Ein Blick auf den Untergang des alten, weißen Mannes
Für Michel Houellebecq ist die Neuzeit eine einzige Verfallsgeschichte. Die Moderne zerstört alle metaphysischen Überwölbungen und jegliche Moral. Die Freiheit des Individuums bedeutet für ihn Überforderung. Die Gesellschaft wird atomisiert. Der Mann ist entmannt. Auch eine Prise Antikapitalismus fehlt nicht. In der sexuellen Befreiung sieht er die Ausweitung des kapitalistischen Überlebenskampfs um den um Sexualpartner. Im Roman „Elementarteilchen“ findet Houellebecq die Überwindung des quälenden Individualismus‘ in der Schaffung einer geschlechtslosen Klonrasse mit Hilfe der Biotechnologie. In „Unterwerfung“ versetzt der an Vitalität überlegene Islam dem westlichen Individualismus den verdienten Todesstoß. Diese Figuren vom Niedergang des Abendlands und Ablösung der Kulturkreise, der Entfremdung des Seins, Atomisierung der Gesellschaft und Antikapitalismus finden sich bei den antiliberalen Vordenkern der konservativen Revolution wie Oswald Spengler, Ernst Jünger, Carl Schmitt und anderen. Die Kritiker Houellebecqs erkennen darin neurechtes Denken. Andere halten seine Romane lediglich für die genialen Ausflüsse einer gepflegten Depression. Der Erfolg seiner Romane und die Debatten, die sich stets daran entzünden, sprechen dafür, dass er einen Nerv der Zeit trifft. Sabine Vogel hat seinen jüngsten Roman „Serotonin“ gelesen.
Das hat er gut eingefädelt. Einen Monat vor dem Erscheinen seines neuen Romans publizierte der französische Schriftsteller Michel Houellebecq im New Yorker Harper’s Magazine einen Text, in dem er haufenweise krudes Zeugs verbreitet: Er preist Amerika dafür, dass es aufgehört habe, seine Vorstellung von Demokratie mit Kriegen und Interventionen in alle vier Himmelsrichtungen über den Globus zu verbreiten. Demokratisch ist für ihn nur eh ein Land, das ist die Schweiz. Den „schrecklichen Clown“ Trump lobt er für seine protektionistisch Wirtschaftspolitik, die angeblich den US-amerikanischen Arbeiter schütze, er lobt dessen EU-feindliche Haltung, findet den Brexit prima, die Globalisierung schlecht und bekennt sich sowieso zum Nationalismus.
Und schon geht die Debatte los: ist Houellebecq ein Autor des neurechten Denkens? Und darf man seinen Roman trotzdem gut finden?
Wie bestellt ereifern sich die Leithammel des deutschen Feuilletons darüber, dass man damit „rechtes, antiliberales Gedankengut salonfähig“ mache, so Adam Soboczynski in der Zeit. Dort hatte zuvor schon die Literaturkritikerin Iris Radisch verkündet, dass Houellebecqs „antiliberale Meinungen“ nun nicht mehr länger „als Spielereien eines Literaten“ durchgehen könnten. Unter dem Titel „Jetzt wird es ernst“ schreibt sie: „Diesmal sollte man ihm glauben. In seinem neuen Roman ‚Serotonin‘ verklärt er die französische Provinz und verdammt die Europäische Union“. Noch vor dem Erscheinen des Romans konstatierte Felix Stephan in der Süddeutschen Zeitung: „Liberalismus und Globalisierung sind für Houellebecq vor allem ein Raubzug am Geiste Frankreichs.“ Auch für den Literaturredakteur des Tagesspiegels, Gregor Dötzauer, war es nach Houellebecqs Eloge auf Trump klar: „Wo er politisch steht ist schon lange keine Frage des ironischen Versteckspiels mehr. Als Michael Houellebecq vor zwei Jahren seine Dankesrede zum Frank-Schirrmacher-Preis hielt, konnte man ihn mit einem Rest guten Willens noch als den Zündler vom Dienst bezeichnen. Spätestens seit er (...) in Brüssel den ersten Oswald-Spengler-Preis entgegennahm und sich mit der Schlagzeile ‚Houellebecq – La grande prophétie‘ auf dem Titel der ins Nationalistische abgedrifteten Wochenzeitschrift Valeuer actuelles zeigte, brennen die rechten Feuer seines Denkens lichterloh.“ Jener Zeitschrift soll er auch anvertraut haben, er sei „bereit, jeden zu wählen, der sich für den Austritt aus der Europäischen Union und der Nato einsetzt“.
Richtig überraschend kommt das alles nicht. Der Bestsellerautor mache die „Thesen der Rechtsradikalen salonfähig“, hieß es schon zu Beginn des Jahres 2015 in der französischen Zeitung Liberation. Am selben Tag als die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ von islamistischen Terroristen überfallen wurde, war Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ erschienen. Darin entwirft der Lieblingsprovokateur des literarischen Betriebs ein Szenario, in dem eine Muslimbruderschaft die Regierung Frankreichs übernimmt und die Scharia einführt. Die Professoren der Sorbonne sind zwangskonvertiert, bekommen 14-jährige Sexgespielinnen und dürfen mehrere Frauen begatten.
Von solch fundamentalistischen Männerphantasien ist im aktuellen Roman nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: Sein Held, ein 46 jähriger Agraringenieur mit dem „botticellihaft schwuchteligen“ Vornamen Florent-Claude, kriegt ihn nicht mehr hoch. Der einst „triumphale Phallus“ macht schlapp, der Mann ist ein Wrack. Schuld an seiner Impotenz ist eine ovale Pille mit dem Glückshormon Serotonin. Der Grund für seine Depression aber ist die Abwesenheit der Liebe oder, was irgendwie dasselbe ist, der „Untergang des Abendlandes“. Ja, Houellebecq kann ziemlich komisch sein. In seiner Dankesrede zum Oswald-Spengler-Preis sagte der gerade zum dritten Mal verheiratete Houellebecq, dass „Selbstmord“ den Zerfall des Westens besser beschreibe: zu wenig bio-weiße Nachwuchsproduktion.
Wie nahezu alle Protagonisten im Houellebecqschen Romankosmos ist Florent der Prototyp des „abendländischen Mannes in den mittleren Jahren“ und leidet an der Welt und an sich selbst. Worum geht es? Er hat einen Mercedes, eine junge japanische Freundin, einen guten Job und ein Ferienapartment an der spanischen Südküste. Florent hat alle materiellen Möglichkeiten und Freiheiten, doch fehlt es ihm am Wesentlichen: an Sinn und Erfüllung, an Glaube, Liebe, Hoffnung.
Auf den Computer seiner Freundin entdeckt er Videos, die sie bei unappetitlichen Sexorgien zeigen. Wenn er nicht so ein „substanzloses Weichei“ wäre, würde er vielleicht einfach mit ihr Schluss machen und sie aus seiner Wohnung werfen. So beschließt er, zu verschwinden. Er stiehlt sich aus der „toxischen Beziehung“ mit dem Luxusgeschöpf und zugleich aus seinem gesamten Sozialzusammenhang. In einem Tag hat er seinen Arbeitsplatz im Landwirtschaftsministerium und die Master-Suite-Wohnung gekündigt, ein neues Bankkonto eröffnet, seine paar Habseligkeiten gepackt und ein Hotel bezogen. Geld ist kein Problem, aber er braucht fast hundert Anrufe, um überhaupt ein Zimmer zu finden, in dem er noch rauchen darf. Bei teurer Restaurantkost und Alkohol suhlt er sich in seiner selbstgewählten Isolation. Das Antidepressivum verleidet ihm die Lust auf Sex, so fehlt ihm der letzte Grund zum Leben. Er erinnert sich an den Selbstmord seiner Eltern. An all seine gescheiterten Beziehungen. Er trauert seinen vertanen Glückschancen hinterher, den schönen Geliebten, die er durch Seitensprünge verprellt hat. Er sinniert heillos über die Liebe und Geschlechtsunterschiede. Drischt Macho-Sprüche, bezeichnet Frauen als Schlampen mit drei Löchern, allein dazu da, Männern Lust zu bereiten. Einmal trifft er eine frühere Lebensgefährtin. Die erfolglose Schauspielerin ist Alkoholikerin, reich, einsam, hässlich, ein Trauerspiel – für eine Frau. Nach Monaten im Hotel droht zu Weihnachten erhöhte Selbstmordgefahr, wie der ihm Serotonin verschreibende Arzt warnt. Also fährt Florent mit seinem 350er Diesel-SUV in eine weitere Erinnerungslandschaft. In der Normandie besucht er seinen Freund aus Studienzeiten. Aymeric, ein Aristokrat mit Stammbaum bis ungefähr zu den Wikingern, bewirtschaftet auf dem geerbten Landgut einen Hof mit Kühen nach Biostandard. Auch er ist ein Verlassener. Angeödet vom richtigen Leben im Falschen ist seine Frau mit einem Pianisten nach London durchgebrannt. Auch Aymeric säuft sich um den Verstand, die grauen Zauseln hängen ihm ins ungepflegte Gesicht, die Behausung verdreckt und zugemüllt. Es gibt Dosenfutter, Blutwurst und Wodka, auch wieder Joints. Florent bleibt beim Chablis. An Alkohol herrscht beim Niedergang des Patriarchats kein Mangel. Wortkarg und stoisch betrinken sich die beiden frauenlosen Männer, über edle Musiklautsprecher dröhnt „Child in Time“, so 30 bis 40 Mal hintereinander. Grandiose Sentimentalitäten. Man riecht förmlich den Muff ungewaschener Wollsocken, die vollen Aschenbecher, die Verwahrlosung. Im Ferienbungalow nebenan fabriziert ein deutscher Ornithologe dilettantische Kinderpornos.
Um den Hof zu finanzieren, muss Aymeric immer wieder Stücke des Grundbesitzes an ausländische Investoren verkaufen. Es rechnet sich nicht, ohne Subventionen kann kein traditioneller Landwirtschaftsbetrieb in der EU überleben. Während sich die zwei Männer ihrer postheroischen Melancholie ergeben, wird den Bauern ihre Existenzgrundlage zerstört. Der Milchpreis sinkt, die EU schützt ihre Landwirte nicht genug. Aymeric steht vor der Pleite. Und sein Freund, der ehemalige Angestellte des Landwirtschaftsministeriums, muss sein Scheitern auch auf dieser Linie eingestehen. Ein paar Bauern rotten sich zusammen, bewaffnen sich mit Flinten und Benzinkanistern, um Lastwagen mit Milch aus Polen oder Brasilien aufzuhalten. Ein paar Trecker gegen ein paar lokale Polizisten, es gibt ein Flammeninferno und Tote.
Dieser kurze, dramatische Exkurs ist der einzige Moment in Houellebecqs Roman, der die politische Gegenwart tangiert. Darin eine prophetische Vision (des Gelbwesten-Aufstandes) oder eine Befürwortung antidemokratischen, gar rechten Denkens (gewaltsamer Widerstand!) zu lesen, scheint ziemlich weit hergeholt. Houellebecqs Thema ist der Abgesang auf den weißen alten Mann, auf die rückständigen Verlierer von Emanzipation und Globalisierung. Das Tolle daran: Bei all seinen frauenverachtenden Sprüchen hat der gebrochene Macker all unsere Sympathie. Sein unprätentiöser Sermon des Scheiterns rührt uns, wir staunen mit dem wehleidigen Versager über die trostlose Schönheit eines Warencenters, verlieren uns mit ihm im wattigen Winternebel und teilen sogar seine Freude über die perfekte Eleganz eines Gewehrlaufs.
Wie ein sterbendes Tier zieht sich der aufgedunsene Trauerkloß aus dem Leben zurück, er vergräbt sich ins Dunkel der Anonymität. Nach Verlust des Freundes verlässt er den Bungalow am diesigen Meer, er mietet ein finsteres Haus im Wald, bricht in ein Seerestaurant ein, das den Winter über geschlossen hat, macht dort kein Licht an. In seiner letzten Behausung im 13. Stock eines Hochhauses am Pariser Stadtrand bleiben die Jalousien geschlossen.
Der alte weiße Mann ist in der „Nacht ohne Ende“ angekommen. Und wir haben großes Vergnügen dabei, das zu lesen.
Michel Houellebecq: Serotonin. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner. Dumont, Köln 2019, 336 Seiten, 24 Euro.