„Die Kritik des Antisemitismus wurde als ein größeres Problem eingestuft als der Antisemitismus selbst“
Der Soziologe David Hirsh spricht im Interview über den Antisemitismus der Labour Party und erklärt, wie die Israelfeindschaft für viele britische Linke zum Bestandteil der politischen Identität werden konnte.
Herr Hirsh, Ende März hat die Labour Party mit Keir Starmer einen neuen Vorsitzenden gewählt. Seinen ab 2015 amtierenden Vorgänger, den Linkspopulisten Jeremy Corbyn, hatten Sie wegen seines Umgangs mit Antisemitismus seit langem stark kritisiert. Sind Sie nun erleichtert?
Auf jeden Fall. Doch wir sollten vorsichtig sein. Zwar ist das Antisemitismus-Problem in der britischen Linken untrennbar mit Corbyn verbunden und seine politische Biografie zeigt beispielhaft, wie große Teile der Linken ihre Identität negativ über die Juden und über Israel definieren. Doch gleichzeitig lässt sich das Antisemitismus-Problem nicht auf Corbyn reduzieren, da in Großbritannien eine ganze Kultur des zeitgenössischen linken Antisemitismus existiert. Starmer hat sich in seiner Antrittsrede für den Antisemitismus bei Labour entschuldigt und versprochen, „das antisemitische Gift in der Partei ausmerzen“. Nur: nicht unähnlich hat sich auch Corbyn häufig geäußert, wenn er immer und immer wieder behauptet hat, Labour würde keinen Antisemitismus dulden. Es muss sich also zeigen, ob es Starmer gelingt, die Realität eines genuin linken Antisemitismus innerhalb der Labour Partei zu erkennen und dieses Problem ernsthaft anzugehen.
Können Sie einige Beispiele nennen für Corbyns Positionen?
Corbyn war Befürworter des akademischen Boykotts Israels, er moderierte zwischen 2009 und 2015 für den staatlichen iranischen Propaganda-Sender Press TV und bezeichnete die antisemitischen und genozidalen Terrororganisationen Hamas und Hisbollah 2009 als „Freunde“, die sich für das Wohlergehen der Palästinenser einsetzten und „langfristig Frieden, soziale und politische Gerechtigkeit“ in die Region bringen würden. Außerdem verteidigte er immer wieder antisemitische Aussagen, wie etwa eine Wandbild in London, das zum Teil jüdische Geschäftsleute zeigt, die ihr Geld auf einem Spielbrett zählen, das auf den Rücken von schwarzen Menschen platziert ist. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Wie ging die Labour Party bisher mit parteiinternem Antisemitismus um?
Obwohl es über Jahre hinweg eine Fülle an gut dokumentierten, klar und deutlich antisemitischen Vorfällen gab, wurde unter Corbyn der Antisemitismus in der Regel nicht als Bedrohung für uns Juden begriffen, sondern als etwas dargestellt, das aus egoistischen Motiven instrumentalisiert wird. Selbst parteiinternen Kritikern wurde unterstellt, sie seien Agenten einer rechten Verschwörung mit dem Ziel, Labour zu schaden, „die Palästinenser“ zum Schweigen zu bringen, sich in den Dienst einer „globalistischen Elite“ zu stellen – oder sich gar für Donald Trump einzusetzen. In anderen Worten: Die Kritik des Antisemitismus wurde als ein größeres Problem eingestuft als der Antisemitismus selbst.
Eine klassische Strategie der Kritikabwehr.
In der Tat. In meinem Buch Contemporary Left Antisemitism (Routledge 2017) habe ich nachgezeichnet, wie ab den 1980ern in der britischen Linken der Antisemitismus vorherrschend werden konnte. Eine wichtige Rolle spielten dabei genau das besagte Kommunikationsmuster der Kritikabwehr, durch das die Aufmerksamkeit auf die angeblich verborgenen Motive der Kritiker gelenkt wurde, um zu vermeiden, sich mit dem konkreten Inhalt der Antisemitismusvorwürfe auseinanderzusetzen zu müssen. Ich habe es als „Livingstone formulation“ bezeichnet, benannt nach dem ehemaligen Londoner Bürgermeister Ken Livingstone, der dieses Muster perfektioniert hatte. Dass Juden, die sich gegen Antisemitismus wehren, als aggressiv, paranoid und hysterisch dargestellt werden, ist eigentlich nichts Neues. Das ist die klassische Täter-Opfer-Umkehr, die wir aus der Geschichte des Antisemitismus kennen: Am Ende sind die Juden schuld.
Wie konnte der zeitgenössische linke Antisemitismus in Großbritannien so stark werden?
In der Labour Partei, in den Gewerkschaften und bei vielen Linken an den Universitäten dominiert eine antiimperialistische Weltanschauung. Darin wird die Welt sehr schematisch in Unterdrücker und Unterdrückte aufgeteilt. „Palästina“ steht für viele Antiimperialisten dann symbolisch für alle Unterdrückten dieser Welt, wohingegen „Israel“ als das universelle Symbol für Unterdrückung gilt. Die meisten Konflikte in dieser Welt – denken wir etwa an die Kämpfe der Kurden oder der iranischen Bevölkerung – scheinen in dieser Weltanschauung nicht zu existieren oder zumindest irrelevant zu sein. Und wenn die Feindschaft oder Obsession gegenüber Israel bei Leuten, die eigentlich so weit weg sind von den realen Orten und dem Geschehen vor Ort, zu einem zentralen Bestandteil der eigenen politischen Identität werden, wie das bei vielen britischen Linken der Fall ist, dann hat das etwas mit einem untergründigen Antisemitismus zu tun. Darüber hinaus gerät in der antiimperialistischen Weltanschauung aus dem Blick, dass die Gründung und die Existenz Israels eine Antwort auf den weltweiten Antisemitismus ist. Eine Antwort auf Antisemitismus als universelles Symbol für Unterdrückung – wie ist das möglich?
Kürzlich wurde ein noch unter Corbyn verfasster Report zum Umgang mit Antisemitismus in den eigenen Reihen geleakt. Dieser Bericht sollte eigentlich bei der staatlichen Equalities and Human Rights Commission (EHRC) eingereicht werden, die seit Mai 2019 den Antisemitismus in der Labour Partei untersucht. Wie bewerten Sie den Report?
Der Bericht schließt aus, dass Antisemitismus unter Labour-Mitgliedern etwas mit der Corbyn-Fraktion zu tun hatte. Nichts ist darin zu finden darüber, wie die Feindschaft gegenüber Israel zum Lackmustest für die Zugehörigkeit zur „Gemeinschaft der Guten“ wurde, nichts ist zu lesen über die BDS-Bewegung oder wie Corbyn und seine Anhänger regelmäßig Antisemiten unterstützt haben. Der Bericht entkoppelt den Antisemitismus von konkreter Politik der Corbynisten, indem behauptet wird, er sei schlicht mit den vielen neuen Labour-Mitgliedern in die Partei gekommen und bilde letztlich nur den ohnehin in der Bevölkerung existierenden Antisemitismus ab. Antisemiten gelten als „böse Leute“ und als Einzelfälle. Wie schon im Chakrabarti-Report, mit dem Labour 2016 geschickt auf die vermehrte öffentliche Thematisierung der stark gestiegenen antisemitischen Vorfälle in den eigenen Reihen reagiert hatte, wird auch im jüngsten Bericht nicht darauf eingegangen, wie der zeitgenössische linke Antisemitismus funktioniert und was seine zentralen Denkmuster und Topoi sind.
Wird im geleakten Report auch auf die Livingstone formulation zurückgegriffen?
In einer veränderten Variante. So wird im Report behauptet, dass die parteiinternen Gegner Corbyns alle Versuche des Vorsitzenden, die Antisemiten zu loszuwerden, sabotiert hätten mit dem Ziel, Corbyn selbst in Verruf zu bringen und als Antisemiten zu brandmarken. Indem die Schuld lediglich den politischen Kontrahenten zugeschoben wird, erhält die Livingstone formulation eine neue Wendung. Dabei wird jedoch ausgeblendet, dass die britischen Juden die lautesten und deutlichsten Stimmen waren, die sich gegen den linken Antisemitismus unter Corbyn positioniert haben. Viele jüdische Labour-Mitglieder sind in der letzten Zeit ausgetreten, ich selbst habe die Partei Anfang 2019 verlassen. Im Alter von 18 Jahren wurde die Labour Party mein politisches Zuhause. Doch dann, nach Jahren der parteiinternen Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen linken Antisemitismus, hatte ich genug davon. Vom Antisemitismus im Labour Movement wollte ich nicht mehr gedemütigt werden.
Das Interview führte Till Schmidt.