Ost­deutsch­land: Wut schlägt Scham

Foto: Imma­nuel Giel [Public domain]

Das „Wir sind das Volk“ der AfD als nach­ge­hol­ter Wider­stand gegen den SED-Staat.

Es ist eine erstaun­li­che Koin­zi­denz: Während die AfD mit „Voll­ende die Wende“ nicht „nur“ die fried­li­che Revo­lu­tion für sich rekla­miert, sondern mit der Revo­lu­ti­ons­pa­role „Wir sind das Volk“ zugleich behaup­tet, für die gesamte DDR-Bevöl­ke­rung zu spre­chen, ver­sucht – stell­ver­tre­tend für viele ähnlich agie­rende Medien – „Der Spiegel“ die ominöse „ost­deut­sche Seele“ zu ergrün­den und kommt zu dem (sicher­lich furcht­bar iro­nisch gemein­ten) Schluss: „So isser, der Ossi“.[1]

Eine Debatte, zwei Reak­ti­ons­mus­ter, die aber eines ver­bin­det: Beide sehen die DDR-Bürger als eine homo­gene Masse – alle gleich. Doch die DDR war ein hete­ro­ge­nes Gebilde und eine gespal­tene Gesell­schaft, gespal­ten in Herr­scher und Beherrschte – wobei die Trenn­li­nien dazwi­schen alles andere als scharf waren. Es gab Spitzel und Bespit­zelte, Par­tei­se­kre­täre und Dis­si­den­ten, Kar­rie­ris­ten und Aus­stei­ger. Und es gab viele ver­schie­dene Milieus: kirch­li­che, künst­le­ri­sche und intel­lek­tu­elle Kreise, Arbei­ter, Stadt und Land, den Partei- und Staatsapparat.

Im Jahr 1989 hatten die Mit­glie­der dieser gespal­te­nen Gesell­schaft eine unge­klärte, fragile Iden­ti­tät. Die DDR-Iden­ti­tät war hinter der Mauer gleich­sam stumm geblie­ben, hatte sich nicht im Ver­gleich mit dem Westen schär­fen und arti­ku­lie­ren können. 1989 waren wir nicht mehr DDR-Bürger und noch nicht Bun­des­deut­sche, sondern Zwi­schen­we­sen. Nur ein Teil der DDR-Bürger fühlte sich wirk­lich noch mit der DDR iden­ti­fi­ziert, ein anderer kleiner Teil fühlte sich bereits oder noch immer als „Deut­sche“.

Dieser Tage wird daher oft behaup­tet, dass die ost­deut­sche oder gar DDR-Iden­ti­tät über­haupt erst nach der Wende ent­stan­den sei, durch die schwie­ri­gen, teil­weise trau­ma­ti­schen Erfah­run­gen, die die Ost­deut­schen im Ver­ei­ni­gungs­pro­zess machen mussten. Meines Erach­tens geht dies am Kern der Sache vorbei: Jeder, der in der DDR lebte, musste sich irgend­wie zu diesem Staat in Bezug setzen, weil er zwangs­läu­fig und immer mit ideo­lo­gisch-hier­ar­chi­schen Macht­struk­tu­ren kon­fron­tiert war und dies hatte dann immer auch mit der eigenen Iden­ti­tät zu tun. Die Ost­deut­schen teilten den glei­chen Erfah­rungs­raum, in dem sie sich aber durch­aus unter­schied­lich verhielten.

Eines aller­dings ist richtig: Der Ver­ei­ni­gungs­pro­zess hat uns Ost­deut­sche in einer Weise vereint, die die oben geschil­derte Spal­tung der Gesell­schaft nur wenig berück­sich­tigt hat. Durch die schnelle Instal­lie­rung der neuen Struk­tu­ren wurden die Spal­tun­gen und Dif­fe­ren­zen über­tüncht. Egal ob Herr­scher oder Beherrsch­ter, Par­tei­se­kre­tär oder Bür­ger­recht­ler – alle mussten sich mit den neuen west­deut­schen Struk­tu­ren und der Infra­ge­stel­lung ihrer bis­he­ri­gen Exis­tenz aus­ein­an­der­set­zen. Alle bekamen vereint weniger Geld als Westler in ver­gleich­ba­ren Posi­tio­nen und wurden genauso „vereint“ als Dik­ta­tur­ge­schä­digte gesehen. „Zwi­schen den frü­he­ren Stützen des Regimes und den not­ge­drun­gen Ange­pass­ten ent­steht eine Ein­tracht, wie sie zu DDR-Zeiten nie exis­tiert hat“, bilan­zierte tref­fend Stefan Wolle.[2]

Zu der gemein­sa­men sozial-öko­no­mi­schen Abwer­tung kam jedoch noch eine zweite, nicht weniger gra­vie­rende: Auch kul­tu­rell wurden die Ost­deut­schen in der Bun­des­re­pu­blik nicht begrüßt. Die Leis­tung ihrer Selbst­be­frei­ung fand keine sym­bo­li­sche Wür­di­gung. Es kam nicht zu einer neuen gemein­sa­men Ver­fas­sung, es gab keine neue Fahne und auch nicht eine neue gemein­same Natio­nal­hymne. Und warum wurde nicht der 9. Oktober zum Fei­er­tag der deut­schen Einheit gemacht, der Tag des Frie­dens­ge­bets in der Niko­lai­kir­che, an dem 1989 in Leipzig die Men­schen mit großem Mut in Massen demons­trier­ten und damit das Ende der DDR mit ein­läu­te­ten? Der 3. Oktober als Tag der Einheit sagt dagegen nur etwas über den Ver­wal­tungs­akt des Bei­tritts aus, nichts aber, was sich irgend­wie auch mit ost­deut­scher Iden­ti­tät ver­bin­den ließe.

Hinzu aber kommt ein Wei­te­res: Durch die schnelle Ver­ei­ni­gung, die die Mehr­heit der Ost­deut­schen in freier Ent­schei­dung selbst gewählt hat, konnten die gra­vie­ren­den Kon­flikte zwi­schen ihnen nicht aus­ge­tra­gen werden, sondern wurden mehr oder weniger unter den Tisch gekehrt oder durch die rasante Instal­lie­rung der neuen Struk­tu­ren weg­ge­bü­gelt. Für manche war und ist dies bis heute eine unver­diente Gnade, für andere Grund zu großer Bit­ter­keit. So kann es einem ehe­ma­li­gen Häft­ling, der wegen Repu­blik­flucht einsaß, pas­sie­ren, dass ihm sein ehe­ma­li­ger Ver­hö­rer in der Ber­li­ner S‑Bahn gegen­über­sitzt – und dass er zusam­men mit ihm zwi­schen den Bahn­hö­fen Fried­rich­straße und Haupt­bahn­hof elegant über den ehe­ma­li­gen Mau­er­strei­fen fährt. Und falls sie beide inzwi­schen Rentner sind, kann man fast sicher sein, dass der eins­tige Ver­hö­rer eine höhere Rente bekommt als der Ex-Häftling.

Es gibt also massive, unauf­ge­ho­bene Wider­sprü­che aus DDR-Zeiten, die weiter wirken, Bit­ter­keit und Zorn erzeu­gen. Aller­dings gehen viele Ex-DDR-Bürger der Aus­ein­an­der­set­zung mit ihrem psy­chi­schen und sozia­len Geprägt­sein durch die DDR bis heute aus dem Weg. Dies ist durch­aus ver­ständ­lich, weil sie nach 1989 extre­men exis­ten­zi­el­len Anfor­de­run­gen aus­ge­setzt waren und zum Teil wei­ter­hin sind. Die Ost­deut­schen sind durch einen Sys­tem­wech­sel gegan­gen, wie ihn die Men­schen in der alten Bun­des­re­pu­blik in den letzten 70 Jahren nie erlebt haben. 30 Jahre nach 1989 mehr oder weniger „ange­kom­men“, fühlt sich die Hälfte der Ost­deut­schen nach den neu­es­ten Umfra­gen immer noch als Bürger zweiter Klasse.

Doch die Zeit seit 1989/​90 erklärt bei­leibe nicht alles. Zudem, und viel­leicht noch weit stärker, werden nämlich Selbst­be­wusst­sein und Selbst­ver­ständ­nis aus dem eigenen Inneren ange­grif­fen: wenn einem zuneh­mend bewuss­ter wird, dass man in einer Dik­ta­tur gelebt hat, ihr aus­ge­setzt war und dies natür­lich Spuren hin­ter­las­sen hat. Der nar­ziss­ti­schen Krän­kung von außen auch noch eine eigene Ver­un­si­che­rung von innen hin­zu­zu­fü­gen, stellt eine hohe Anfor­de­rung an Sta­bi­li­tät und Refle­xi­ons­ver­mö­gen dar, die nicht jeder auf­brin­gen kann.

Darüber hinaus fühlen sich manche Ost­deut­sche durch die Art des öffent­li­chen Umgangs mit ihrer Ver­gan­gen­heit beschämt. Der Leip­zi­ger Psy­cho­ana­ly­ti­ker Jochen Schade hat schon 2001 eine alte Scham benannt, „die doch ent­ste­hen sollte, wenn man sich ver­ord­ne­ten Dumm­hei­ten unter­wirft, sich bedin­gungs­lo­sen Rede­ver­bo­ten fügt und Demuts­ges­ten voll­bringt. Wer von uns kennt nicht die erfah­rungs­nahe, gera­dezu kör­per­li­che Regis­trie­rung pei­ni­gen­der Gefühle der Sub­al­ter­ni­tät, die der öffent­li­che Alltag im Sozia­lis­mus so oft bereit­hielt?“[3] Diese alte, oft unbe­wusste und ver­drängte Scham aus der DDR-Zeit, in der man sich Zwängen mehr als not­wen­dig gebeugt hatte, wird jetzt in viel­fäl­ti­ger Weise ans Licht gezerrt. Und im grellen Licht der Öffent­lich­keit und der West­schein­wer­fer wird sie zu einer neuen Beschä­mung und zur Ent­wer­tung. Als ein Bei­spiel dafür kann der Umgang mit dem DDR-Anti­fa­schis­mus dienen, der häufig als teil­nahms­lo­ser Anti­fa­schis­mus gedeu­tet wurde. Doch die Sache ist weitaus komplizierter.

Will­kom­mene Schuld-Entlastung

Die in der DDR nach 1945 in die Macht ein­ge­setz­ten Poli­ti­ker waren zum Teil erwie­se­ner­ma­ßen anti­fa­schis­tisch oder rekla­mier­ten dies für sich. Sie schufen den Mythos, dass die DDR aus dem Anti­fa­schis­mus geboren worden sei. Diese Saga ent­fal­tete eine unge­heuer starke Wirkung – bis in die ein­zelne Familie hinein –, weil sie umfas­sende Schuld­ent­las­tung von den deut­schen Ver­bre­chen bot. Die Iden­ti­fi­ka­tion mit den Anti­fa­schis­ten und später auch mit der DDR hatte den unge­heu­ren Vorteil, nun schein­bar auf der rich­ti­gen deut­schen Seite zu stehen, auf der Seite des Wider­stands und damit der Opfer. Wir sind die Guten, drüben sind die bösen Impe­ria­lis­ten. Diese Schuld­ent­las­tung wurde von den Deut­schen Ost, die gar nicht unschul­di­ger waren als die Deut­schen West, bereit­wil­lig ergrif­fen und nach und nach sogar geglaubt.

Alles, was nach 1945 an psy­chi­schen Dis­po­si­tio­nen, an Anfäl­lig­keit für Unter­ord­nung, an auto­ri­tä­rem Denken, Ver­ach­tung des Fremden und Schwa­chen weiter inter­na­li­siert war, wurde außer in der Kunst und Lite­ra­tur nicht öffent­lich bear­bei­tet. In den Insti­tu­tio­nen und in den Fami­lien gab es das gleiche Schwei­gen wie anfäng­lich im Westen. So wurde zuge­deckt, was denn vor 1945 konkret an einer bestimm­ten Uni­ver­si­tät oder in einem bestimm­ten Kran­ken­haus oder in dieser oder jener Familie gesche­hen war.

Die ost­deut­sche Groß­gruppe wurde von den rus­si­schen Siegern und ihren Erfül­lungs­ge­hil­fen in Pankow bzw. Wand­litz in eine Ideo­lo­gie gezwun­gen. Wenn man diese Ideo­lo­gie, die anfangs mit wirk­li­chem Terror, später mit Dik­ta­tur ein­her­ging, diesen Dop­pel­kno­ten aus Sozia­lis­mus und Anti­fa­schis­mus annahm, konnte man sich schein­bar von Schuld befreien und aus der deut­schen Iden­ti­tät lösen. Kon­se­quen­ter­weise ver­suchte die DDR Anfang der 1970er Jahre, aus allen Bezeich­nun­gen das Wort „deutsch“ zu ent­fer­nen: die deut­sche Mark wurde zur Mark, die Strophe der DDR-Natio­nal­hymne von Johan­nes R. Becher, die von „Deutsch­land einig Vater­land“ sprach, sollte nicht mehr im Wort­laut gesun­gen, sondern nur noch mit Instru­men­ten into­niert werden. Im Sep­tem­ber 1974 wurde mit einer Ver­fas­sungs­än­de­rung die deut­sche Nation abge­schafft. Nun gab es die „sozia­lis­ti­sche DDR-Nation“.

Mit der Auf­pfrop­fung der Ideo­lo­gie ging auch eine Zutei­lung der Trau­mata und Ruh­mes­blät­ter einher. Sie wurden den Ost­deut­schen von außen und oben zuge­teilt, geboren auch aus der Lebens­ge­schichte ihrer in die Macht­po­si­tio­nen ein­ge­setz­ten Führer wie Walter Ulb­richt oder Erich Hon­ecker, die beide in keiner Weise reprä­sen­ta­tiv waren für die ost­deut­sche Mehr­heit. Ulb­richt und Hon­ecker kamen als Tisch­ler und Dach­de­cker beide aus der Arbei­ter­klasse; sie waren schon vor 1933 Mit­glie­der der Kom­mu­nis­ti­schen Partei und dann im Wider­stand gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus. Und so hatten wir dann in der DDR nicht nur den 1. Mai, den Kampf­tag der Arbei­ter­klasse, oder den 8. Mai, den Tag der Befrei­ung vom Hit­ler­fa­schis­mus, sondern außer­dem noch den Tag der Opfer des Faschis­mus am 11. Sep­tem­ber und natür­lich den 7. Oktober, den Grün­dungs­tag der DDR, an dem die große Mili­tär­pa­rade abge­hal­ten wurde.

Dies waren aber nicht die Gedenk- oder Fei­er­tage eines Groß­teils der DDR-Bevöl­ke­rung, etwa meiner Groß­el­tern. Es waren die Tage ihrer Not und Ver­zweif­lung, ihrer Nie­der­lage und Scham. Denn sie waren wie die Mehr­heit der DDR-Bürger nicht Opfer des Faschis­mus, sondern kleine Mit­läu­fer gewesen, die unter der Ver­trei­bung aus ihrer bran­den­bur­gi­schen Heimat, die jetzt in Polen liegt, sehr litten. Als Kauf­manns­leute hatten meine Groß­el­tern an den Kämpfen der Arbei­ter­klasse nie teil­ge­nom­men. Diese gran­dio­sen Umdeu­tun­gen von Geschichte und Iden­ti­tät durch die rus­si­schen Sieger und die neuen Macht­ha­ber wurden von meinen Groß­el­tern nur teil­weise, von meinen Eltern und später von mir als einer Nach­kriegs­ge­bo­re­nen aller­dings schon stärker in die eigene Iden­ti­tät über­nom­men – und wir hatten uns dann an ihr abzuarbeiten.

Das Problem ist, dass diese auf­ge­pfropfte Iden­ti­tät einer­seits ange­nom­men wurde, es ande­rer­seits aber immer eine andere Unter­strö­mung von realen Erfah­run­gen gab: von Erfah­run­gen, die die Men­schen in Krieg und Nach­krieg gemacht hatten und natür­lich auch Erfah­run­gen mit der neu instal­lier­ten Macht. Viele fühlten sich auf der benach­tei­lig­ten deut­schen Seite, in der DDR nicht am rich­ti­gen Platz. Immer­hin haben von 1949 bis 1961 rund 2,7 Mio. Men­schen die DDR, ver­las­sen und nach dem Mau­er­bau noch rund 800 000.

Neben den offi­ziö­sen Geschichts­in­ter­pre­ta­tio­nen und ‑schil­de­run­gen gab es also immer erlebte wirk­li­che und manch­mal erzählte Geschich­ten, die nur nir­gendwo öffent­lich arti­ku­liert werden konnten. Ich kann mich noch sehr gut an die 1963 beim gemein­sa­men Abwa­schen her­vor­ge­press­ten Sätze meiner Groß­mutter erin­nern: Ich solle kein Wort glauben über die guten Russen, sie seien brutal und unge­recht gewesen nach dem Krieg. Und die Men­schen trugen in sich neben den ihnen zuge­teil­ten Traumen und Ruh­mes­blät­tern auch das Erleb­nis neuer eigener Traumen und neuer eigener Hel­den­ge­schich­ten, die mit anderen geschicht­li­chen Daten ver­bun­den sind: mit dem 17. Juni 1953, dem Jahr 1956, der Nie­der­schla­gung des Auf­stan­des in Ungarn, dem Bau der Mauer am 13. August 1961, dem Jahr 1968 und schließ­lich der Aus­bür­ge­rung von Wolf Bier­mann 1976.

Juni 1953 oder: Die Spal­tung von Beginn an

Schon mit dem Volks­auf­stand am 17. Juni 1953, also ganz am Beginn der am 7. Oktober 1949 gegrün­de­ten DDR, war die Spal­tung der DDR-Gesell­schaft für alle sicht­bar, durch die die Repu­blik bis zu ihrem Ende gekenn­zeich­net war. Dabei ging es nur vor­der­grün­dig um die For­de­rung, die von der Regie­rung ver­häng­ten zehn­pro­zen­ti­gen Norm­er­hö­hun­gen zurück­zu­neh­men. Dahin­ter standen ganz klar for­mu­lierte poli­ti­sche For­de­run­gen, letzt­end­lich nach Ablö­sung der SED-Herr­schaft. In über 696 Ort­schaf­ten der DDR kam es zwi­schen dem 17. und 21. Juni zu Streiks oder anders­ar­ti­gen Pro­test­ak­tio­nen, an denen 1 bis 1,5 Mil­lio­nen Men­schen teil­nah­men. Die sowje­ti­sche Besat­zungs­macht ver­hängte über 167 Land- und Stadt­kreise den Aus­nah­me­zu­stand und nur durch ihren Einsatz konnte die Macht der SED-Führer gesi­chert werden. Bei den Unruhen gab es auf Seiten der Demons­tran­ten nach ver­schie­de­nen Quellen 50 bis 125 Tote.[4] Rund 7700 Per­so­nen wurden ver­haf­tet und es gab nach­fol­gende Schau­pro­zesse mit teil­weise absurd kon­stru­ier­ten Urteils­be­grün­dun­gen.[5]

Bis 1989 wurde in den Kader­ak­ten erfasst, was jemand am 17. Juni 1953 gemacht, auf welcher Seite er gestan­den hatte. Deut­lich und brutal wie nie zeigte sich hier die Spal­tung der Gesell­schaft in die durch das Volk nicht legi­ti­mier­ten Herr­scher und die Beherrsch­ten. Nur die nackte Gewalt hatte die Herr­schen­den an der Macht halten können, die den Auf­stand als einen Akt von West­pro­vo­ka­teu­ren und als faschis­ti­schen Putsch umin­ter­pre­tier­ten. „Die Ereig­nisse im Juni 1953 waren für eine gesamte Gene­ra­tion ein Schlüs­sel­er­leb­nis. [...] Das Datum nahm mythi­sche Dimen­sio­nen an“, bilan­zie­ren Achim Mitter und Stefan Wolle.[6] „Men­ta­li­täts­ge­schicht­lich grub sich ins kol­lek­tive Gedächt­nis ein, dass jeder­zeit die SED mit allen Mitteln und vor allem mit Unter­stüt­zung der Besat­zungs­macht jede oppo­si­tio­nelle Regung unter­drü­cken wird [...] und ihr ärgster Feind im eigenen Land steht: die Bevöl­ke­rung.“[7] Und wie immer kehrt die Geschichte eines Tages wieder: Im August 1989 fragte der Minis­ter für Staats­si­cher­heit, Erich Mielke, seine ver­sam­mel­ten Stasi-Gene­räle in der großen Dienst­be­spre­chung: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni aus­bricht?“[8]

Während 1953 somit für die Sicht­bar­keit der Spal­tung in der DDR steht, ist das Jahr 1968 der Punkt, an dem sich die beiden Teile Deutsch­lands erst richtig aus­ein­an­der­ent­wi­ckelt haben.[9] Dass die west­deut­sche All­tags­kul­tur im Jahr 1989 demo­kra­ti­scher, tole­ran­ter und welt­of­fe­ner war als die der Ost­deut­schen, haben die West­deut­schen zum einen ihren west­li­chen Besat­zungs­mäch­ten und der durch Konrad Ade­nauer ein­ge­lei­te­ten West­in­te­gra­tion zu ver­dan­ken, zum anderen aber auch ihrer um 1968 rebel­lie­ren­den Jugend. Die 68er stell­ten die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ideo­lo­gie und die Über­hö­hung solcher Tugen­den wie Ordnung, Fleiß und Gehor­sam in Frage wie auch das natio­nale Deutsch­tum. Sie began­nen, wie wir alle wissen, die Gene­ra­ti­ons­aus­ein­an­der­set­zung mit den Eltern und in den Insti­tu­tio­nen. Sie lebten das „ganz Andere“ in der Erzie­hung, in der Sexua­li­tät, im Hin­ter­fra­gen der Geschlech­ter­rol­len. (Dass sie dabei oft über­zo­gen agier­ten und ihre unbe­wusste Iden­ti­fi­zie­rung mit den Täter-Eltern nicht klären konnten, steht auf einem anderen Blatt.)

Eine ähn­li­che Kul­tur­re­vo­lu­tion hat es in der DDR nicht gegeben, weil sie mit allen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Repres­si­ons­mit­teln unter­drückt wurde.[10] Obwohl dieser Geist in dieser Ost­ge­ne­ra­tion genauso zu finden war und über die Medien aller Art zu uns her­über­schwappte, inspi­rierte er nur eine Min­der­heit, die stän­di­gen Ver­fol­gun­gen aus­ge­setzt war. Der DDR-Alltag war so bis zum Ende geprägt vom Fort­wir­ken und der stän­di­gen Neu­kon­so­li­die­rung auto­ri­tä­rer hier­ar­chi­scher Struk­tu­ren und vom Versuch der ein­zel­nen Bürger, sich damit irgend­wie zu arrangieren.

Die falsche Opferidentifikation

Was die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus anbe­langt, war diese in der DDR stark polit­öko­no­misch geprägt. Demnach führte der Kapi­ta­lis­mus getreu der Dimitroff-These quasi gesetz­mä­ßig zum Faschis­mus. Es gab die Gedenk­stät­ten in den ehe­ma­li­gen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern und die Gedenk­tage sowie die stän­dige Anfor­de­rung, ein „neuer“ Mensch zu werden. Die struk­tu­rel­len Bedin­gun­gen für die Auf­lö­sung faschis­to­ider Hal­tun­gen wurden aber nur teil­weise geschaf­fen. In den Fami­lien gab es oft das gleiche Schwei­gen darüber wie bis 1968 im Westen, was denn die Väter nun wirk­lich im Krieg getan oder nicht getan hatten. Dass DDR-Jugend­li­che erst in den 1980er Jahren anfin­gen, ihre Groß­el­tern anders zu fragen, und viele unver­daute, geschönte Kriegs­er­leb­nisse zu hören bekamen, gehörte auch zu den Anfän­gen der rechts­ra­di­ka­len Gruppen in der DDR.

Gedacht wurde in der DDR beson­ders der kom­mu­nis­ti­schen Opfer der Natio­nal­so­zia­lis­ten. So wurde am „Tag der Opfer des Faschis­mus“ auch an meiner Schule ein Fah­nen­ap­pell abge­hal­ten und das „Lied von den Moor­sol­da­ten“ gesun­gen. Es ist ein berüh­ren­des Lied, von KZ-Insas­sen gedich­tet und kom­po­niert – der Wirkung auf die Seele konnte man sich nur schwer ent­zie­hen. „Hier in dieser öden Heide /​ ist das Lager auf­ge­baut /​ Wo wir fern von jeder Freude /​ hinter Sta­chel­draht ver­staut.“ Refrain: „Wir sind die Moor­sol­da­ten und ziehen mit dem Spaten ins Moor ...“ Am liebs­ten hätte ich geweint; gleich­zei­tig bekam ich eine mir damals uner­klär­li­che Gän­se­haut. Auf einem DDR-Appell für DDR-Schüler gespielt, sollte das Lied das Mit­ge­fühl und die Loya­li­tät mit den Opfern des Faschis­mus mit der Bindung an den Staat DDR ver­knüp­fen. Meine Gän­se­haut sagte mir, dass etwas daran falsch war. Die DDR-Macht­ha­ber iden­ti­fi­zier­ten sich mit diesen Opfern und benutz­ten die emo­tio­nale Ansprech­bar­keit der Schüler für die Mani­pu­la­tion ihrer Gefühle. Nur sehr wenige der Anwe­sen­den konnten dieses Lied aber mit Recht auf sich bezie­hen. Ent­we­der waren sie zu jung, oder sie waren auch als Ost­deut­sche eben gerade nicht „Moor­sol­da­ten“, also Ver­folgte oder Wider­stands­kämp­fer gewesen.

Anti­fa­schis­mus wurde so ein Teil der DDR-Staats­ideo­lo­gie und in dieser Ver­knüp­fung zur Loya­li­täts­falle. Manche bekamen bei diesen auf­ge­zwun­ge­nen Ritua­len und unter diesen Mani­pu­la­tio­nen kein Mit­ge­fühl für die Opfer oder eine uner­klär­li­che Gän­se­haut, sondern einfach nur Wut. Sie wurden inner­lich aggres­siv gegen­über dem auf­ge­pfropf­ten Anti­fa­schis­mus, durften dies aber unter Strafe nicht nach außen dringen lassen.

Staats­kin­der statt Staatsbürger

Auch noch auf andere Weise erschwerte das Erbe der DDR den Ost­deut­schen, mündige Demo­kra­ten zu werden. Denn in der DDR wurde ver­sucht, den Gegen­satz zwi­schen Familie und Kultur ein­zu­eb­nen, so wie das in Gesell­schaf­ten der Fall ist, die sich vom Kul­tur­wan­del abschir­men, indem sie die Ado­les­zenz, also die Zeit des Erwach­sen­wer­dens, durch die Art der Initia­tion einfrieren.

Die Aus­wir­kun­gen dieser Fami­lia­ri­sie­rung auf die Psyche der Bür­ge­rin­nen und Bürger der DDR hat Uwe Johnson schon 1970 in seinem hell­sich­ti­gen Essay „Versuch, eine Men­ta­li­tät zu erklä­ren“ beschrie­ben. Darin setzt er sich mit der Men­ta­li­tät von Men­schen aus­ein­an­der, die aus der DDR in die Bun­des­re­pu­blik gegan­gen waren. Ihm fällt auf, dass sie sich vom DDR-Staat auch nach dem Weg­ge­hen nur schwer trennen können: „So reden Kinder von ihren Eltern. So reden Erwach­sene von jemand, der einst an ihnen Vater­stelle vertrat.“ Und er beob­ach­tet: „In vielen Aus­sa­gen erscheint die DDR als fest umris­sene per­so­nen­ähn­li­che Größe (während die Bun­des­re­pu­blik bewusst ist als ledig­lich eine Lage, in der man sich befin­det).“ In jener fami­lia­ri­sier­ten DDR-Kultur wurde dann ja wirk­lich von „unseren Men­schen“ gespro­chen, wie man von „unseren Kindern“ spricht, und es kam zu der jetzt so oft beschwo­re­nen „mensch­li­chen Wärme“ im gesell­schaft­li­chen Umgang, wie sie viel­leicht eine solche fami­lia­ri­sierte Kultur her­vor­bringt – mit all ihren Vor- und Nachteilen.

Die Vor­teile sind die Gefühle von Gebor­gen­heit und Zusam­men­ge­hö­rig­keit, die diese Kultur ihren Mit­glie­dern bietet: Man arbei­tet für den Staat, und der Staat über­nimmt für­sor­ge­ri­sche Funk­tio­nen für seine Bewoh­ner. Wenn man sich aber gegen den Staat wendet, kann man sich dennoch seiner stän­di­gen ver­fol­gen­den Auf­merk­sam­keit gewiss sein. Der Nach­teil einer solchen fami­lia­ri­sier­ten Kultur ist, dass sie sich vor jeder Ver­än­de­rung nach außen und nach innen abschirmt. Die DDR-Jugend­li­chen trafen bei ihren Ver­su­chen, sich vom Eltern­haus zu eman­zi­pie­ren, auf eine Kultur, die sie erneut ein­bin­den und auf sich kri­tik­los ver­pflich­ten wollte, sie sogar mit einer wirk­li­chen Mauer ein­mau­erte. Die DDR-Kultur ermög­lichte somit wenig Gene­ra­ti­ons­aus­ein­an­der­set­zung und keinen offenen Umgang mit gra­vie­ren­den gesell­schaft­li­chen Kon­flik­ten. Und sie schrieb sich als eine Art Eltern­in­stanz in die Seelen ein, die man dann auch jeder­zeit ankla­gen, bewun­dern oder für sein eigenes Schick­sal ver­ant­wort­lich machen konnte.

Noch einmal lassen wir uns das nicht gefallen!

All dies beför­derte beson­dere Ver­hal­tens­wei­sen. Beson­ders beliebt, ja ein gera­dezu weit­ver­brei­te­ter Volks­sport war es, die Gesetze des Staates mit klamm­heim­li­cher Freude hin­ten­herum außer Kraft zu setzen oder zu umgehen, also nicht die offene Aus­ein­an­der­set­zung und den offenen Kon­flikt zu suchen, weil dies oft zu gefähr­lich war. 1989 wagten die DDR-Bürger dann den offenen Kon­flikt, und es ist wirk­lich tra­gisch, dass diese Leis­tung der Fried­li­chen Revo­lu­tion bis heute nicht gebüh­rend Aner­ken­nung im ver­ein­ten Deutsch­land findet.

Mit den schnell instal­lier­ten neuen West­struk­tu­ren gingen einige Ost­deut­sche nach 1990 nun zunächst um wie zu DDR-Zeiten: Sie ver­such­ten nicht, sich in sie ein­zu­brin­gen und durch Mit­wir­ken zu ver­än­dern, bezie­hungs­weise sich auch gegen einige der neuen Zumu­tun­gen zu wehren. Sondern sie ver­such­ten erneut, sie mit pas­si­vem Wider­stand zu umgehen. Sie waren nicht geübt im kon­struk­ti­ven Aus­tra­gen von Kon­flik­ten in der Öffent­lich­keit, hatten keine Streit­kul­tur erlernt und ver­in­ner­licht. Selbst die nach 1989 Gebo­re­nen sind teil­weise noch durch diese Ver­hal­tens­mus­ter geprägt, und auch ihnen fällt die Gene­ra­ti­ons­aus­ein­an­der­set­zung schwer, weil sie oft mit des­ori­en­tier­ten und ent­wer­te­ten Eltern kon­fron­tiert waren.

Zudem steigen erst jetzt, nach Jahren und Jahr­zehn­ten, bestimmte Gefühle aus DDR-Zeiten auf, können erst jetzt zuge­las­sen werden, holen uns nun ein und werden nun am neuen und damit fal­schen Objekt abre­agiert. So konnte ich erst beim Lesen meiner Stasi-Akte die Angst spüren, die ich eigent­lich schon zu DDR-Zeiten hätte spüren sollen. Was hätten sie mit mir und meiner Familie machen können, wenn sie gewollt hätten? Und was haben sie manchen wirk­lich angetan! Nach der Lektüre hatte ich Angst­träume, die ich aus DDR-Zeiten nicht kannte. Damals hatte ich es vor­ge­zo­gen, die gegen mich und meine Familie gerich­te­ten Maß­nah­men kaum wahr­zu­neh­men: Ich habe die Staats­si­cher­heit nicht ernst genom­men, das war mein Trick. Denn Angst hat niemand gern, weil sie klein und ohn­mäch­tig macht. Sie ist aber ein gutes und beach­tens­wer­tes Signal. Eine Ver­drän­gung von Angst kann zu Ver­harm­lo­sun­gen führen und erleich­tert bequeme Lebensarrangements.

Wird eine solche Angst heute in der Angst vor den Fremden nach­ge­holt? Gab es nicht auch nach 1990 eine „Fremd­heit im eigenen Land“ durch neue Struk­tu­ren und die Mit­glie­der der Westeli­ten, die oft als die neuen Herr­scher emp­fun­den wurden? Wird die eigene Fremd­heit in der neuen Kultur und das Sich-ihr-nicht-gewach­sen-Fühlen auf die Migran­ten pro­ji­ziert, bei ihnen ver­or­tet und dann dort ver­ach­tet und bekämpft?

Ver­scho­be­ner Auf­stand gegen die Eliten

Fest steht: Das heute laut­stark geäu­ßerte Miss­trauen in die Eliten über­haupt wäre gegen­über den DDR-Macht­ha­bern mehr als berech­tigt gewesen. Ebenso könnte man den per­ma­nent benutz­ten Aus­druck „Lügen­presse“ auf die DDR-Presse anwen­den: Wer sich noch erin­nert, weiß, wie viel dort ver­schwie­gen wurde, was alles beschö­nigt oder ver­zerrt dar­ge­stellt wurde. Auch hier wirkt es auf mich manch­mal wie ein nach­träg­li­ches Abre­agie­ren unter dem Motto: „Noch einmal lassen wir uns das nicht gefallen!“

Dass dieser Protest heute von rechts kommt, kann nicht son­der­lich ver­wun­dern: Rechtes Gedan­ken­gut gab es auch in der DDR, es wirkte unter der Decke, wo sich Bit­ter­keit und Zorn über das „anti­fa­schis­ti­sche“ System, das als Herr­schafts­sys­tem instal­liert war, anstaute. Mit der schnel­len Instal­la­tion der West­struk­tu­ren nach 1990 sind die Aus­ein­an­der­set­zun­gen über die Eltern­in­stanz DDR und ihre Ideo­lo­gie in Ost­deutsch­land weit­ge­hend aus­ge­blie­ben; die Aus­ein­an­der­set­zung mit der DDR-Ver­gan­gen­heit wurde primär inner­halb der neuen West­struk­tu­ren ange­scho­ben. So erleb­ten manche diese Aus­ein­an­der­set­zung mit ihrer Ver­gan­gen­heit nicht als ihre eigene Aus­ein­an­der­set­zung, sondern als eine angeb­lich west­deut­sche Idee: eine instal­lierte Beschä­mung, die nur dazu dienen sollte, die ver­meint­lich par­al­lel statt­fin­dende wirt­schaft­li­che Ent­eig­nung des „Volks­ei­gen­tums“, also auch „ihres“ Eigen­tums, zu verbrämen.

Sie merkten beim Verlust aller Koor­di­na­ten und der statt­des­sen oft nicht selbst­be­stimm­ten Über­nahme der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Struk­tu­ren, dass die DDR auf eine ver­quere Weise doch auch ihre Heimat gewesen war. Und es gibt bis heute Trauer und Zorn über die Ver­luste von Ver­trau­tem und von Sicher­heit, vor allem aber den Verlust von Arbeit – und über den Verlust der Utopie von 1989, doch „das Volk“ zu sein und direkt Ein­fluss nehmen zu können auf die Geschi­cke der Gesell­schaft. Die gerade mühsam erwor­bene Mün­dig­keit im poli­ti­schen Handeln ging bei manchen wieder ver­lo­ren in dem Gefühl, sich in der gemein­sa­men Bun­des­re­pu­blik eher wieder ohn­mäch­tig neuen Struk­tu­ren und Zwängen aus­ge­lie­fert zu sehen.

Die AfD als der Versuch, erneut ein Kol­lek­tiv zu bilden

Wie man sich in diese Demo­kra­tie ein­brin­gen kann, ohne aggres­siv um sich zu schla­gen – das ist die Frage, die die rechten Pro­vo­ka­teure uns allen auf den Tisch legen. Die AfD ist dagegen der Versuch, erneut ein Kol­lek­tiv zu bilden: gegen Beschä­mun­gen und Ent­wer­tun­gen, die uns ver­meint­lich und zum Teil wirk­lich der Westen zuge­fügt hat. Nein, die AfD ist keine „Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gung des Ostens“, wie das etwa Jana Hensel behaup­tet. Sie greift auf dumpfe Reflexe gegen die Fremden zurück und kämpft in einer Art nach­ge­tra­ge­nem Unge­hor­sam gegen die Demo­kra­tie der Bun­des­re­pu­blik, die die Flücht­linge auf­ge­nom­men hat. Dass gerade diese Demo­kra­tie sie als Partei zulässt, ihre Auf­mär­sche, wenn nötig sogar mit Poli­zei­ge­walt, schützt, erreicht nicht den Hori­zont ihrer Mit­glie­der. Anschei­nend ist ihnen auch nicht bewusst, dass sie mit ihrem Hass auf die anders­ar­ti­gen Flücht­lings-Men­schen manch­mal auch die Westler meinen.

Sich dagegen dem Schmerz des eigenen Ver­sa­gens, der alten eigenen Scham zu stellen, und der damit ver­bun­de­nen Trauer über ver­lo­rene oder ver­bo­gene Lebens­zeit, ist dagegen die große Her­aus­for­de­rung – und wirk­lich schwer. Denn dies wäre auch ein sehr indi­vi­du­el­ler Prozess, der die Brüche im ost­deut­schen Kol­lek­tiv deut­lich machen würde und für den man nicht so leicht einen Westler oder den Westen in Gänze ver­ant­wort­lich machen könnte. Scham, Trau­rig­keit, Wut, aber auch Schuld sind nicht gleich ver­teilt im Osten. Es geht um eine indi­vi­du­elle Aus­ein­an­der­set­zung, die zur Indi­vi­dua­li­sie­rung der ehe­ma­li­gen DDR-Bürger führt.

Viel­leicht liegt darin ja ein posi­ti­ver Effekt der AfD-Erfolge. Jetzt ist die Zeit end­gül­tig reif, dass die Ost­deut­schen mit­ein­an­der über ihre eigene Ver­gan­gen­heit und ihre Ver­drän­gun­gen strei­ten, als sich immer nur in Abwehr­kämp­fen gegen west­li­che Zuschrei­bun­gen zu verbünden.

Genau damit aber käme auch das ganze Land den ent­schei­den­den Schritt weiter: Die Frage nach der ost­deut­schen Iden­ti­tät könnte sich so zuneh­mend auf­lö­sen in der Frage, wie man heute als Deut­scher zu Deutsch­land steht; ob es bald 75 Jahre nach Kriegs­ende und 30 Jahre nach dem Ende der Spal­tung so etwas wie eine gute, das heißt eine posi­tive gemein­same deut­sche Iden­ti­tät geben kann und wie diese beschaf­fen sein könnte. Dazu aber bedarf es des Raums und der kon­struk­ti­ven Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen mög­lichst vielen unter­schied­li­chen Stimmen – aus Ost und West.


Der Text erschien zuerst im Heft 10 des Jahr­gangs 2019 der Blätter für deut­sche und inter­na­tio­nale Politik.


Anmer­kun­gen

[1] Vgl. den Auf­ma­cher von: „Der Spiegel“, 24.8.2019.
[2] Stefan Wolle, Die heile Welt der Dik­ta­tur, Berlin 1999, S. 86.
[3] Jochen Schade, Wie gegen­wär­tig ist die Ver­gan­gen­heit?, in: Werner Boh­le­ber und Sibylle Drews, Die Gegen­wart der Psy­cho­ana­lyse – die Psy­cho­ana­lyse der Gegen­wart, Stutt­gart 2001, S. 170.
[4] Die Sowjets zeich­ne­ten dabei für 18 stand­recht­li­che Erschie­ßun­gen verantwortlich.
[5] Vgl. den Beitrag von Ilka-Sascha Kowal­c­zuk in: Hans-Joachim Veen u.a. (Hg.), Oppo­si­tion und Wider­stand in der SED-Dik­ta­tur, Berlin und München 2000.
[6] Achim Mitter und Stefan Wolle, Unter­gang auf Raten, München 1993, S. 161.
[7] Kowal­c­zuk, a.a.O.
[8] Achim Mitter und Stefan Wolle, Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lage­be­richte des MfS Januar–November 1989, Berlin 1990, S.125.
[9] Siehe dazu etwa Heinz Bude, Das Altern einer Gene­ra­tion, Frank­furt a. M. 1995.
[10] Annette Simon und Jan Faktor, Fremd im eigenen Land?, Gießen 2000.

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