Ist der Rechtsstaat nur Einbildung?
Wenn der Staat rechtsstaatliche Prinzipien verletzt, kann das nicht automatisch auf Carl Schmitt zurück geführt werden. Das würde die Gefahren unterschätzen, die in seiner Idee des „Ausnahmezustands“ schlummern.
Der Deutschlandfunk sendete vor Kurzem in der Reihe „Essay und Diskurs“ einen interessanten Beitrag von Michael Reitz zum umstrittenen Staatsrechtler Carl Schmitt, der mitunter als „Kronjurist des Dritten Reichs“ bezeichnet wurde. In letzter Zeit erlebt der scharfsinnige Denker wieder eine Renaissance sowohl bei neurechten Intellektuellen als auch bei linken (Post-)Marxisten. Die Sendung von Reitz ist hörenswert, weil sie mit prägnanten Zitaten das Denken von Carl Schmitt verständlich macht. Aber der Autor geht zu weit, wenn er alle Formen von Ausnahmezuständen von Guantanamo über den War on Terror bis hin zu Abschiebezentren oder das neue Landespolizeigesetz Nordrhein-Westfalens als Schmittsche Ableitungen darstellt.
Es gibt mit Sicherheit eine ganze Reihe zu kritisierender Umstände, in denen der Rechtsstaat seinen eigenen Ansprüchen nicht genügt oder gar gegen eigene Prinzipien verstößt. Natürlich sind rechtsfreie oder außerrechtliche Räume wie in Guantanamo mit der Idee des Rechtsstaats unvereinbar. Das politische Bestreben muss deshalb darauf ausgerichtet sein, diese Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien zu beenden.
Jeder dieser Sachverhalte, die mit Rechtsstaatlichkeit unvereinbar sind, ist einer zu viel. Anhand von Aufzählungen daraus ein dauerhaftes Prinzip der westlichen Demokratien abzuleiten, geht aber zu weit. Denn das Ideal des Rechtsstaats ist weiterhin das leitende Prinzip der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und auch in demokratischen Verfassungen festgeschrieben. Sonst wären die Verstöße dagegen auch nicht als solche zu erkennen. Und auch deshalb können sie Gegenstand der politischen Kontroverse werden.
Carl Schmitt meint mit dem Ausnahmezustand aber nicht einzelne oder häufigere Verfehlungen eines Rechtssystems. „Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme“, schrieb Carl Schmitt 1922 in seiner „Politischen Theologie“. Carl Schmitt glaubte angesichts der bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse zu Beginn der Weimarer Republik nicht an die rechtssetzende Kraft der liberalen Demokratie. Er bezweifelte, dass parlamentarische Debatten und ein auf Pluralismus ausgerichteter Staat wirksam Recht und Ordnung setzen und auch durchsetzen könnten. Für ihn muss die Erfahrung des Liberalismus‘, in dem alles erlaubt ist, jede Norm hinterfragt werden darf und praktisch keine Tabus gelten, das genaue Gegenteil der ordnenden Kraft gewesen sein, nach der er sich offensichtlich und verständlicherweise sehnte. Welche Gültigkeit hat ein Recht, das jederzeit in Frage gestellt werden kann, könnte man mit Schmitt fragen.
Gegen den Liberalismus setzt Carl Schmitt den Ausnahmezustand als konstitutives Prinzip. Der Herrscher (der „Souverän“) schafft das Gesetz durch Entscheidung, die aus dem Nichts geboren ist. Das Gesetz erfährt seine Autorität nicht durch Wahrheit oder dadurch, dass es einer Rechtsidee folgt. Es erfährt Autorität aus der Macht des Herrschers, der seine Entscheidungen nicht zu rechtfertigen braucht. Hier für ist der Ausnahmezustand das grundlegende Prinzip. Nicht, dass dieser Ausnahmezustand überhaupt Realität werden müsste. Er dient vor allem als Drohkulisse. Nur ein Herrscher, der permanent mit der Willkür des Ausnahmezustands drohen und also Angst und Schrecken verbreiten kann, hat nach Carl Schmitts Überzeugung die Macht, wirksam Recht zu setzen und auch durchzusetzen. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, heißt es dazu bei Carl Schmitt. Solch eine Staatsidee ist natürlich eine Steilvorlage für ein diktatorisches Régime. Es war nur folgerichtig, dass Carl Schmitt später der Führerfigur Adolf Hitler staatsrechtliche Absolution erteilte.
Bei Carl Schmitt ist der Ausnahmezustand also erkennbar etwas anderes als die zu kritisierenden Ausnahmezustände, die wir leider immer noch in rechtsstaatlichen Demokratien erleben. Dort ist er Prinzip, hier ist er ein Fehler im System. Die Gefahren für die demokratische Gesellschaft, die im Denken Carl Schmitts angelegt sind, werden nicht ernst genommen, wenn alles in Eins vermengt wird. Stattdessen gilt es, den Zustand rechtsfreier Räume zu bekämpfen und den Gegenbeweis anzutreten, dass Recht und Ordnung sehr wohl aus einem demokratischen und pluralistischen Gemeinwesen abzuleiten sind.