Behauptungen:
„Widerstand als Pflicht“
Von der Überzeugung Widerstand leisten zu müssen, da alle anderen Mittel ausgeschöpft seien
Die Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sind in den vergangenen Monaten zunehmend radikaler geworden: von unangemeldeten Aufmärschen, die als „Spaziergänge“ ausgeben werden, über das Durchbrechen von Polizeiketten, Flaschenwürfen bis zu Angriffen auf Polizistinnen oder Medienschaffende und Fackelaufzügen vor Privatwohnungen von Politikerinnen. Dabei dienen die Corona-Maßnahmen vielen lediglich als Anlass – häufig mobilisieren insbesondere im Osten Deutschlands Rechtsextreme für diese Aufmärsche, die ihr Ziel eines Systemumsturzes kaum verhehlen.
Die „alternativen“ Medien spielen sowohl bei der Mobilisierung als auch bei der Verbreitung der Botschaften und Behauptungen, die auf die Straße getragen werden, eine große Rolle. In den verschiedenen Kanälen werden eine Reihe von apokalyptischen Verschwörungserzählungen verbreitet. Sie zeichnen das Bild einer Realität, in der die Bevölkerung der angeblichen Willkür der Herrschenden (s. Behauptung „die da oben“) schutzlos ausgeliefert sei. Konkret geht es dabei oft um die Corona-Maßnahmen – von Versammlungsauflagen über eine Masken- oder Test- bis hin zur Impfpflicht –, die als Vorbote einer diktatorischen Machtübernahme stilisiert werden.
In dieser Logik heißt es häufig, die demokratischen Mittel seien entweder ausgereizt oder unnütz, weil „die da oben“ ohnehin ihrer eigenen Agenda folgten bzw. die Demokratie nur Fassade sei. Als legitime Antwort erscheinen dann ziviler Ungehorsam, Sabotage, Missachtung von Regeln und Auflagen oder sogar Gewalt. Verstärkt wird die suggerierte Ausweglosigkeit durch eine eigene Wirklichkeitsbildung: Da wird Deutschland zur „Corona-Diktatur“, die Ungeimpfte durch Corona-Maßnahmen „verfolgt“ oder stigmatisiere. Der Vergleich der 2G-Maßnahmen mit der Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus, wenn etwa auf Demonstrationen gelbe Davidsterne mit der Aufschrift „Ungeimpft“ getragen werden, enthalten antisemitische Züge und verharmlosen auf groteske Weise die Shoah. Regemäßig werden die Regierungsparteien als SED verunglimpft und verbreitet, die Covid-19-Impfungen seien ein tödliches „Experiment“. Hier ist ein Geschichtsrevisionismus allgegenwärtig, der durch Diktatur-Vergleiche demokratische Strukturen delegitimiert und gleichzeitig die NS-Diktatur verharmlost. All diese Argumentationen laufen auf einen Punkt zu: Denn wer überzeugt ist, unter einer Unrechtsherrschaft zu leben, muss sich wehren. In einer angeblichen Diktatur sind schließlich Notwehr und Gewalt das einzige und legitime Mittel. In dieser Logik wird auch der Widerstand zur Pflicht geadelt.
Hierbei gibt es regionale Unterschiede und solche in der Zusammensetzung der Demonstrierenden. Für die einen erfolgt der „Widerstand“ aus einem alternativen Lebensgefühl heraus, in dem die Nicht-Einmischung des Staates Voraussetzung für individuelle Freiheit ist. Diese Freiheit zur Selbstentfaltung wird oft absolut gesetzt und ist häufig gepaart mit einer aus dem Lot geratenen Herrschaftskritik, und stellt die Verantwortung für das Gemeinwesen zugunsten dieses Freiheitsbegriffs zurück. Andere hegen ein tiefes Misstrauen gegen jede Form der staatlichen Bevormundung und eine tiefsitzende Distanz zum demokratischen Gemeinwesen. Die Corona-Maßnahmen sind hier oft nur der Anlass, die grundsätzliche Ablehnung der politischen Institutionen zu demonstrieren. Im Osten Deutschlands zum Beispiel wird häufig Bezug genommen auf 1989. Dass Ungehorsam und Widerstand schon einmal eine Regierung stützen konnten, beflügelt die Phantasien vom erneuten Aufstand gegen „die da oben“.
In aufpeitschenden Texten der „alternativen“ Medien von Querdenken bis QAnon wird häufig direkt zum Widerstand aufgerufen – von der Mobilisierung zu unerlaubten „Spaziergängen“, dem Verweigern des Tragens einer Maske oder von Impfungen bis zur Aufforderung, sich für einen angeblich kommenden Bürgerkrieg oder gar Umsturz zu wappnen, wie sie bisher vor allem aus der radikalen Rechten bekannt ist. Radikale Inhalte und Verschwörungserzählungen verbreiten sich besonders gut auf sozialen Plattformen wie zum Beispiel Telegram. Hinzu kommt, dass die Leserinnen und Leser dieser Kanäle sich in Kommentaren und Gruppen gegenseitig weiter bestärken – auch in der Überzeugung, ein womöglich gewalttätiger Widerstand sei das Gebot der Stunde.
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