Neopaganismus: die Rückbesinnung auf Naturreligion
Der Neopaganismus, oder Neuheidentum wird durch antiliberale Strömungen in vielerlei Hinsicht in Anspruch genommen. Die Protagonisten bedienen sich aus einem Traditionsbestand, der im Kern auf religiöse Vorstellungen des 19. Jahrhundert zurückgeht und im Nationalsozialismus als Katalysator für die Verklärung von Rasse, Nationalstolz und Menschenbild genutzt wurde.
Neopagane Tendenzen finden sich heute z.B. bei der vom Neonazi Jürgen Rieger seit Anfang der 1980er Jahre geprägten „Artgemeinschaft“ (Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V.), bei Alain de Benoist, dem „Thule Seminar“ und der „Germanischen Glaubensgemeinschaft“. Insbesondere bei der Konstruktion von Männlichkeit und Rollenbildern insgesamt werden neopagane Vorstellungen gern bemüht. Auch die Nutzung paganer Symboliken wie Runen oder Insignien nordischer Götter dienen in der Mode, als Aufdruck, Körperschmuck oder Tattoo als Identifikationsmarker für rechte Gesinnung.
Entstehung und Idee des Neuheidentums
Der Paganismus ist zunächst ein neuzeitlicher wissenschaftlicher Begriff, der die aktive Rekonstruktion und Belebung von religiösen Traditionen außerhalb der abrahamitischen Religionen beschreibt. Grundsätzlich sind die Selbstbeschreibung von Gruppen als pagan und die polemische Fremdzuschreibung zu unterscheiden.
Der Paganismus ist in der europäischen Religionsgeschichte beheimatet und seine Protagonisten stellen sich in der Mehrzahl zunächst in Abgrenzung gegen das etablierte Christentum dar. Der Paganismus greift lokale traditionelle Religionsbestände auf und überführt sie auf der Basis des erreichbaren Wissensstandes, oder den Intentionen der Initiatoren entsprechend, in eine Form erlebbarer Religiosität. Pagane Bewegungen zeichnen sich in der Regel durch Polytheismus und Naturreligiosität aus und sind im Rahmen folkloristischer Inhalte oft geographisch begrenzt. Die pagane Zuschreibung des Christentums als eine raumfremde, aufgezwungene Religion, die der Natur der jeweiligen Ethnie widerspreche, ist eine häufige Feststellung im europäischen Nativismus und der völkischen Religion.
Neopagane Bewegungen entstehen in Europa ab dem späten 19. Jahrhundert und profitieren von dem Bedeutungsverlust des Christentums durch Spätaufklärung und Säkularisierung. Ebenso befördern die naturmystischen Ansichten der Romantiker und die in Mode gekommene Sammlung von Folklore und lokaler Mythologie eine polytheistische Geisteslage. Früh verbinden sich diese Vorstellungen auch mit der Rassenlehre und der Klage über die zunehmende Entfremdung durch die aufkommende Industrialisierung und Verdichtung des Lebens in den Städten. Sie wandeln das ursprünglich negative Stereotyp des Heiden zu einer positiven Selbstbestimmung. Auch wenn sich heute aktive neopagane Gruppen vehement gegen eine Vereinnahmung ihrer Lehren durch neofaschistische Kreise wehren, zeigt ein Blick in die Ideengeschichte des Neopaganismus eine frühe Anziehungskraft für die entstehende völkische Bewegung und den deutschsprachigen Nationalsozialismus.
Vordenker des Neuheidentums
Diese ideengeschichtliche Anziehungskraft geht zu einem Gutteil auf Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) zurück. Sie gründete 1875 die „Theosophische Gesellschaft“ und unternahm in den Jahren davor riskante Reisen u.a. nach Tibet und Indien. Hier hatte sie nach eigener Angabe Zugang zu Geheimschriften, die ihr erlaubten, einen Gegenentwurf gegen die darwinsche Lehre von der Abstammung des Menschen zu entwickeln. In ihrer Lehre stammen die Menschengeschlechter von einer Rasse von am Nordpol auf die Erde herabgestiegenen riesenhaften „Schatten der Götter“ ab, deren Nachhall wir heute noch in den Erzählungen von Atlantis, der Edda, den Hyperboräern und der Nordischen Götterwelt hören. Die Steinfiguren der Osterinseln und Stonehenge gelten ihr als Überreste dieser Hochkultur, die in Naturkatastrophen untergegangen sei. In ihrem Hauptwerk: Die Geheimlehre (1888), beschreibt sie wie ein Teil dieser Rasse durch Völkerwanderung überlebte und die arische Rasse gründete. Blavatsky baute diese Vorstellungen zu einem System aus, das vielen der heutigen Ethnien auf der Erde verschiedenen Formen der Degeneration zuschrieb. Gilt Blavatsky als eine der schillerndsten Persönlichkeiten dieser Zeit, formierten sich in ihrem Umfeld eine Vielzahl von weiteren Gruppen, von denen hier nur einige genannt werden, die der Entstehung der nationalsozialistischen, völkischen Ideologie zugespielt haben.
Als zweiter Stichwortgeber für die Entwicklung neopaganer Vorstellungen ist Guido von List (1848–1919) zu nennen, der als Begründer der rassisch-okkulten Ariosophie gilt. List war Schriftsteller und erforscht zunächst germanische Spuren in Österreich. Er wanderte ausgedehnt und hoffte auf religiöse Erfahrung in der Natur. Er identifizierte die Germanen mit den Ariern, wie sie bei Blavatsky beschrieben werden. Auf List geht auch maßgeblich die Faszination der völkischen Bewegung für Runen zurück. Er selbst gab an, dass ihm im Zuge einer zeitweisen Erblindung das mystische Wissen über die Bedeutung der Runen und ihre Anwendung mitgeteilt wurde. Seine Arbeiten zum Thema sind wissenschaftlich nicht haltbar, hatten aber von Anfang an eine starke Strahlkraft. Seine Vorstellungen spitzen sich immer mehr zu einer völkischen Ideologie zu, die die Befreiung der germanischen Rasse von Fremdeinflüssen fordert.
Adolf Lanz (1874–1954) gehört auch in diese Reihe, auch wenn er dem Christentum zunächst näher Stand. Er gründete den Neutempler Orden (1900), der sich als Zusammenschluss rassebewusster Deutsch-Österreicher verstand und lancierte eine arisch-christliche Rassenkultreligion. Er trieb die Verortung der Arier im Germanentum weiter. Die „Dunklen Völker des Südens“ galten ihm als Abkömmlinge einer Fortpflanzung der Arier mit Tieren. Diese Lehren bündelte er in einer von ihm so benannten „Theozoologie“. Seine Überzeugungen teilte er über die Zeitschrift „Die Ostara“ mit, die er ab 1905 herausgab. Auch Hitler gehörte zu den Lesern. Als Novum tritt bei Lanz noch die obsessive Beschäftigung mit dem Mythos vom Heiligen Gral dazu.
Rudolf von Sebottendorf (1875–1945) ergänzte diese Gemengelage noch um den Mythos von Thule. Er tritt zunächst dem Germanenorden bei und gründete wenig später (1918) aus dessen Münchener Loge die Thule-Gesellschaft, die in Übereinstimmung mit den Vorstellungen von Lanz und List den Ursprungsort der „Herrenmenschen“ im hohen Norden lokalisiert. Demokratie und Sozialismus bescheinigten sie „zersetzenden Einfluss“, machten hierfür das Judentum verantwortlich und attackierten es entsprechend scharf. Als Antwort auf den Ausruf der Räterepublik (1918) unter Kurt Eisner (1867–1919) formte er den „Kampfbund Thule“, den Sebottendorf in den Straßenkampf schickte, um die Rätepublik zu stürzen. Auch Rudolf Hess (1894–1987) war Teil dieses Kampfbundes. Hitler gründete aus einem Seitenzweig der Thule-Gesellschaft später die NSDAP.
Friedrich Nietzsche (1844–1900) und Richard Wagner (1813–1883) sind weitere schillernde Persönlichkeiten, die die pagane Gemütslage der Zeit entscheidend mitgeprägt haben und viele der teils kruden Vorstellungen zwar nicht selbst entwickelt, aber in die bürgerliche Welt getragen haben. Auch die Arbeit von Rudolf Steiner (1861–1925) nimmt Anteil an neopaganen Vorstellungen im Rückgriff auf Helena Blavatsky. Er leitete von 1902 bis 1913 die „Deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft“ und nimmt in Publikationen Bezug auf Blavatskys Geheimlehre.
Im Nationalsozialismus
Den so in die Welt gesetzten hochsynkretistischen Mythos einer „Deutschen Glaubensbewegung“, einer zur Reinigung der Welt berufenen Herrenrasse überlegener Arier, deren Erben in den germanischen Völker lokalisiert werden, griff der Nationalsozialismus in ganzer Breite auf. Er verfolgte mit unbedingtem Willen das Ziel, die Potentiale der mystischen Geisteslage seiner Zeit für alle Lebensbereichen auszuschöpfen: in Religion, Politik, Architektur, Symbolik oder Wissenschaft. Als prominenteste Akteure, die in der Hochzeit des Nationalsozialismus an diesem Mythos weiterarbeiteten und ihn zu einem kriegstreibenden utilitaristischen Kern verengten, gehören Alfred Rosenberg (1893–1946) mit seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts“, Heinrich Himmlers (1900–1945) und Herman Wirths (1885–1981) „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe“, Karl Maria Willigut (1866–1946) als Leiter des „Rasse- und Siedlungshauptamts“ und Albert Speer (1905–1981) als Architekt des neuen germanischen Deutschlands. Das so zur politischen Ideologie umgebaute Neuheidentum des Nationalsozialismus hatte jedoch keinen Bedarf an den kleinen aktiven, religiösen Gruppen und grenzte diese auch zunehmend aus.
Auch die Neue Rechte schöpft aus dem neupaganen Fundus
Auch heute schöpfen antiliberale Denker und die Neue Rechte aus diesem neopaganen Fundus. Die Naturnähe und Kraft-Metaphorik, die um die neopaganen Mythen kreisen, spielt dem Menschenbild und der Vorstellung von Männlichkeit antiliberaler Kreise in ihrer Ablehnung einer postheroischen Grundhaltung zu. Auf der Suche nach reduktionistischen und die Komplexität weltpolitischer Mechanismen negierenden, einfachen nationalstaatlichen Lösungen greifen sie auf diese Figuren und Überzeugungen zurück, die der beschriebenen mythisch-religiösen Vorstellungswelt entstammen. Entsprechend schwer haben es naturmythisch veranlagte, neopagane Gruppen jüngerer Zeit, sich dem rechts-okkultistischen Einfluss zu entziehen.