Am Mar­xis­mus ist noch niemand gestorben“

Foto: Alex­an­der Schank

Ist der Mar­xis­mus schuld an den Ver­bre­chen, die in seinem Namen began­gen wurden? Nicht nur über diese Frage gingen die Mei­nun­gen aus­ein­an­der. Bei der Podi­ums­dis­kus­sion des Pro­jekts „Geg­ner­ana­lyse“ wurde über Frei­heit, Gleich­heit und das Ver­hält­nis der Linken zur Demo­kra­tie debattiert.

Anti­li­be­ra­les und anti­de­mo­kra­ti­sches Denken gibt es nicht nur im rechten poli­ti­schen Spek­trum. Aus diesem Grund lud das Projekt „Geg­ner­ana­lyse“ des Zen­trums Libe­rale Moderne am 05.09.2019 zu einer Podi­ums­dis­kus­sion ins Magnus-Haus Berlin, um mit Barbara Zehn­pfen­nig, Pro­fes­so­rin für Poli­tik­wis­sen­schaft an der Uni Passau, und dem His­to­ri­ker und Publi­zis­ten Gerd Koenen über das ambi­va­lente Ver­hält­nis der Linken zur Demo­kra­tie zu spre­chen. Mode­riert wurde die Ver­an­stal­tung vom Geschäfts­füh­rer des Zen­trums Libe­rale Moderne, Ralf Fücks, der den Abend vor rund 60 inter­es­sier­ten Gästen eröffnete.

Fücks erin­nerte an die Viel­falt linker Strö­mun­gen von der Sozi­al­de­mo­kra­tie bis zu den diver­sen kom­mu­nis­ti­schen Par­teien. Ein zen­tra­les Unter­schei­dungs­merk­mal bilde ihre Haltung zur Demo­kra­tie: Während die Reform-Sozia­lis­ten sich zumeist als zuver­läs­sige Ver­tei­di­ger der demo­kra­ti­schen Repu­blik erwie­sen hätten, sei sie von der revo­lu­tio­nä­ren Linken als bloße Fassade für die Herr­schaft des Kapi­tals ange­grif­fen worden. Selbst eine Licht­ge­stalt wie Rosa Luxem­burg sei 1918 gegen die „bür­ger­li­che Schein­de­mo­kra­tie“ Sturm gelau­fen und habe zum gewalt­sa­men Umsturz auf­ge­ru­fen. Auch in der revo­lu­tio­nä­ren 68er-Linken sei von Reform­so­zia­lis­ten wie Kautsky und Bern­stein nur ver­ächt­lich gespro­chen worden.

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Am Mar­xis­mus ist noch niemand gestorben“

Gleich zu Beginn for­mu­lierte Gerd Koenen eine These, die im Laufe des Abends noch für kon­tro­verse Dis­kus­sio­nen sorgen sollte: „Am Mar­xis­mus ist noch niemand gestor­ben.“ Ein bloßes Ideen­sys­tem wie der Mar­xis­mus, das als solches post mortem von Fried­rich Engels erfun­den worden sei, könne nie­man­den töten. Ideen zeugten sich nicht von selbst fort, sondern würden bestän­dig von den jewei­li­gen Akteu­ren adap­tiert und neu geformt. Man könne Marx nicht dafür ver­ant­wort­lich machen, was später unter der Flagge des Mar­xis­mus ange­rich­tet wurde. Ihm habe die Vision einer Gesell­schaft vor­ge­schwebt, in der „die freie Ent­wick­lung eines jeden die Bedin­gung für die freie Ent­wick­lung aller“ sei, wie es im Kom­mu­nis­ti­schen Mani­fest heißt. „Und davon sind wir ganz weit ent­fernt“, sagte Koenen.

Das erste Resul­tat des Mar­xis­mus sei die Sozi­al­de­mo­kra­tie gewesen, die in der Wei­ma­rer Repu­blik ein Boll­werk der Demo­kra­tie gewesen und „empha­tisch für die libe­rale Moderne ein­ge­tre­ten“ sei. Im Osten sei dann die „Rand­strö­mung des Bol­sche­wis­mus“ ent­stan­den, ein „reak­tio­nä­res Projekt“, das ver­sucht habe, den Welt­krieg in einen Welt­bür­ger­krieg umzu­wan­deln. Ebenso wie der Mar­xis­mus nicht von Marx selbst begrün­det worden sei, sei auch der Mar­xis­mus-Leni­nis­mus nach Lenins Tod von Stalin geschaf­fen worden, nachdem er „alle emi­nen­ten Kom­mu­nis­ten Russ­lands erschos­sen hatte“.

Der Kom­mu­nis­mus sei für Dik­ta­to­ren wie Stalin und Mao „eher Mittel als Ziel“ gewesen. Es sei ihnen darum gegan­gen, auf das Denken und die Gefühle der Men­schen zuzu­grei­fen. Inso­fern sei der Kom­mu­nis­mus des 20. Jahr­hun­derts durch und durch tota­li­tär gewesen – mehr noch als der Natio­nal­so­zia­lis­mus, der auf bereits bestehende gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren auf­bauen konnte.

Die Gewalt ist im Mar­xis­mus angelegt“

Barbara Zehn­pfen­nig wies darauf hin, dass das Spek­trum der Linken sehr breit gefä­chert sei. Was also ist über­haupt das genuin linke Projekt? Zum einen der Glaube an die Gleich­heit der Men­schen, so Zehn­pfen­nig. Ihre reale Ungleich­heit werde mit unge­rech­ten öko­no­mi­schen Ver­hält­nis­sen erklärt. Daraus folge die Vor­stel­lung, dass durch die Ände­rung der öko­no­mi­schen Grund­la­gen die Gleich­heit her­ge­stellt werden könne und müsse.

Während gemä­ßigte Linke ihren Frieden mit der reprä­sen­ta­ti­ven Demo­kra­tie geschlos­sen hätten, sähen Links­extreme im Staat nicht mehr als den „Garan­ten der Ungleich­heit“, der die unge­rech­ten öko­no­mi­schen Ver­hält­nisse auf­recht­erhalte. Die Demo­kra­tie ver­schleiere diese Funk­tion des Staates und sei deshalb beson­ders bekämp­fens­wert. Inso­fern seien poli­ti­sche Ideen auch nicht unschul­dig, sie hätten Aus­wir­kun­gen auf die Rea­li­tät. „Die Gewalt­tä­tig­keit ist im Mar­xis­mus ange­legt“, meinte Zehnpfennig.

Trotz ihrer ursprüng­lich anti-staat­li­chen Haltung seien linke Posi­tio­nen oft mit einem starken Eta­tis­mus aus­ge­stat­tet. Während Refor­mis­ten danach trach­te­ten, sich des Staates zu ermäch­ti­gen, um durch Umver­tei­lung Gleich­heit her­zu­stel­len, sähen Kom­mu­nis­ten die Not­wen­dig­keit, nach der Revo­lu­tion alle Macht in den Händen einer revo­lu­tio­nä­ren Avant­garde zu kon­zen­trie­ren. Dass diese Macht frei­wil­lig wieder abge­ge­ben werde, sei völlig unrea­lis­tisch. Da laut Marx das Sein das Bewusst­sein bestimme, das Bewusst­sein aber dem Sein hin­ter­her­hänge, müssten die kom­mu­nis­ti­schen Kader die Men­schen zur rich­ti­gen Meinung zwingen. Darin sei der repres­sive Cha­rak­ter sozia­lis­ti­scher Regimes schon angelegt.

Frei­heit vs. Gleichheit?

In der mar­xis­ti­schen Tra­di­tion, so Ralf Fücks, sei der Staat als „geschäfts­füh­ren­der Aus­schuss der Bour­geoi­sie“ betrach­tet worden. In einer solchen For­mu­lie­rung zeige sich die Gering­schät­zung gegen­über der bür­ger­li­chen Demo­kra­tie, wenn diese als etwas „Unei­gent­li­ches“ dar­ge­stellt werde. „Über die längste Zeit des 19. Jahr­hun­derts war der Staat nun einmal ein Aus­schuss der herr­schen­den Klasse“, ent­geg­nete Koenen. Aber weshalb ging dann die revo­lu­tio­näre Linke so vehe­ment gegen die Grün­dung der Wei­ma­rer Repu­blik vor? Zehn­pfen­nig meinte, die Bür­ger­rechte seien von Linken als bloße For­ma­li­tät inter­pre­tiert worden und hätten deshalb nicht als demo­kra­tisch akzep­tiert werden können, solange der Kapi­ta­lis­mus besteht.

Wann schlägt Gleich­heit in Gleich­schal­tung um?“, wollte Fücks von den Podi­ums­gäs­ten wissen. Die sta­li­nis­ti­schen Säu­be­run­gen hätten eine Eli­mi­nie­rung jeg­li­cher sozia­len und poli­ti­schen Dif­fe­renz zum Ziel gehabt. Gerd Koenen sagte, die Bol­sche­wiki hätten die moderne, viel­fäl­tig aus­dif­fe­ren­zierte Gesell­schaft ange­grif­fen und die radi­kale Ein­eb­nung for­ciert, um eine hier­ar­chisch geglie­derte Gesell­schafts­for­ma­tion zu errich­ten. Die Sowjet­union sei kei­nes­wegs eine ega­li­täre Gesell­schaft gewesen.

Aber folgt bereits aus dem Primat der Gleich­heit die Ein­eb­nung jeg­li­cher Dif­fe­renz? Es komme darauf an, meinte Zehn­pfen­nig. Auch Libe­rale ver­folg­ten das Ideal der Gleich­heit. Die ent­schei­dende Frage sei, auf welche Grund­lage sich die Idee der Gleich­heit aller bezieht. Die Ver­nunft­be­ga­bung habe dem Men­schen Würde ver­lie­hen und die jüdisch-christ­li­che Tra­di­tion habe den Mensch vor Gott gleich gemacht. Doch immer dann, wenn es nicht um die Gleich­heit vor Gott, sondern unter­ein­an­der ging, sei es radikal geworden.

Der Libe­ra­lis­mus, argu­men­tierte Fücks, setze auf die Wech­sel­wir­kung von öko­no­mi­scher und poli­ti­scher Frei­heit, während der Sozia­lis­mus die öko­no­mi­sche Frei­heit als Bedro­hung ansehe. Er sei ein Anhän­ger der Markt­wirt­schaft, betonte Koenen. Aber im markt­wirt­schaft­li­chen Denken gelte es, Mono­pole zu ver­hin­dern – heute lebten wir jedoch in einer „ultra-mono­po­li­ti­schen Gesell­schaft“. So sei im digi­ta­len Bereich die gesamte Welt in den Händen von vier, fünf Tech-Kon­zer­nen. Wenn das mas­sen­haft ver­füg­bare gesell­schaft­li­che Kapital sich in den Händen einer kleinen Schicht kon­zen­triere, sei das viel mehr als nur soziale Ungleich­heit, so Koenen. Dann führe die Kon­zen­tra­tion von Reich­tum zu einer Ungleich­ver­tei­lung poli­ti­scher Macht.

Barbara Zehn­pfen­nig beschrieb das Ver­hält­nis zwi­schen poli­ti­scher und öko­no­mi­scher Macht dagegen als ein Kräf­te­rin­gen. Selbst­ver­ständ­lich, so Zehn­pfen­nig, ent­stehe aus wirt­schaft­li­cher Macht auch poli­ti­sche Macht – und diese müsse ein­ge­dämmt werden. Aus links­ra­di­ka­ler Per­spek­tive gehe aber alle Macht von der Öko­no­mie aus, Poli­ti­ker würden zu „Mario­net­ten des Kapi­tals“ degradiert.

In seinem Schluss­wort resü­mierte Ralf Fücks, dass Men­schen­rechte, Demo­kra­tie und Rechts­staat kein bloßes Mittel zur Ver­wirk­li­chung poli­ti­scher Zwecke sind – sie seien die Quint­essenz aus der tota­li­tä­ren Erfah­rung des 20. Jahr­hun­derts. Aller­dings sei Demo­kra­tie ein niemals abge­schlos­se­ner Zustand: „Es bleibt eine nie ganz auf­zu­lö­sende Span­nung zwi­schen Frei­heit und Gleich­heit, die immer wieder aufs Neue aus­ta­riert werden muss.“


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