juristen zeigt Strauss, dass der von Hobbes begründete Staat unfähig ist, von den „Angehörigen des eigenen Volkes Todesbereitschaft“ zu verlangen, denn die Berechtigung dieses Anspruchs würde von diesem auf das Mindeste eingeschränkt. Deshalb „kann der Staat vom Einzelnen nur bedingten Gehorsam verlangen, nämlich einen Gehorsam, der mit der Rettung oder Erhaltung des Lebens dieses Einzelnen nicht in Widerspruch steht; denn die Sicherung des Lebens ist der letzte Grund des [Hobbes‘schen, B.Qu.] Staates.“ (16) Da die Hobbes’sche Konstruktion aber den Tugendcharakter der aristokratisch-kriegerischen Werte leugnet, taugt sie für Strauss nicht einmal dazu, die Stabilität der politischen Ordnung zu sichern und ist somit als theoretische Grundlage ungeeignet für Schmitts autoritäres Projekt. Vielmehr zeige der Rekurs auf Hobbes, dass der deutsche Jurist in den „Fängen des Liberalismus“ verbleibe, einem „Liberalismus mit umgekehrtem Vorzeichen“ (S. 237).
Für Strauss führt das Projekt der liberalen und sozialistischen Moderne quasi unausweichlich zur Produktion des „letzten Menschen“ (Friedrich Nietzsche), also zu einer Welt ohne Politik und ohne Ernst, ohne Heroismus und ohne Männlichkeit. Dementsprechend möchte Strauss im Moment des Zusammenbruchs der Weimarer Republik die moderne Zivilisation nicht etwa verteidigen, sondern vielmehr einen philosophischen „Horizont jenseits des Liberalismus“ gewinnen, um die „Ordnung der menschlichen Dinge“ wiederherstellen zu können (S. 243). Die Rückkehr zur platonischen Philosophie geht für Strauss mit einer Aufwertung der aristokratisch-kriegerischen Moral einher, die seiner Auffassung nach schon von Nietzsche ins Werk gesetzt worden ist.
Obwohl Leo Strauss Schmitts Liberalismuskritik und die der „deutschen Nihilisten“ (neben Schmitt sind das Ernst Jünger, Martin Heidegger und andere) weitgehend teilt, distanziert er sich jedoch schon vor seiner Ankunft in den USA vom real-existierenden Faschismus. Für ihn ist der „deutsche Nihilismus“ zwar eine legitime Reaktion gegen die von der liberalen Moderne in Gang gebrachte Abwertung des Thymos, dieser bleibe aber in den Fängen seines Feindes verstrickt. Der Umschlag des Liberalismus in den Faschismus ist nach Strauss nämlich in diesem selbst angelegt. Die radikale Negation des Thymos führe notwendig zu seiner nihilistischen Rückkehr in Form des Faschismus. (17) Diese konservative, antiliberale Gegengeschichte der Verdrängung aristokratisch-kriegerischer Moral bildet das philosophische Grundnarrativ des Thymos, das später von den Straussians in immer neuen Formen adaptiert wird.
Gegen den Liberalismus und seine antiliberale Kehrseite schlägt Strauss schon ab den 1930er Jahren einen dritten Weg vor, indem er seine nietzscheanisch grundierte Liberalismus-Kritik in einen platonischen Horizont einschreibt, um eine ‚gute‘ autoritäre Ordnung denken zu können. In seinem idealen Staat soll das „Politische“ (der „männliche“ Pol) über das „Ökonomische“ (der „weibliche“ Pol) herrschen, während der „Weise“ seinerseits über beidem steht, um dafür zu sorgen, dass „jeder das Seine tut“. (18) Die Aufgabe des Weisen besteht darin, die Führer zu führen, bzw. die zukünftigen Staatsmänner so auszubilden, dass sie ihre „thymotischen“ Tugenden entwickeln, sie aber gleichzeitig unter der Kontrolle der „Vernunft“ halten.
Strauss nimmt zwar am Diskurs der deutschen Rechten teil und entwirft in den ersten Jahren des Nationalsozialismus seine eigene Version eines „edlen Faschismus“ (Karl Löwith), bleibt jedoch als deutscher Jude (und als Zionist) sowie als Anhänger des Rationalismus von dieser rechtsextremen Ausformung strukturell ausgeschlossen, was ihn davor bewahrt, sich völlig mit den „deutschen Nihilisten“ zu identifizieren.
Sloterdijk und seine neoliberale Umdeutung des Thymos
Nach der Jahrtausendwende rückt der Begriff des Thymos in Deutschland erst mit der Veröffentlichung von Peter Sloterdijks Zorn und Zeit (2006) (19) wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit, zunächst im Feuilleton anlässlich der Debatte mit Axel Honneth, die Sloterdijks Artikel Die Revolution der gebenden Hand in der FAZ (20) ausgelöst hat. In diesem die Thesen aus Zorn und Zeit polemisch zuspitzenden Text schlägt Sloterdijk einen radikalen Umbau des Nachkriegs-Wohlfahrtstaates vor, wobei er in seiner Diagnose Staatskritik mit einer nietzscheanischen Gegengeschichte zusammenschließt. Zunächst führt er das moderne Ressentiment gegen den Wohlhabenden auf einen von Rousseau gestifteten Mythos zurück, der im Second Discours die Gründung der „bürgerlichen Gesellschaft“ als nachträgliche Legitimierung bzw. Legalisierung eines willkürlichen Gewaltakts darstellt. (21) Eigentum erscheine schon bei Rousseau – und später auch bei Marx und Lenin – als „Diebstahl“, so Sloterdijk. Beide Denker hätten den „revolutionären Élan“ befördert und letztlich die Enteignung legitimiert: „Alle Avantgarden verkünden, man müsse mit der Aufteilung der Welt von vorn beginnen.“ Aus dieser marxistischen Perspektive erscheine die Bourgeoisie als „kleptokratisches Kollektiv“, das sich das Produkt der Mehrarbeit der Lohnabhängigen aneigne, „ein Nehmen unter dem Vorwand des Gebens“.
Dem hält Sloterdijk entgegen, dass die Triebkraft der modernen Ökonomie nicht aus dem „Gegenspiel von Kapital und Arbeit“ resultiere, sondern aus der „antagonistischen Liaison von Gläubigern und Schuldnern“, bzw. aus der von Kapitalisten und Arbeitern geteilten „Sorge um die Rückzahlung von Krediten“. Das linke Narrativ erfülle somit vor allem eine politische Funktion, nämlich dem Wohlfahrtstaat ein menschliches Antlitz zu verleihen. Diese beiderseitige ideologische Unterwerfung sei so tief verinnerlicht, so Sloterdijk, dass die „Kleptokratie des Staates“ heute sogar von den „Leistungsträgern“ akzeptiert werde:
Voll ausgebaute Steuerstaaten reklamieren jedes Jahr die Hälfte aller Wirtschaftserfolge ihrer produktiven Schichten für den Fiskus, ohne dass die Betroffenen zu der plausibelsten Reaktion darauf, dem antifiskalischen Bürgerkrieg, ihre Zuflucht nehmen. Dies ist ein politisches Dressurergebnis, das jeden Finanzminister des Absolutismus vor Neid hätte erblassen lassen.
Es handelt sich also um eine sich als „umgekehrte Ausbeutung“ manifestierende Umverteilungspolitik, der nach dem Willen Sloterdijks mit einer „Revolution der gebenden Hand“ begegnet werden muss. Diese soll von einer „Abschaffung der Zwangssteuern“ begleitet werden und zu einer „Umwandlung in Geschenke an die Allgemeinheit“ führen. „Diese ‚thymotische‘ Umwälzung hätte zu zeigen, dass in dem ewigen Widerstreit zwischen Gier und Stolz (also Thymos) „zuweilen auch Letzteres die Oberhand gewinnen kann.“ Sloterdijk geht es im Kern um die Privatisierung der Wohlfahrt durch den Ausbau eines Charity-Systems.
Diese Idee einer „Thymotisierung des Kapitalismus“ hatte der Karlsruher Philosoph bereits in Zorn und Zeit entwickelt (22), dort in expliziter Anlehnung an Nietzsche, Strauss und dessen „überwiegend zu Unrecht von den politischen Neokonservativen der USA vereinnahmte“ Schüler (vgl. S. 62). Sloterdijk situiert seine Untersuchung innerhalb des Posthistoire-Theorems, dessen Koordinaten – das Ende der Geschichte – ihm Fukuyama liefert. Zu liberaler Demokratie und Kapitalismus gebe es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine Alternative, daran änderten auch die Herausforderungen der „neuen sozialen Frage“ nichts. Die von Sloterdijk annoncierte antifiskalische Revolte wird sekundiert durch eine „Zähmung der spekulativen Geldwirtschaft […] und die zügige Implantation eigentumswirtschaftlicher Strukturen in den Entwicklungsländern“, um eine „relative Beruhigung“ zu bewirken (S.70). Wichtiger und dringender noch als sozial-ökonomische Reformen erscheint Sloterdijk jedoch die Entwicklung einer neuen, den posthistorischen Verhältnissen angepassten westlichen Ideologie, die die thymotische Rebellion der „Globalisierungsverlierer“ kanalisiert:
In einer solchen Lage stehen die Zeichen auf Sturm. Folglich gewinnt die Politik der Ungeduld weiter an Boden, nicht zuletzt bei ehrgeizigen und empörungsstarken Akteuren, die der Auffassung sind, sie dürften zum Angriff übergehen, sobald sie weder hüben noch drüben etwas zu verlieren haben. (S. 72)
Im Vergleich zu Fukuyama und den übrigen Straussianern offeriert Sloterdijk somit eine viel offenere rechts-nietzscheanische und neoliberale Deutung des Thymos-Begriffs. Es geht darum, die zornige Rebellion „von unten“ zu kontern und die thymotischen Energien „von oben“ zu befördern. Unverhüllt erklärt Sloterdijk den Sozialstaat zum Feind und zielt auf eine neoliberale Deregulierung der Wohlfahrt. Doch wie die Straussianer zeigt sich auch Sloterdijk besorgt gegenüber der Gefahr des islamistischen Terrorismus. Auch wenn er den Zusammenhang zwischen Globalisierung, wachsender sozialer Ungleichheit und dem Aufstieg des Islamismus sieht, nimmt er ihn wahr als quasi natürlichen Kollateralschaden des kapitalistischen „Weltinnenraums“. Im „Gestus radikaler Illusionslosigkeit“ erscheint der globalisierte Kapitalismus als „Schicksalsmacht“ der Posthistoire, die „gegen jede theoretische und praktische Kritik abgesichert ist.“ (23) Hier bemüht sich Sloterdijk noch um ein neokoloniales Projekt der „Zivilisierung“, das die „Neutralisierung der völkermörderischen Potentiale in den von zornigen jungen Männern übervölkerten Staaten des Nahen und Mittleren Orients“ bewirken soll (71). 2016 scheint er seine Meinung allerdings geändert zu haben, denn im Magazin Cicero führt er aus, wie es gelingen kann, eine neoliberale Position in eine „autoritär-populistische“ umzumünzen. Trotz seiner Versuche, sich von seinem ehemaligen Assistenten Marc Jongen und dem Programm eines „konservativen Avantgardismus“ zu distanzieren, rücken ihn Aussagen wie die folgende in unmittelbare Nähe des rassistischen Diskurses der Neuen Rechten:
Jetzt entscheidet der Flüchtling über den Ausnahmezustand. Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben. […] Zahllose Flüchtlinge nehmen die Schwachstelle des postmodernen und schein-postnationalen Staates genau wahr. Die postmodernisierte Gesellschaft träumt sich in einen Zustand „jenseits von Grenzschutz”. Sie existiert in einem surrealen Modus von Grenzvergessenheit. Sie genießt ihr Dasein in einer Kultur der dünnwandigen Container. Wo früher starkwändige Grenzen waren, sind schmale Membranen entstanden. Die werden jetzt massiv überlaufen. (24)
Der Flüchtling als eigentlicher Souverän, der „über den Ausnahmezustand“ entscheidet: Von hier bis zum Plädoyer, „thymotische“ Tugenden für das Abendland zu reaktivieren, ist es nicht mehr weit. Marc Jongen spricht diesbezüglich Klartext:
Ich habe das Gefühl, dass auch unsere politischen Eliten nach 1968 ganz elementare Lektionen der Außenpolitik und der Geostrategie verlernt haben. Auch wesentliche psychopolitische Gesetzmäßigkeiten ignorieren sie und glauben, ein Staat könne ohne Grenzen existieren, bald vielleicht auch ohne Polizei und Militär. […] Wir müssen, um als europäische Staaten und Völker zu überleben, deutlich nüchterner, realistischer und auch wehrhafter werden, mit einem Wort: erwachsener. (25)
Hinweis: Die Langfassung des gleichnamigen Aufsatzes ist erschienen in Gérard Raulet/Marcus Llanque (Hg): Geschichte der politischen Ideengeschichte, Baden-Baden 2018, S. 221–252. Für Hinweise und Korrekturen bedanke ich mich bei Rainer Alisch. Die hier abgedruckte, sehr stark gekürzte und bearbeitete Fassung besorgte Ulrike Baureithel.
Fußnoten
(1) Vgl. Volker Weiß: Die autoritäre Revolte. Die neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017, S. 23f.
(2) Marc Jongen (geb. 1968) war Assistent von Peter Sloterdijk an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, 2017–2019 Landessprecher der AfD in Baden-Württemberg und ist seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestags.
(3) Jan-Werner Müller: „Behind the new german Right“, The New York Review of Books, 14.04.2016, https://www.nybooks.com/daily/2016/04/14/behind-new-german-right-afd/, abgerufen am 30.12.2019.
(4) „‚Man macht sich zum Knecht‘. Ein Gespräch mit dem Karlsruher Sloterdijk-Schüler über das deutsche Volk, den drohenden Verlust kultureller Identität und die Einwanderungspolitik der Regierung“, in: Die Zeit, 09.06.2016. https://www.zeit.de/2016/23/marc-jongen-afd-karlsruhe-philosophie-asylpolitik/komplettansicht?print, abgerufen am 30.12.2019.
(5) Allan Bloom:„Interpretative Essay”, in: Platon, The Republic, New York 1991, S. 307–436; ders: The Closing of the American Mind, New York 2002.
(6) Vgl. Francis Fukuyama: The End of History (dt. Das Ende der Geschichte), New York 1992.
(7) Vgl. ausführlich hierzu die Langfassung meines Aufsatzes, s. Anm. 1
(8) Vgl. insbesondere Barbara Koziak, Retrieving Political Emotion. Thumos, Aristotle, and Gender, University Park 2000 und Angela Hobbs, Plato and the Hero. Courage, Manliness and the Impersonal Good, Cambridge 2000.
(9) Platon, Der Staat: griechisch – deutsch = Politeia hrsg v. Thomas Szlezák, Berlin: Gruyter, 2014, Buch IV, 433b-434a, S. 331–333.
(10) Ebda., Buch IV, 441a, S. 357.
(11) Seit den 1930er Jahren beschäftigte sich Strauss unter anderem mit der Genesis der modernen Philosophie durch Studien des Frühwerks von Hobbes. 1932 rezensierte er Carl Schmitts Begriff des Politischen im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“. Nach einem Studienaufenthalt in Paris (1932–1934), wo er Alexandre Kojève und Alexandre Koyré kennenlernt, und von 1934–38 in Cambridge wirkt Strauss in den USA zuerst an der Columbia University, dann an der „New School for Social Research“. 1949–1969 ist Strauss Professor für Politische Theorie an der University of Chicago. Nach seiner Emeritierung 1969 forscht er am St. John’s College in Annapolis bis zu seinem Tode 1973.
(12) Siehe insbesondere Leo Strauss: The City and Man, Chicago 1964, S. 50–138.
(13) Leo Strauss: „Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis“, in Ders.: Gesammelte Schriften, Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe, Band 3, Stuttgart 2001 (GSIII), S.24.
(14) Die geschlechtsspezifische Kodierung der von Strauss herausgearbeiteten Gegensätze (Bürgertum vs. Aristokratie, Primat des Ökonomischen vs. Primat des Politischen, Furcht vs. Eitelkeit, Links vs. Rechts, usw.) ist unübersehbar und an vielen Stellen nachzuweisen. Vgl. ausführlich die Langfassung dieses Aufsatzes, s. Anm. 1
(15) Nach Hobbes sei das Fundament der Moral und Politik nicht das ‚Law of nature‘, die natürliche Verpflichtung, sondern das , Right of nature‘, vgl. Strauss: „Hobbes’ politische Wissenschaft“, S.176.
(16) Leo Strauss: „Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen“ (1932), in Ders.: GSIII, S. 224, Hv. B.Qu.
(17) Vgl. Leo Strauss, „On German Nihilism“ (1941), Interpretation, Vol. 26, n°3, 1999, S. 353–378.
(18) Platon, Der Staat, Buch IV, 433b-434a, S. 331–333 . Vgl. dazu Strauss: „Hobbes’ politische Wissenschaft“, S. 183.
(19) Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt/M. 2006.
(20) Peter Sloterdijk: Die Revolution der gebenden Hand, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.06.2009, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kapitalismus/die-zukunft-des-kapitalismus-8-die-revolution-der-gebenden-hand-1812362.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2, abgerufen am 30.12.2019.
(21) „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: Das gehört mir!, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, ist der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft“ heißt es im Zweiten Discours. Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit. Ausgabe des integralen Textes, hrsg. von Heinrich Meier, Paderborn: F. Schöningh, 2008, S. 173.
(22) „Wenn gewöhnliche Investoren ihre Mittel dazu verwenden, mehr zurückzubekommen, als sie eingesetzt haben […], setzen die anderen ihre Ressourcen ein, um ihren Stolz zu befriedigen und ihr Glück zu bezeugen. [...] Die Reichen der zweiten Art verweigern sich dem Trübsinn der Akkumulation ohne Ziel und Ende.“ (Zorn und Zeit, S.54–55)
(23) Jan Rehmann/Thomas Wagner, „Sloterdijks Weg vom Zynismus-Kritiker zum Herrschaftszyniker“, in: Dies. (Hg.), Angriff der Leistungsträger? Das Buch zur Sloterdijk-Debatte, Hamburg 2010, S. 33.
(24) Peter Sloterdijk: „, Das kann nicht gut gehen‘. Peter Sloterdijk über Angela Merkel, die Flüchtlinge und das Regiment der Furcht, in Cicero, 2/2016, S. 14–23, hier 21.
(25) Neue Zürcher Zeitung, 13.3.2016