Kulturpessimismus
Die westliche Gesellschaft befinde sich in ihrem Endstadium, heißt es oft in Anlehnung an Oswald Spengler. Sie gehe an ihrer Dekadenz zugrunde. Überall finden sich Zeichen von Verfall und Selbstauflösung. Es gelten keine Werte mehr. Wir haben unsere Selbstachtung verloren. Es gebe nichts mehr, für das zu sterben oder auch nur einzutreten sich lohnen würde. Der permanente Tabubruch ist der Normzustand. Er müsse immer weiter auf die Spitze getrieben werden, um noch eine Regung zu erzeugen. Alles sei erlaubt. Alles sei erschlafft. Es gebe keine Orientierung, keine ordnende Kraft mehr. Die Menschen sind vereinzelt und einsam. Es fehlt die Gemeinschaft, die dem Individuum Halt gibt. Die kommerzielle, traditionsvergessene, individualistische Gesellschaft kann keine Identität mehr bieten. Sie ist schwach und dem Untergang geweiht. Neue, vitale Mächte seien im Aufstieg begriffen. Sie werden unserer oberflächlichen Zivilisation – die alle Merkmale einer echten Kultur verloren hat – den verdienten Todesstoß versetzen.
Im Telegramkanal Qlobal-Change sind Narrative, die eine unabhängige Presse in Frage stellen, weit verbreitet. Mit mehr als 140.000 Abonnenten ist Qlobal-Change der größte nicht-englischsprachige Kanal der QAnon-Gemeinde, die sich um in den USA verbreitete Verschwörungsmythen sammelt. Ein wesentlicher Erzählstrang ist darum der behauptete Wahlbetrug bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2020. Hier, so heißt es in Posts, spiele die sogenannte „Systempresse“ eine „manipulative“ Rolle – u.a. bevorzuge sie den derzeitigen US-Präsidenten Joe Biden gegenüber seinem Vorgänger Donald Trump. So heißt es in einem Beitrag: „In den Systemmedien und im Internet gibt es auch zehn Monate nach seinem Auszug aus dem Weißen Haus noch immer eine Flut von Rufmord-Propaganda gegen DONALD TRUMP.“
In diesem Zusammenhang der angeblichen Parteinahme spricht Qlobal-Change auch regelmäßig vom „‚System Biden‘“, was ein Bündnis aus Politik und Presse suggeriert. Auch auf anderer Ebene wird etablierten Medien Befangenheit unterstellt. In einem Repost der Telegram-Gruppe Volksentscheid MF etwa berichtet ein Autor, der sich mit „euer Micha“ vorstellt, von seiner Recherche über den ehemaligen Thomson-Reuters-Manager James C. Smith. Diese habe ergeben, dass Smith sowohl Aufsichtsrat des Impfstoff-Herstellers Pfizer als auch Chef des Medienunternehmens Thomson Reuters war – eine unter Verschwörungsgläubigen im Januar kursierende Nachricht, die häufig auf die Behauptung einer lukrativen Verbindung von Medien und wirtschaftlichen Interessen insbesondere während der Corona-Pandemie heruntergebrochen wird. Im Repost auf Qlobal-Change wird diese Behauptung aufgenommen und größeren Medien und Nachrichtendiensten die Verbreitung von Unwahrheiten unterstellt. Dort heißt es: „Einmal mehr, wurden die Mainstream Medien der Lüge überführt und zwar, der vorsätzlichen Lüge.“ Die journalistische Arbeit wird so als Auftragsarbeit dargestellt. Hinter den Bemühungen der etablierten Medien, Fakten zu prüfen und Fake News zu benennen, steht laut Verfasser Micha „massive Propaganda“, die betrieben werde, „um Personen, sowie Personengruppen zu schützen“. KW
Wenn sich Qualitätsmedien wie Produkte bei Amazon bewerten ließen, die NachDenkSeiten würden pauschal für alle lediglich einen von fünf Sternen vergeben. In den Texten auf dem Webportal fehlt jedes Lob für kluge, spektakuläre, investigative Recherchen sowohl der öffentlich-rechtlichen Medien wie auch der etablierten Tageszeitungen und Magazine. Stattdessen ist die Rede von „Mainstream-Presse“, von „Propaganda-Sendungen“, einer bedrückenden „Selbstgleichschaltung unserer Medien“, „Prinzipienlosigkeit als Leitlinie“. Und Tagesschau und Tagesthemen würden „besonders üble Tendenzberichterstattung“ liefern.
So behauptete NachDenkSeiten-Herausgeber Albrecht Müller zum Beispiel Mitte Januar: „Nahezu alle Medien, die im Privatbesitz befindlichen wie auch die öffentlich-rechtlichen Medien, haben ihre wichtige Funktion als kritische Begleiter des Geschehens aufgegeben. Das ist eine wirkliche Gefahr für die demokratische Verfassung.“ Presse und Rundfunk seien „kritikunfähige, angepasste Lautsprecher des gängigen Denkens ohne Tiefgang, ohne eigene Meinung“. Begründet wird die harsche Kritik auf dem Portal aktuell vor allem mit der Corona-Berichterstattung der etablierten Medien. Sie sei manipulierend und dramatisiere die vom Virus ausgehenden Gefahren, dem Virologen Christian Drosten werde Raum gegeben für seine „‚Fake-Fakten‘“, heißt es zum Beispiel in einem Text von Stefan Tasler. Außenpolitisch – etwa, wenn es um das Verhältnis zu Russland geht – bezichtigen die NachDenkSeiten „transatlantische Redakteure“, in ihren Texten „Hetzpropaganda“ zu übernehmen. Der Begriff „Lügenpresse“ fällt nicht wörtlich. Aber indirekt pflegen die NachDenkSeiten das Narrativ und untergraben damit gezielt das Vertrauen in die deutsche Medienlandschaft. m.m.
Die Querdenken-Bewegung in ihrem Stammland Baden-Württemberg speist sich stark aus dem anthroposophischen Milieu und aus der Alternativ-Szene – das haben die Baseler Soziologen Nadine Frei und Oliver Nachtwey im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung erhoben. Die Wissenschaftler beobachten eine wachsende Radikalisierung der bürgerlichen Mitte durch die Querdenken-Bewegung, mit klaren Verbindungen zur extremen Rechten und der Bereitschaft zur Gewalt. „Grüne wegen Wählerschwund genervt“, kommentierte etwa Querdenken (711 – Stuttgart) aus der Heimatstadt von Gründer Michael Ballweg, „das übliche Bashing“.
Auf dem Telegram-Kanal der Gruppe, mit rund 58.000 Abonnentinnen ihrem wichtigsten Medium, ist im November bemerkenswert, worum es nicht geht: die Ausschreitungen bei Protesten gegen Corona-Maßnahmen in den Niederlanden und in Belgien etwa. Kaum thematisiert werden auch die zurückhaltende Impfbereitschaft der Deutschen und extrem steigende Inzidenzen. Stattdessen übt sich Querdenken in Selbstverteidigung und feiert eine angebliche internationale Vernetzung von Wien über Zagreb bis Melbourne und São Paulo. Und legt einen Rechenschaftsbericht über die Demonstrationen 2020 vor, die gut eine Million Euro gekostet hätten.
Der Mediziner und Verschwörungsideologe Bodo Schiffmann, eine wichtige Figur in der Coronaleugner-Szene, warnt auf seinem Telegram-Kanal Alles Ausser Mainstream mit 154.000 Abonnenten vor einer Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen. „Die Menschen sterben an den Impfungen“, sagt er in einem Video. Und: Deutschlands „totalitäre Regierung“ vollführe „einen Staatsstreich“. m.m.
Der österreichische Onlinekanal Auf1.TV versteht sich als „der erste wirklich zu 100% unabhängige und alternative TV-Sender im deutschsprachigen Raum“. Chefredakteur ist der u.a. durch seine Verbindungen in die rechtsextreme Szene bekannte Stefan Magnet. Thematisch stand bei Auf1 im April vor allem der Angriffskrieg auf die Ukraine im Vordergrund. In diesem Zusammenhang verspricht der Onlinesender: „Bei AUF1 finden Sie wie immer Standpunkte, Informationen und Interviews, die die Mainstream-Medien garantiert nicht zeigen“. So wird der Angriffskrieg zu einem angeblichen „Stellvertreterkrieg Russland – USA/NATO“ umgedeutet oder zum Ausdruck des „Kampfes der sogenannten alten gegen die neuen Werte“ und mit Verschwörungserzählungen vermischt. Demnach wurde zum Beispiel die gegenwärtige Energiekriese von den westlichen Staaten absichtlich verursacht. „Die transatlantischen Lobbys, die auf Grund einer perfiden Strategie Europa erschüttern wollen, seien anscheinend ein inoffizielles Bündnis mit linksgrünen Ideologen eingegangen, denen die klassischen, zuverlässigen Energieträger wie Gas, Öl und Kohle ein Dorn im Auge sind, weil sie an die pseudowissenschaftliche Theorie vom menschengemachten Klimawandel glauben“, fasst Auf1 ein Gespräch mit dem „Stromexperten“ Jürgen Meinhart zusammen.
Immer wieder interviewt Auf1 sogenannte Experten, die auch in verschwörungsgläubigen Kreisen populär sind. So sprach Stefan Magnet in einem Auf1-Spezial mit dem deutschen Publizisten Christoph Hörstel. Auf einer Moskaureise, von der er gerade zurückgekehrt sei, so Magnet in der Anmoderation, habe Hörstel sich einen eigenen Eindruck verschafft und „wichtige Persönlichkeiten“ getroffen. Das Interview ist geprägt von einem Putin-freundlichen Blick auf den Angriffskrieg sowie einer systematischen Täter-Opfer-Umkehr. Nicht die russische Regierung benennt Hörstel als Aggressor, sondern die westlichen Mächte: „Der Westen hat Putin provoziert, dieser musste zum Krieg schreiten“. Im weiteren Verlauf des Interviews bezeichnet Hörstel den Krieg in seiner Genese als „Schutzaktion“ und ist damit ganz auf Kreml-Linie. Den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nennt er eine „CIA-Puppe“ die die Eskalation des andauernden Krieges in der Ukraine für eine Wiederwahl brauche. KW