Thomas Mann
Vom unpolitischen Betrachter zum „Wanderredner der Demokratie“
von Irmela von der Lühe
1. Deutsche Kultur vs. westliche Zivilisation
Die Literaten werden schimpfen, das Publikum werde sich langweilen, den Konservativen werde das Werk zu literarisch und für die Liberalen werde es ein reaktionärer Greuel sein. So hatte Thomas Mann schon zwei Jahre vor Fertigstellung der 1918 erschienenen Betrachtungen eines Unpolitischen prophezeit. Gern werden Autor und Werk der später so genannten „Konservativen Revolution“ zugerechnet, und tatsächlich hat Thomas Mann mit diesem 600-seitigen literarisch-politischen Manifest zunächst für entschiedenen Applaus gesorgt; binnen weniger Jahre sollte sich das freilich grundlegend ändern, denn mit der Rede von Deutscher Republik (1922) wurde er zum entschiedenen Befürworter der einst gescholtenen Demokratie. Dieser gelegentlich sogar als Konversion karikierte Gesinnungswandel stimuliert bis heute die Vorbehalte gegenüber dem „unwissenden Magier“.
Seit 1915 entstanden, sind die Betrachtungen ein Dokument entschiedener und argumentationsfreudiger Kriegsbegeisterung; zugleich das glühende Bekenntnis zu einem Deutschtum mit Alleinstellungsmerkmal unter allen Nationen. In Thomas Manns Sicht befindet sich das Deutsche Reich, das wesentlich deutscher Geist ist, in einer gleichsam natürlichen Frontstellung gegen die westlichen Demokratien. Denn das Wesen des/der Deutschen liege in seiner/ihrer romantisch-unpolitischen Geistigkeit, in seiner/ihrer überindividuellen, kollektiven Seelentiefe, die sich insbesondere musikalisch-künstlerisch ausdrücke. All dies schließt ein – so erläutert Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen, aber auch schon in früheren Essays – , dass Deutschsein als grundsätzlich anti- oder metapolitisch gedacht werden muss. Folgerichtig gilt den Idealen der Zivilisation, der Aufklärung und der Rationalität, also den Ideen von 1789, die geballte Verachtung. Ebenso wortreich wie eigenwillig, also auf hohem rhetorischem und metaphorischem Niveau zelebriert der unpolitische Betrachter seine elitär hochgestimmte Attacke gegen die falschen Werte des Westens. In der Vorrede zu den Betrachtungenheißt es denn auch programmatisch:
Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.“ (1)
So forciert diese antithetische Reihung erscheinen mag, in ihrer polemischen Abwertung des „Stimmrechts“ als pars pro toto für Demokratie, ihrer Entgegensetzung von Freiheit und Gesellschaft, von Kultur und Zivilisation und schließlich von Kunst und Literatur hat sie im essayistischen Werk Thomas Manns doch Tradition. Bereits in einem Fragment gebliebenen Essay aus dem Jahre 1909 (Geist und Kunst) geht es um den Gegensatz von Kultur und Zivilisation, der als Erscheinungsform des „ewigen Widerspiels von Geist und Natur“ verstanden wird. Daraus folgt:
Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt, und sei das alles auch noch so abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar […]. Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung, – Geist.“ (2)
2. Der Krieg als Bedingung für Kultur
Auf die Plausibilität solcher willkürlich anmutenden Gegensatzbildungen kommt es hier gar nicht an, sondern auf ihre ideen- und diskursgeschichtlichen Implikationen. Denn wo Kultur Ausdruck von „Geschlossenheit, Stil, Form und Haltung“ ist und sich durchaus „abenteuerlich(en), „skurril(en)“ oder gar „blutig(en) und furchtbar(en)“ Voraussetzungen und Äußerungsformen verdanken kann, da ist der Schritt nicht weit, den Thomas Mann in den Kriegsessays und passagenweise in den Betrachtungen auch gegangen ist; nämlich den Krieg als Ausdruck und nicht als Zerstörung; nicht als Untergang, sondern als Bedingung von Kultur zu verstehen. Wie die Kultur, so steht auch der Krieg für die Elementar- und Grundmächte des Lebens. Die Ideen der Französischen Revolution hingegen waren ein Angriff auf diese Elementar-und Grundmächte, der moderne Sündenfall. Aus dieser Perspektive erscheint der Erste Weltkrieg als überfällige Restitution einer elementaren, natürlichen Ordnung unter den Völkern. Die „Ideen von 1914“ und das „Augusterlebnis“ des Jahres 1914 liefern somit die geschichtspolitisch überfällige Rücknahme der „Ideen von 1789“ und des „Sturms auf die Bastille“.
Für den Thomas Mann der Kriegsessays (Gute Feldpost, 1914; Gedanken im Kriege, 1914; Friedrich und die Große Koalition, 1915) und der Betrachtungen geht es mithin um nicht weniger als um einen Entscheidungskampf zwischen der metaphysischen deutschen Nation und dem ihr wesensfremden Westen. Eben dieser mythosvergessene Westen hat es auf das Reich der Mitte, auf das romantisch-unpolitische Deutschland abgesehen. Der aus militärisch-politischen Kontexten gut bekannte Topos, das Deutsche Reich sei in diesen Krieg gezwungen worden und habe – „eingekreist“ und bedroht von feindlichen Mächten – nur den Weg in den Angriff wählen können, dieser Gedanke wird in den Betrachtungen ideengeschichtlich und kulturtheoretisch ausformuliert. Ihr Bellizismus verdankt sich also einer kultur-und völkerpsychologischen Dichotomie mit langer Tradition; nicht aber der Huldigung eines soldatischen Heroismus, wie man sie aus der Kriegsessayistik Ernst Jüngers kennt.
Die zentralen Gedanken der Betrachtungen hat Thomas Mann also bereits in den vorausgegangenen Kriegsessays geliefert; zugleich versteht er seine Beiträge zu den „Ideen von 1914“ als einen Gedankendienst mit der Waffe (3), mit dem er schriftstellerisch zu kompensieren versucht, dass er als kriegsuntauglich eingestuft worden war. Schon in dem im November 1914 erschienenen Essay Gedanken im Kriege betont Thomas Mann,
Krieg bedeute Reinigung, Heilung und ungeheure Hoffnung. Er sei dem deutschen Kaiserreich überdies aufgezwungen worden, so dass es mittlerweile nur einen wirklich ehrenvollen Platz geben könne: es ist der vor dem Feind. (4)
Dem korrespondiert die archaisierend-reaktionäre Vorstellung, der Krieg liefere den schwärmerischen Zusammenschluss der Nation und werde nicht zuletzt gegen die von den Westmächten intendierte Zwangszivilisierung Deutschlands geführt, das auf diese Weise nicht nur die eigene, sondern jegliche Kultur verteidige; sich damit männlich gegen ein rachsüchtiges und bloße Damenrecht ein Anspruch nehmendes Frankreich zur Wehr setze. In ihrer extremen kulturgeschichtlichen und geschlechterpolitischen Antithetik liefern also sowohl die Kriegs-Essays als auch viele Passagen aus den Betrachtungen Beiträge zu der These, Krieg sei gerade nicht das Gegenteil, das Ende, der Untergang der Kultur, sondern ihre Bedingung.
Für die demokratiefeindlichen, antipolitischen Grundideen der Betrachtungen firmiert – darauf hat Thomas Mann selbst hingewiesen – Friedrich Nietzsche als philosophische Autorität (5); freilich spitzt Thomas Mann aus aktuellem Anlass kräftig zu. Und doch ist die voluminöse literarisch-intellektuelle Spurensuche, die in den Betrachtungen angestrengt wird, im Grunde kein Beitrag zur Ästhetisierung oder gar Erotisierung des Krieges, wie man sie bei Ernst Jünger findet. Vielmehr liefert Thomas Mann im Prinzip und auf der Grundlage eines immensen Lektürepensums (auf 600 Seiten finden sich ca. 4.000 Zitate; kein anderes Werk Thomas Manns arbeitet in diesem Umfang mit Fremdtexten) „Betrachtungen eines Künstlers“. Als Künstlerwerk, als Werk eines Künstlertums (6) und damit als Zeugnis einer skrupulösen Durchdringung von politisch-weltanschaulichen, geschichts- und kulturphilosophischen Positionen wie sie seit Nietzsche in der Luft lagen, hat Thomas Mann die Betrachtungen verstanden.
3. Vermintes Terrain: der Bruderkonflikt
Das Ich dieser Betrachtungen ist denn auch ein höchst instabiles; fast jede polemisch-programmatische Aussage findet ihre Widerlegung und Korrektur durch eine andere. Als Rollenprosa, als rhetorisch-metaphorisches Experiment in Sachen Politik dürfen die Betrachtungen durchaus gelesen werden und zugleich als literarische Erkundungsreise auf einem von familiären Rivalitäten und geschichtspolitischen Antagonismen verminten Felde. Denn die gesamte polemisch-ästhetische Anstrengung der Betrachtungen konzentriert sich in der Dauer-Attacke gegen einen Künstler-Typus, der in Thomas Manns Augen die Kunst geradezu verfehlt. Gemeint ist der Zivilisationsliterat, der Schriftsteller als Menschheitsschmeichler, der fortschrittsgläubige Aufklärer und Moralist. Repräsentant dieses feindlichen Antipoden ist der eigene Bruder, Heinrich Mann; ein Pazifist und Humanist, der in der Sicht Thomas Manns systematisch die Politisierung, Literarisierung, Intellektualisierung, Radikalisierung Deutschlands betreibt; auf einen Grundnenner gebracht:
Indem der Zivilisationsliterat sich für die Demokratisierung engagiert, arbeite er an der Entdeutschung Deutschlands; eben dagegen begehrt der unpolitische Betrachter auf:
„An all diesem Unfug sollte ich teilhaben?“ (7)
Um die abstrusen Positionen, die kompositorischen Besonderheiten und das schriftstellerische Anliegen der Betrachtungen zu verstehen, muss man sich Hintergründe und Heftigkeit des Bruderkonflikts vor Augen führen. Es ist ein Konflikt auf allen Ebenen: des Lebensentwurfs, des schriftstellerischen Selbstverständnisses, des sozialen und kulturellen Habitus. Die existenzielle Reichweite dieses Konflikts findet sich denn auch bereits in den Buddenbrooks in eine nachgerade klassische Formulierung gebracht. Im heftigen Zerwürfnis zwischen den Brüdern Thomas und Christian Buddenbrook schleudert der ältere, pflichtbewusst und pedantisch seiner Arbeit nachgehende Firmenchef seinem jüngeren Bruder und Bohémien entgegen:
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„Ich bin geworden wie ich bin, weil ich nicht werden wollte wie du.“
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Auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte Heinrich Mann mit seinem berühmten Zola-Essay reagiert und für eine radikal pazifistische Verantwortung des Intellektuellen plädiert. Damit aber erlaubte der Krieg Thomas Mann den Ausbruch des offenen Bruder-Hasses, der bisher hatte unter der familiären Decke gehalten werden können. Dem frankophilen, sozialkritischen und fortschrittsgläubigen Schriftsteller in Gestalt des eigenen Bruders, des Zivilisationsliteraten, setzt Thomas Mann in den Betrachtungen einen national denkenden und in den Traditionen romantisch-deutscher Geistigkeit wandelnden Dichter entgegen, der im Zeichen des Krieges endlich abzustreifen vermag, was seinen persönlichen und seinen künstlerischen Selbstentwurf so sehr beschwert. Die Angst vor künstlerischer Verödung, vor dem Verlust von Kreativität und Originalität und die Sehnsucht nach einer repräsentativen Existenz und Anerkennung als Nationaldichter. Hinzu kommt die Fixierung an ein Pflichtethos, das gerade den Künstler zu Erfolg und Anerkennung verdammt; gerade weil er als Künstler im Selbst – und im Fremdblick als „Zigeuner im grünen Wagen“ , also als unzuverlässige, vagabundierende Gestalt firmiert, kommt alles darauf an, einer breiten Öffentlichkeit als Repräsentant zu dienen und so das Stigma loszuwerden.
Krieg bedeute Reinigung, Heilung und ungeheure Hoffnung. Er sei dem deutschen Kaiserreich überdies aufgezwungen worden, so dass es mittlerweile nur einen wirklich ehrenvollen Platz geben könne: es ist der vor dem Feind. (4)
4. Widerlegung und Versöhnung
Und doch hat Thomas Mann mit den Betrachtungenden selbstverordneten Anspruch nicht einlösen können. Im Gegenteil: Zur Paradoxie dieses höchst problematischen Groß-Essays gehört, dass er bei seinem Erscheinen im Oktober 1918 durch die Geschichte widerlegt war. Der so pathetisch-euphemistisch begrüßte Krieg hatte Materialschlachten und Massensterben in einem bisher nicht gekannten Ausmaß gebracht; das Wilhelminische Kaiserreich war untergegangen, die so heftig gescholtene Republik als neue Staatsform für das Deutsche Reich eingeführt worden. Und überdies: Derjenige Autor, den die Betrachtungen als Zivilisationsliteraten aufs heftigste bekämpft hatten, Heinrich Mann, wurde mit seinem – vor Ausbruch des Krieges abgeschlossenen, aber während des Krieges verbotenen – und ebenfalls 1918 erschienenem großen Roman Der Untertan zum Autor der Stunde.
Hatte Thomas Mann seinem Bruder noch „ruchlosen Ästhetizismus“ vorgeworfen, so musste er nun z. B. von Kurt Tucholsky erfahren, der Untertan liefere „das Herbarium des deutschen Mannes“.
Zwischen den Brüdern sollte es im Laufe der nächsten Jahre zu einer Aussöhnung und auch zu einer Annäherung in den politisch-weltanschaulichen Positionen kommen. Die reale politische Entwicklung, die Revolutionsereignisse im Winter 1918/19, die politischen Morde – an Kurt Eisner, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Matthias Erzberger, schließlich die Ermordung Walter Rathenaus (am 24. Juni 1922) – dürften einen entscheidenden Anteil daran haben, dass Thomas Mann von den Betrachtungenabrückte, ja zu einem der wichtigsten und seit 1933 dann auch einflussreichsten Repräsentanten einer demokratischen deutschen Tradition wurde.
Auch wenn er selbst die Betrachtungenniemals widerrufen hat und die Entschärfungen der zweiten Auflage (1922) das argumentative Zentrum nicht berühren, so ist doch unübersehbar, dass Thomas Manns im gleichen Jahre 1922 gehaltene Rede Von Deutscher Republikein Bekenntnis zu Demokratie und Humanität enthält, das vielen Passagen der Betrachtungennach Geist und Buchstabe widerspricht. Welche Gründe es für diese Revokationen gab, ob sie tatsächlich vorliegen und ob der seit 1922 mit wachsender Entschlossenheit gegen Nationalsozialismus und Faschismus politisch-polemisch sich positionierende Autor der Buddenbrooks (1901) und des Zauberberg (1924) nicht doch ein „unpolitischer Betrachter“ blieb, das ist aus guten Gründen und mit sachhaltigen Argumenten immer wieder gefragt worden. Aber vieles spricht dafür, dass Thomas Mann mit Abschluss der Betrachtungendie in ihnen probeweise bezogenen Positionen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit als überholt, als durch Zeit und Geschichte auf blutige Weise verfehlt ansehen musste und auch angesehen hat.
5. Hintergrund: Thomas Manns Lebensgeschichte
Ein kurzer Blick auf Herkunft, Lebensgeschichte und künstlerischen Werdegang Thomas Manns kann dies verdeutlichen.
Der 1875 in Lübeck als zweiter Sohn einer altehrwürdigen hanseatischen Kaufmannsfamilie geborene Thomas Mann interessierte sich für die geschäftlichen Erfordernisse des väterlichen Unternehmens rein gar nicht; die Schule verlässt er mit der mittleren Reife, alle Leidenschaften und Interessen gelten den Künsten, der Literatur, der Musik Richard Wagners, der Philosophie Nietzsches und Schopenhauers. Aber das protestantische Arbeits‑, Pflicht- und Erfolgsethos wird im Raum der Künste gerade nicht ausgehebelt, die Kunst liefert gerade nicht den Freibrief für eine antibürgerliche Bohème-Existenz. Ganz im Gegenteil: den jungen Autor und auch noch den späten Thomas Mann treibt nichts so um, nichts stimuliert sein literarisches Schaffen so dauerhaft und variationsreich wie die Antithetik von Künstler- und Bürgertum. Aus der Perspektive geordneter bürgerlicher Existenz stehen Kunst und Künstler unter einem unaufhebbaren Vorbehalt: sich einer unordentlichen, zügellosen, von Armut und Elend bedrohten Existenz verschrieben zu haben. Allenfalls der Erfolg in Gestalt von Auflagenzahlen, repräsentativem Lebensstil und nationaler Anerkennung vermögen diesen Vorbehalt zu entkräften.
Auf der anderen Seite verlangen die Gesetze der Kunst, „daß man gestorben sein muß, um ganz ein Schaffender zu sein“. Was Thomas Mann seinen Helden Tonio Kröger (1903) ausrufen lässt, radikalisiert den Antagonismus zwischen Künstler und Bürger zum Antagonismus zwischen Tod und Leben. Die Bereitschaft, der Kunst und der künstlerischen Existenz das Opfer des Lebens zu bringen und in dieser ästhetisch gebotenen „Sympathie mit dem Tode“ die Garantie für künstlerische Genialität zu sehen, ist ein Grundmotiv im literarischen Werk Thomas Manns vor und auch nach dem Ersten Weltkrieg. Freilich werden sich die Zweifel an einer mit Lebensverzicht und Weltlosigkeit erkauften Künstlerexistenz sowohl literarisch als auch essayistisch radikalisieren; bereits im Zauberberg führen sie zu jener Absage an Ästhetizismus und Todeserotik, die in den Betrachtungen eines Unpolitischen noch zum unbefragten, freilich durchgängig als Rollenprosa vorgetragenen Grundbestand gehört hatten.
Die tatsächlichen Schrecken des Krieges, das millionenfache Sterben auf Schlachtfeldern und in Schützengräben, der Untergang des Kaiserreichs und die politische Neuordnung nach dem Versailler Vertrag, diese und weitere realpolitische Erfahrungen räumen mit dem Ästhetizismus der Vorkriegszeit ebenso gründlich auf wie mit den nationalchauvinistischen Visionen eines romantisch-unpolitischen Deutschtums. Nicht erst aus der Rückschau, sondern bereits am Kompositionsprinzip der Betrachtungen ist erkennbar, dass Thomas Mann seinen romantisch-apolitischen Vorstellungen von einem Deutschen Reich des Geistes und der Kultur nicht lange würde anhängen können. Stattdessen veranlassen ihn Zeitgeschichte und Tagespolitik zu einem Versuch der Integration von deutschem Geist und demokratischer Tradition.
6. Eine deutsche
humanistisch-demokratische Kultur
Dafür steht die Rede von Deutscher Republik, am 15. Oktober 1922 im Beethovensaal der Berliner Philharmonie gehalten: zum 60. Geburtstag Gerhart Hauptmanns und zugleich in direkter Bezugnahme auf die Ermordung Walter Rathenaus. Mit ihr macht Thomas Mann den durchaus eigenwilligen, aber wirkungsvollen Versuch, romantische Traditionen für eine deutsche Menschlichkeit und gegen den obrigkeitsstaatlichen Wilhelminismus in Anspruch zu nehmen.
Mit Novalis und Walt Whitman, mit Goethe und Nietzsche argumentiert Thomas Mann seit Beginn der Zwanziger Jahre für eine deutsche humanistisch-demokratische Kultur, zu deren Verteidigung er schließlich sogar zum Bündnis zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie aufruft.
Vom Wunsch nach Synthese, von Versuchen der Überwindung antithetischer Konstellationen, wie sie die Betrachtungen bestimmen, zeugen zahllose Essays Thomas Manns in der Weimarer Republik. Immer geht es dabei darum, das „Neue“ der Republik als ein durch die Umstände von Zeit und Geschichte aktualisiertes und erneuertes Altes zu kennzeichnen und zugleich der modernetypischen Usurpation des Konservativen durch völkisch-reaktionäre Kräfte entgegen zu treten. So muss auch der Gedankengang in jenem Essay verstanden werden, mit dem Thomas Mann als „Erfinder“ des Begriffs „Konservative Revolution“ gelten kann.
1921 hatte er in der Einleitung zu einem Heft der „Süddeutschen Monatshefte“ über Besonderheiten und Tendenzen der russischen Literatur darauf verwiesen, dass der Nietzsche der „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ im Grunde nichts anderes praktiziere als „konservative Revolution“. An einer Synthese „von Aufklärung und Glauben, von Freiheit und Gebundenheit, von Geist und Fleisch, ‚Gott‘ und ‚Welt‘“ arbeite Nietzsche – und künstlerisch bedeute dies nichts anderes als die Synthese „von Sinnlichkeit und Kritizismus, politisch ausgedrückt, die von Konservatismus und Revolution“. Die Überwindung von Dichotomien, die Herstellung einer gedanklichen, künstlerischen und schließlich auch einer politischen Welt aus „Romantik“ und „Humanität“, aus „Volkstümlichkeit“ und „hoher Kunst“, aus nationalen und universalistischen Elementen sieht Thomas Mann als Chance und Aufgabe der Republik.
Das sind zweifellos noch immer Überlegungen eines Künstlers, die sich freilich seit 1922 und bis zu seinem Tode (1955) in einer entschieden anti-völkischen, antifaschistischen Haltung niederschlagen. Und die ihre ebenso folgenreiche wie aktuelle Formulierung in jenem öffentlichen Brief vom Januar 1936 finden sollten, der ihm noch im gleichen Jahr die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft und der Ehrendoktorwürde der Universität Bonn eintrug. Dem nationalsozialistischen Régime hatte er entgegen geschleudert:
Zwischen 1922 und 1933 hat Thomas Mann 375 publizistische Beiträge tages- und allgemeinpolitischen Zuschnitts verfasst (8), darunter 1925 den Aufsatz Deutschland und die Demokratie, in dem er den Faschismus als „obskurantistischen Rückfall“, als „romantische Barbarei“ bezeichnet und ergänzt, der Dienst am Leben sei heute nichts anderes als Dienst an der Demokratie. (9) 1932 wird Thomas Mann im Nationalsozialismus nichts als ein „trübes Amalgam“ sehen, eine „Elendsmischung aus vermufften Seelentümern und Massenklamauk, vor der germanistische Oberlehrer als vor einer ‚Volksbewegung‘ auf dem Bauch liegen, während sie ein Volksbetrug und Jugendverderb ohnegleichen ist, der sich umlügt in Revolution“. Mit scharfsichtigen Formulierungen, bissiger Treffsicherheit und höhnischer Präzision hat Thomas Mann auf den Aufstieg und die Wahlerfolge der NSDAP reagiert und dabei ideengeschichtliche Traditionen für eine demokratisch-humane Ordnung gegen die drohende Gefahr aufgerufen, die er in den Betrachtungen noch ganz anders genutzt hatte.
7. „Wanderredner der Demokratie“
Heftige Kritik konnte nicht ausbleiben, und ihr antwortet Thomas Mann unter der Überschrift Die Wiedergeburt der Anständigkeit mit einer Argumentation, die ihm auch im Exil wiederbegegnen wird; nämlich mit dem Nachweis, dass von nationalsozialistischer, von reaktionärer Seite die Ideen des Konservatismus, ja auch der Konservativen Revolution usurpiert und missbraucht würden. (10)
Einem „Zynismus des Untergangs“ huldige, wer „eine Bewegung, die in der Sphäre reiner Erkenntnis echte Revolution bedeutet, weil sie (...) einem vertieften Wissen vom Menschen und also der Wahrheit dient, (...) auf Gebiete übertrage (…), wo ihre tendenziöse Propagierung und Ausbeutung zum bösartigen Mißbrauch wird: auf das soziale und politische Gebiet“.
Thomas Mann bilanziert:
Wie Nietzsche, Hamsun, George, Klages, um nur ein paar große Feinde des ‚Geistes’ und der ‚Zivilisation’ zu nennen, – wie sie aussehen, wenn sie, zu ihrem Erstaunen, auf dem Wege über konservative Monatsschriften ins Feuilleton der rüstungs-industriellen Presse gelangt sind, das wissen wir: nach letzter politisch-kultureller Reaktion, nach Volksverdummung, Volksverhetzung und Volksunterdrückung, nach Lüge, Mord und Krieg“. (11)
Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass Thomas Manns Überlegungen zu Begriff und Konzept einer „Konservativen Revolution“ eher Verwirrung als Klarheit bringen. Deutlich ist indes ein Anliegen, das den Autor der Betrachtungen zum Apologeten von Aufklärung und Menschenrechten gemacht hat, nämlich der Versuch einer Traditionsbindung von Republik und Demokratie aus dem Geiste der Romantik. Der Faschismus hingegen habe ihn – so wird Thomas Mann später selbstironisch konstatieren – „zu einer Art Wanderredner der Demokratie“ (12) gemacht. All dies war Folge realer historischer, persönlicher und künstlerischer Erfahrungen und Einsichten. Eben sie haben Thomas Mann schon während, vor allem aber nach dem Ende der Weimarer Republik, also zunächst im Exil in der Schweiz und seit 1939 in Amerika, nicht nur in seiner eigenen Sicht zum Repräsentanten des „anderen“, des wahren Deutschland werden lassen; eines Deutschland, das sich einer liberalen und sozialen Moderne verpflichtet wusste und der „Verhunzung“ deutschen Geistes, deutscher Kultur und deutscher Geschichte durch den Nationalsozialismus offensiv entgegentrat.
Literatur
- Thomas Mann: „Betrachtungen eines Unpolitischen“, Herausgegeben von Hermann Kurzke. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd.13.1; Frankfurt/M.2. Aufl. 2013
- Thomas Mann: „Betrachtungen eines Unpolitischen“, Kommentar von Hermann Kurzke. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd.13.2; Frankfurt/M. 2. Auflage 2013.
- Rolf Zimmermann: „Mit Nietzsche in die Republik – Thomas Mann als Wortgeber und Kritiker der ‚konservativen Revolution‘“. In: Sebastian Kaufmann/Andreas Urs Sommer (Hgg.): „Nietzsche und die konservative Revolution“, Berlin / Boston 2018, S. 245–282.
- Rolf Zimmermann: „Ankommen in der Republik – Thomas Mann, Nietzsche und die Demokratie“, München 2017
- Hermann Kurzke: „Thomas Mann – Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie“, München 1999
Fußnoten
- Thomas Mann: „Betrachtungen eines Unpolitischen“, Hrsg.v. Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2009 (GKFA Bd. 13.1+13.2), Vorrede S. 35.
- Thomas Mann: „Essays Band II 1914–1926“. Hrsg. v. Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2002 (GKFA 15.1), S. 27.
- Thomas Mann: „Betrachtungen eines Unpolitischen“, Vorrede S.11.
- Thomas Mann: „Essays Band II 1914–1926“,S. 49: „Gute Feldpost“, erschienen im Oktober 1914
- Zur Bedeutung Nietzsches für die Wandlungen im politischen Denken Thomas Manns vgl. umfassend: Rolf Zimmermann: „Mit Nietzsche in die Republik – Thomas Mann als Wortgeber und Kritiker der ‚konservativen Revolution‘“. In: Sebastian Kaufmann / Andreas Urs Sommer (Hgg.): „Nietzsche und die Konservative Revolution“, Berlin / Boston 2018, S. 245–282.
- Thomas Mann: „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (Anm.1) S. 12f.
- Thomas Mann: Der Zivilisationsliteratur. In: „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (Anm.1), S. 54–75, hier S. 75.
- Nach Hermann Kurzke: „Thomas Mann – Das Leben als Kunstwerk“, München 1999, S. 354.
- Ebd. S. 355.
- Stefan Breuer: „Wie teuflisch ist die ‚Konservative Revolution’? Zur politischen Semantik Thomas Manns“. In: Werner Röcke (Hrsg.): „Thomas Mann – Doktor Faustus. 1947–1997“, Bern / Berlin u. a. 2001, S. 59–71, hier S. 66.
- Thomas Mann: „Die Wiedergeburt der Anständigkeit“. In: Ders.: „Politische Schriften und Reden“. Bd. 2, herausgegeben von Hans Bürgin, Frankfurt/M. 1968, S. 203–224, hier S. 210.
- Thomas Mann: „Der Künstler und die Gesellschaft“ (1952). In: Ders.: „Meine Zeit – Essays 1945–1955“, herausgegeben von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt/M. 1998, S. 222–235, hier S. 233.
Die Autorin:
Prof. Dr. Irmela von der Lühe ist emeritierte Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, Schriftstellerinnen der Moderne, deutsch-jüdische Literatur im 20. Jahrhundert, Exilliteratur sowie Holocaust und Literatur. Sie gilt als Spezialistin für Thomas Mann. Gemeinsam mit Uwe Naumann gibt sie die Werke Erika Manns heraus. Seit 2013 ist sie Senior Professorin am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg.
Veröffentlicht: 24. Mai 2019