Wie verankert sind radikale Rechte in der Gesellschaft?
Ist die Neue Rechte bereits ihrem Ziel näher gekommen, die kulturelle Hegemonie zu erlangen und die Grundstimmung in der Gesellschaft in ihrem Sinne zu verändern? Mehrere Ereignisse der letzten Wochen geben Anlass zur Sorge, die bürgerliche Mitte könnte in Teilen das Treiben rechtsradikaler Kräfte mit tragen.
Heute begann der Prozess im Fall Daniel H., dessen Tötung im vergangenen August zu mehreren ausländerfeindlichen Protesten in Chemnitz führte. Zum Prozessauftakt wurde deutlich, dass die Beweislage gegen den Hauptangeklagten Alaa S., einem syrischen Asylbewerber, sehr dünn ist. (https://www.mdr.de/sachsen/chemnitz/prozess-totschlag-daniel-dresden-100.html)
Die Chemnitzer Bürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) geriet in Kritik, weil sie gegenüber der taz ihrer Hoffnung Ausdruck gab, „dass es eine Verurteilung gibt, damit die Angehörigen Ruhe finden können.“ Sollte der Prozess mit einem Freispruch enden „würde es schwierig für Chemnitz.“ (https://www.taz.de/!5577860/) Ihr wurde daraufhin politische Einflussnahme auf die Justiz vorgeworfen.
Vor allem spiegelt die Äußerung der Chemnitzer Bürgermeisterin ein Klima in der sächsischen Großstadt wider, das durch rechte Aufmärsche, Übergriffe und Debatten vergiftet ist. Fraglich ist, in welchem Maße das Vorgehen rechtsextremer und gewaltbereiter Gruppen von einem relevanten Teil der Bevölkerung gestützt wird. Das Gedenken an den verstorbenen, führenden Neonazi Thomas H. während eines Spiels des Chemnitzer FC am 9. März 2019 legt nahe, dass die rechte Szene keine Außenseiterrolle in der Stadtgesellschaft spielt. Möglicherweise wird sie gesellschaftlich toleriert. (https://www.welt.de/sport/fussball/article190052561/HooNaRa-Gruender-Chemnitzer-FC-haelt-Schweigeminute-fuer-Neonazi-ab.html) Oder aber die Rechtsradikalen haben derart die Hoheit über den öffentlichen Raum erlangt, dass die Mitte der Gesellschaft keinen Widerspruch wagt.
Chemnitz ist kein Einzelfall. In Bautzen wurde eine Demonstration gegen die Kandidatur der Grünen Annalena Schmidts für den Stadtrat angemeldet. Man wolle sie im Stadtrat verhindern. Die Grüne engagiert sich seit Jahren gegen Rechtsextremismus. Anfang Februar beteiligte sie sich auf Einladung des Bürgermeisters Alexander Ahrens (SPD) an einem Streitgespräch mit dem einflussreichen Bauunternehmer Jörg Drews. Drews hatte 2017 der AfD fast 20.000 Euro gespendet. Während Drews mit Seinen Äußerungen zu „Multikulti“ viel Beifall erntete, schlug Schmidt Hohngelächter entgegen, als sie das Grundgesetz zitierte. Letztlich zog Marco Wruck, Republikaner und ehemaliger NPD-Kreischef, die Anmeldung der Anti-Schmidt-Demo wieder zurück, um zu „vermeiden, dass es zu einer Eskalation kommt.“ Annalena Schmidt sieht keine Spaltung der Gesellschaft in Bautzen, sondern das Problem, dass ein Großteil der Bevölkerung und die politisch Verantwortlichen in Debatten radikaleren Kräften das Feld überließen. „Bautzen kann sich selbst nicht mehr helfen“, meint sie, „wir brauchen Hilfe von außen“, um die Debattenkultur zu retten. (https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/bautzen-annalena-schmidt-bekaempft-das-schweigen-a-1256390.html)
Matthias Quent, Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, sagte heute im Interview mit dem Deutschlandfunk über den rechtsradikalen Attentäter von Christchurch, dass rechtsradikales Gedankengut wie die Annahme einer reinen, homogenen Bevölkerung und die Vorstellung, es gäbe einen Bevölkerungsaustausch und Überfremdung durch Menschen nicht deutscher Abstammung, aus dem Mainstream komme. Er zitierte hierzu Umfragen, nach denen muslimfeindliche Überzeugungen von 40 bis 50 Prozent in der Bevölkerung geteilt werden. Solche Einstellungen stellten aus dem Inneren der Gesellschaft demokratische Grundwerte in Frage. Das sei der Einstellungsboden, der dann radikalisiert und mobilisiert werden könne, wie es in Chemnitz geschehen sei. (https://www.deutschlandfunk.de/vernetzung-von-rechtsradikalen-und-neonazis-wir-haben-feste.694.de.html?dram:article_id=443876)
Haben wir es in Teilen der deutschen Gesellschaft mit einer Radikalisierung zu tun, die das Handeln gewaltbereiter Rechtsradikaler duldet oder gar schweigend honoriert? Oder ist es das Schweigen der Mitte, das antidemokratischen Kräften teilweise den öffentlichen Raum überlässt? Wie können wir den öffentlichen Raum für die demokratische Bürgergesellschaft zurückgewinnen?